Schnelle Hilfe bei Schlaganfall: Herr Appelt kommt zurück
Norbert Appelt ist einer von 270.000 Deutschen, die pro Jahr einen Schlaganfall erleiden. Dank moderner Medizin überleben die meisten.
Den Vorschlag seiner Frau in die Notaufnahme zu fahren, lehnt er kopfschüttelnd ab. Etwas beunruhigt geht er ins Bett. Als seine Frau später an der Tür lauscht, hört sie rhythmisches Atmen. Beruhigt geht sie schlafen.
Montagmorgen, der Kaffee steht schon auf dem Tisch, als Appelt um Hilfe ruft. Hilflos liegt er im Bett. Der rechte Arm und das Bein sind taub, sein Gesicht ist verzehrt. Seine Frau reagiert schnell, wählt 112. Wenig später hält ein Rettungswagen vor dem Haus. „Wie heißen Sie? Welcher Tag ist heute?“, wollen die Sanitäter wissen.
Die Antworten kommen schleppend. Der Notarzt meldet den Verdacht auf Schlaganfall an die Asklepios Klinik Wandsbek in Hamburg.
270.000 Deutsche erleiden pro Jahr einen Schlaganfall. Die meisten sind über 70 Jahre alt. Die Risikofaktoren sind Alterserkrankungen wie Bluthochdruck, Herzrhythmus-Störungen oder Typ-2-Diabetes. Dazu kommen Bewegungsmangel oder Rauchen. Dank moderner Medizin überleben Zweidrittel der Patienten. Doch ihr Weg zurück ins Leben ist beschwerlich. Der Schlaganfall ist die häufigste Ursache für Behinderungen im Alter. In der Notaufnahme wird es hektisch, bei der Schlaganfall-Behandlung zählt jede Minute.
„Gleich weiter in die Bildgebung. Wir müssen die Ursache finden und mit der Therapie beginnen“, erklärt Lars Marquardt, Chefarzt der Neurologie. Mit jeder unbehandelten Minute gehen mehr Nervenzellen im Gehirn kaputt. Auslöser dafür ist eine Unterbrechung der Blutversorgung, die zu einem Zusammenbruch der Sauerstoff- und Nährstoffzufuhr im Hirn führt. Die Ursache ist in 80 Prozent aller Fälle die plötzlich auftretende Verstopfung einer Ader durch ein Blutgerinnsel.
Seltener ist ein Schlaganfall durch Hirnblutungen. Die Folgen sind Lähmungen, Gleichgewichtsstörungen und Sprachprobleme. Innerhalb der ersten Stunden nach Auftreten der Symptome sind die Ausfallerscheinungen am besten zu behandeln.
Bei der Lysetherapie wird den Patienten ein Medikament gespritzt, welches das Blut verdünnt und das Gerinnsel auflösen soll. Im Idealfall sind die Symptome bald verschwunden. Doch nur ein Drittel aller Patienten kommt in den ersten Stunden in die Klinik. Die Dramatik wird oft verkannt, der Hirnschlag verursacht keine Schmerzen.
Auch Appelt kam zu spät ins Krankenhaus, ein Teil seines Gehirns ist bereits abgestorben. Die Schichtaufnahme der Computertomographie zeigt einen dunkelgrauen Fleck links im Stammhirn – eine Durchblutungsstörung. „Das ist ein Schlaganfall. Jetzt müssen wir die Herkunft des Blutgerinnsels finden“, sagt Marquardt.
Im anschließenden Ultraschall sind Kalkablagerungen in der Hauptschlagader zu sehen. An diesen Hügeln blieben Blutplättchen hängen und verklumpten. Eins der Gerinnsel wurde bis ins Gehirn geschwemmt. Auf der Schlaganfall-Station, Stroke Unit genannt, beginnt die Akutbehandlung.
Der Schlaganfall hat zahlreiche Namen: Hirninfarkt, Stroke, Apoplex, Insult. Ursache ist zumeist (80 Prozent) eine plötzliche Durchblutungsstörung.
Rund 270.000 Menschen sind in Deutschland jährlich von einem Schlaganfall betroffen. Für etwa ein Drittel der Betroffenen ist der Schlaganfall tödlich. Weltweit sterben jährlich mehr als 6 Millionen Menschen an einem Schlaganfall.
In Deutschland ist der Schlaganfall die häufigste Ursache für bleibende Behinderungen und die dritthäufigste Todesursache.
Über 75-Jährige sind besonders häufig betroffen. Circa 50 Prozent aller Schlaganfälle treten in dieser Altersgruppe auch.
Auch jüngere Menschen können einen Schlaganfall erleiden. Geschätzt wird, dass 15 Prozent der Schlaganfall-Patienten unter 45 Jahre sind.
Selbst Kleinkinder können einen Schlaganfall bekommen. Nach Angaben der Stiftung Deutsche Schlaganfallhilfe erleiden jährlich etwa 300 Kinder und Jugendliche in Deutschland einen Schlaganfall – fast ein Drittel davon sind Neugeborene. Vermutet wird, dass die Dunkelziffer noch weit größer ist.
Wichtigster Risikofaktor ist Bluthochdruck. Auch Raucher haben ein größeres Risiko: Es ist bei ihnen um etwa das 2,5-Fache erhöht. (wlf)
Mit Medikamenten werden die Gefäßwände stabilisiert und die Ablagerungen geglättet. Um weitere Schlaganfälle zu verhindern, wird das Blut mit sogenannten Thrombozytenaggregationshemmern verdünnt. Auf dem Monitor neben dem Bett ziehen regelmäßige Herzlinien vorbei. Ein Schlauch in der Nase versorgt Appelt zusätzlich mit Sauerstoff. Er fühlt sich hilflos. Die Hälfte seines Körpers ist immer noch taub. Wegen Schluckproblemen darf er nur angedickten Saft trinken.
Zeit mit dem Schicksal zu hadern, bleibt ihm kaum. Schon zwei Stunden nach der Einlieferung kommt Physiotherapeutin Kerstin Fischer ins Zimmer. Um die Folgeschäden gering zu halten, beginnt bereits auf der Stroke Unit die Rehabilitation. Mit Hilfe der Krankengymnastin kann sich Appelt an die Bettkante setzen. „Das ist gut für den Kreislauf und hilft die Kontrolle über Ihren Körper wiederzuerlangen“, sagt sie.
In andere Hirnregionen verlagert
Hintergrund ist eine faszinierende Fähigkeit unseres Gehirns. Die Aufgaben der abgestorbenen Areale übernehmen benachbarte Hirnregionen. Dank dieser Plastizität gehen einige der Ausfallerscheinungen zurück. Voraussetzung dafür ist ein intensives Training der vormals alltäglichen Bewegungsabläufe. Die Therapeuten arbeiten vor allem mit der gelähmten Körperseite.
„Schont man die betroffenen Körperteile und nutzt nur die gesunden, führt das zu einer Verfestigung der Ausfälle“, erklärt Fischer. Gerade am Anfang ist das anstrengend. Nur mit Mühe kann Appelt eine Faust ballen, an Aufstehen ist nicht zu denken. Beim Sitzen an der Bettkante stützt ihn der Arm der Therapeutin.
Doch er hat Glück, sein Gehirn erholt sich stetig. Nach zwei Tagen kann er die Stroke Unit verlassen. Mit etwas mehr Gefühl in den Armen und Beinen startet ein Stockwerk tiefer die neurologische Rehabilitation. Gangtraining mit der Physiotherapeutin, Feinmotorik mit dem Ergotherapeuten, Aussprache mit der Logopädin. Vier Stunden täglich.
Der nahtlose Übergang zwischen Stroke Unit und Rehabilitation innerhalb einer Klinik ist in Deutschland ein noch junger Ansatz, kaum eine Handvoll Krankenhäuser setzen ihn um. Die Idee: Es gibt keine Unterbrechungen in der Behandlung und die Patienten erholen sich schneller. Therapeuten und Ärzte begleiten sie von der Stroke Unit über die Rehabilitation bis zur Entlassung. Schon umgesetzt wird dieses Konzept vor allem in den skandinavischen Ländern.
Therapieunterbrechung vermeiden
Hierzulande werden die Patienten dagegen im Krankenhaus zwar akut behandelt. Die Rehabilitation findet meist in einer Einrichtung außerhalb statt. In Zeiten von knappen Kassen im Gesundheitssystem sind Reha-Plätze rar. „Häufig kommt es zu tagelangen Therapieunterbrechungen und damit verbunden zur Verschlechterung des Zustandes“, erklärt Marquardt.
Doch das Interesse an dem Modell wachst. Politik und Krankenkassen haben erkannt, dass effektive Therapie die Folgekosten für Pflege oder Hilfsmittel senkt. Durch bessere Rehabilitation werden die Patienten selbständiger entlassen.
Bei Appelt greift das Modell. Zehn Tage nach seinem Schlaganfall ist er auf dem Weg der Besserung. Mit kleinen Schritten schiebt er seinen Rollator über den Flur, die Physiotherapeutin im Schlepptau. Freundlich grüßt er eine vorbeieilende Schwester.
„Ich kann mein Brot schneiden, mich rasieren und muss mein Geschäft nicht mehr auf der Blumenvase verrichten“, verkündet er lachend. Auch das Gangtraining klappt immer besser, nur das Treppensteigen muss er noch üben. Sein Haus hat immerhin 14 Stufen.
In der wöchentlichen Patientenbesprechung ist sein Fall schnell besprochen. Transfer aus Bett und Körperpflege selbstständig, nächstes Therapieziel Treppensteigen, dazu Ergotherapie für die Feinmotorik. Logopädie für deutliche Aussprache.
Zurück nach Hause
„Entlassungsziel sind die nächsten zwei Wochen“, sagt Marquardt. Zustimmendes Nicken, weiter zum nächsten Fall. Eine Frau ist zwei Wochen nach dem Hirnschlag noch bettlägerig, dazu eine leichte Demenz, alleinstehend. Die Gesichter werden ernster. Die 81-Jährige muss ihre Wohnung aufgeben und in ein Pflegeheim ziehen.
Appelt kann dagegen in seine gewohnte Umgebung zurückkehren. Auf Rollator und Gehstock wird er angewiesen bleiben, genau wie auf Blutverdünner. Das Rauchen muss der 72-Jährige aufgeben. Einige Monate bekommt er noch ambulante Therapie. Die Versorgungsanträge für den Behindertenausweis und die Hilfsmittel sowie die Überweisungen werden noch in der Klinik geschrieben. Dazu gibt es Nachsorgegespräche mit den Angehörigen und dem Hausarzt.
„Wir überlassen die Patienten nicht ihrem Schicksal, sondern unterstützen den Weg zurück ins Lebens mit allen Mitteln“, erklärt Marquardt.
Für seine Rückkehr hat Appelt schon große Pläne: „Im August möchte ich mit meiner Frau nach Südtirol reisen. Ist das möglich, Herr Doktor?“
Marquardt nickt. „Wenn Sie auf sich aufpassen, spricht nichts dagegen.“
Appelt stützt sich auf seinen Rollator. „Dann klettere ich wohl keine Steilwände hoch.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Reaktionen auf Anschlag von Magdeburg
Rufe nach Besonnenheit
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Bundesopferbeauftragter über Magdeburg
„Die Sensibilität für die Belange der Opfer ist gestiegen“