Debatte Barrierefreiheit in der Musik: Eine optische Täuschung
Unter Hörenden dürfen nur Muttersprachler dolmetschen, doch Konzerte werden für Gehörlose von Hörenden übersetzt. Eine Zumutung.
U m Konzerte barrierefrei für taube Menschen zu organisieren werden auf der Bühne Gebärdensprachdolmetscher*innen eingesetzt – sogenannte Musikdolmetscher*innen. Diese stehen neben der Band auf der Bühne und verdolmetschen die Liedtexte; von Oper über HipHop zu Pop, ganz gleich. Manche Dolmetscher*innen bauen die Musik und den Rhythmus mit ein. Klingt nach einer großen Bereicherung und einem tollen Zugang für uns taube Menschen … Oder?
Ich, als tauber Mensch, habe solche Konzerte mit Musikdolmetscher*innen selbst besucht. Zunächst fand ich es schön zu sehen, wie die gebärdensprachliche Übersetzung der Musik auf mich wirkt. Wie die unterschiedlichen Rhythmen und Musikstile auf mich einrieseln. Auf den zweiten Blick jedoch musste ich mir eingestehen, dass große Teile der Übersetzung in Gebärdensprache für mich unverständlich waren. Mir wurde bewusst, dass die hörende Dolmetscher*in meine Muttersprache, die Deutsche Gebärdensprache, nicht auf einem Niveau beherrscht, das mir die Musik, die poetischen Texte zugänglich macht. Umso mehr fühlte ich mich abermals ausgeschlossen.
Ich fing an, mich zu fragen, warum die Musik eigentlich nicht von tauben Dolmetscher*innen präsentiert wird – denn die gibt es ja! Sie sind die Muttersprachler*innen in der Deutschen Gebärdensprache. Die wenigen Male, die ich poetische Übersetzungen von tauben Dolmetscher*innen erlebt habe, durfte ich feststellen, wie stark ich von ihrer Übersetzung mitgerissen wurde. Denn wir teilen nicht nur eine Sprache – wir teilen auch eine Kultur. Das führt dazu, dass ich bei Performances von tauben Dolmetscher*innen ganz anders abgeholt werde, mich wirklich auf die Musik einlassen kann. Ich fühle mich gleichwertig – und kann ganz anders mitfühlen, worum es bei der Musik geht.
Schaut man sich Dolmetscher*innen gesprochener Sprachen an, wie etwa zwischen Englisch und Deutsch, fallen andere professionelle Standards auf. So geben Dolmetscher*innen auf Konferenzen oder auf dem politischen Parkett nur ihre eigene Muttersprache wieder. Das ist in Fachkreisen Usus. Denn all die kleinen Nuancen können in einer Fremdsprache eher verstanden, aber selten in einer solchen Feinheit wiedergegeben werden.
Martin Vahemäe-Zierold war 2001 der erste gehörlose Politiker in einem deutschen Parlament (für die Grünen im Bezirk Berlin-Mitte). Er ist mit gehörlosen Eltern aufgewachsen und konnte kein Abitur machen, weil es damals keinen Unterricht in Gebärdensprache gab. Er arbeitet als Gebärdensprachdozent.
Keine Kontrollinstanz
Beim Übersetzungsvorgang sind die Dolmetscher*innen sowohl Sprachmittler*innen als auch Kulturmittler*innen. Übersetzungen etwa von spanischsprachigen Liedtexten ins Englische werden in der Regel von englischen Muttersprachler*innen erarbeitet. Warum kommen im Bereich des gebärdensprachlichen Musikdolmetschens trotzdem kaum taube Muttersprachler*innen zum Zuge? Die Auftraggeber*innen wissen es meist nicht besser. Wer es aber besser wissen könnte und sollte – das sind die hörenden Dolmetscher*innen.
Sie sind es, die mit ihrem Privileg, auf der Bühne zu stehen, verantwortungsvoll umgehen müssen. Denn eine höhere Kontrollinstanz, die die Arbeit von Dolmetscher*innen auf Qualität überprüft, wie zum Teil in Skandinavien der Fall, gibt es in Deutschland nicht. Wir tauben Menschen müssen allein auf die Eigenverantwortlichkeit der hörenden Dolmetscher*innen hoffen.
Die Problematik wird dadurch verschärft, dass die hörenden Dolmetscher*innen neben der Band auf der Bühne stehen und für alle im Publikum sehr sichtbar sind. Meine Sprache, eine immer noch unterdrückte, verpönte Sprache findet durch diese Hörenden Aufmerksamkeit. Sie ernten Ruhm, Anerkennung, können sich mit meiner Sprache schmücken – die gleiche Sprache, für die ich als tauber Mensch immer noch verspottet werde. Die gleiche Sprache, für die ich als tauber Mensch immer noch Abwertung erfahre, weil man mit ihr angeblich keine abstrakten Zusammenhänge verhandeln könne. Die gleiche Sprache, die bis heute in den meisten Gehörlosenschulen nicht verwendet wird, da die zumeist hörenden Lehrer*innen ihr die Komplexität absprechen, Bildungsinhalte vermitteln zu können – das Gegenteil ist längst bewiesen.
Das hörende Publikum aber ist fasziniert von der Schönheit meiner Sprache – die ich, so wie sie angewendet wird, noch nicht mal verstehe. Kulturelle Aneignung und Audismus, also die Unterdrückung tauber Menschen und ihrer Sprache, sind hier in vollem Gange.
Sprechen für eine Minderheit, der sie nicht angehören
Auch nach dem Konzert werden Musikdolmetscher*innen von Hörenden mit Fragen gelöchert und um Interviews gebeten. Dort berichten sie als Experten über Gebärdensprache und Taubenkultur. Sie beantworten alle möglichen Fragen rund um eine Minderheit, der sie selber nicht angehören. Wieder werden taube Menschen marginalisiert, ihre eigenen Stimmen werden nicht gehört.
Taube und hörende Gebärdensprachdolmetscher*innen sollten beim Musikdolmetschen unbedingt zusammenarbeiten. Liedtexte können sie sich im Vorfeld gemeinsam erschließen. So kann eine Übersetzung stattfinden, die von der tauben Dolmetscher*in auf der Bühne präsentiert wird: Musikdolmetschen auf Augenhöhe. Gleichzeitig werden Gebärdensprache und Gehörlosenkultur in einem öffentlichen Raum gefördert und bewahrt. Mit tauben Dolmetscher*innen würden vor und nach dem Konzert Menschen im Mittelpunkt stehen, mit denen ich Sprache und Kultur teile; es würden Menschen interviewt werden, die ihre eigene Gemeinschaft repräsentieren.
Musikdolmetschen durch hörende Dolmetscher*innen ist daher auch eine Täuschung der hörenden Auftraggeber*innen, die Inklusion und Barrierefreiheit schaffen wollen und dafür bezahlen. Vor allem aber eine Täuschung von uns tauben Menschen, denen Zugang vorgegaukelt, aber kulturelle Aneignung verkauft wird.
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