Demografie als Angstmacher: Gefährliche Zauberformel
Jenseits der Panikmache: Statistikprofessor Gerd Bosbach hinterfragt seit langem Hintergrunddaten zum demografischen Wandel.
Statistik, als eine der Staatswissenschaften, ist mit Zahlen, Säulen, Tannenbaum- und Pyramidenformen permanent präsent und erhebt Anspruch auf Präzision und Glaubwürdigkeit. Insbesondere der demografische Wandel als bedrohliche Voraussage unserer Zukunft hat inzwischen das Image einer unumstößlichen Tatsache. Politiker, Medien, Bürger, selbst unsere Intellektuellen glauben daran. Alle sind sich einig darüber, dass gravierende Einschnitte ins Sozialsystem unvermeidlich und ein Akt weiser Voraussicht sind. Der Experte Herr Bosbach jedoch kam nach gründlicher Analyse zu einem anderen Ergebnis.
Herr Bosbach nimmt es genau. Er hat kein Auto, geht viel zu Fuß, nimmt die öffentlichen Verkehrsmittel, er ist ein ausdauernder Läufer und gibt seine sämtlichen Nebeneinnahmen als Spende weiter. Wir treffen uns im Kölner Hauptbahnhof, Erkennungszeichen: eine taz. Er hatte vorgeschlagen, einen Rundgang zu machen, spricht über das rigide Vorgehen gegen Personen ohne Geld, Reise- oder Konsumziel am Bahnhof und lädt mich zur Demonstration des Kontrasts in die DB-Lounge ein. Zutritt ist, vorbei an kontrollierendem Personal, nur für Kunden der 1. Klasse gestattet und für solche, die jährlich 2.000 Euro bei der Deutschen Bahn umsetzen.
Letzteres trifft auf Herrn Bosbach zu. Ich hingegen, mit normalem Ticket, bin als DB-Kunde plötzlich einsortiert in die 3. Klasse und darf nur als Gast hinein, um in den roten Kunstledersesseln der 2. Klasse kostenlos einen Automatenkaffee zu trinken, während es nebenan in der 1. Klasse Bedienung und Snacks gibt. Grotesk ist, wie hier bühnenmäßig mit uniformiertem Personal, Ambiente und Miniservice die Klassenschranken zur Darstellung gebracht werden. Wohl dem, der unten im Bahnhofslokal „Schweinske“ dem normalen Kommen und Gehen zuschauen darf. Einen öffentlichen Warteraum übrigens sucht man heutzutage auf unseren Bahnhöfen meist vergeblich. „Zum Glück,“ sagt Herr Bosbach lächelnd, „ bin ich in Köln-Ehrenfeld, einem Industrie- und Arbeiterviertel groß geworden und hebe deshalb nicht ab.“
Nach einer Fahrt mit der Stadtbahn ins rechtsrheinische Köln-Höhenhaus sitzen wir im Wohnzimmer seines kleinen weißen Bungalows mit Atriumgarten. Es dämmert bereits und Herr Bosbach erzählt, wie er den nackten Zahlen auf den Leib rückte und zum Kritiker der demografischen Demagogie wurde.
„Das Thema Demografie war ja früher, bis etwa 2000, ein absolutes No-go-Thema. Es hat keinen interessiert, es war staubtrockene amtliche Statistik und sogar noch etwas anrüchig durch die Nazizeit, wo aus bevölkerungspolitischen Gründen kinderreichen Frauen ein Mutterkreuz verliehen wurde. Während meiner Zeit beim Statistischen Bundesamt in Bonn habe ich auch Schulungen in Statistik gemacht für alle Ministerien und musste selber mal wieder reinschauen in die Materie. Bei dieser Gelegenheit habe ich bemerkt, dass es Mitte der 80er Jahre geburtenstarke Jahrgänge gab, dass aber gleichzeitig – und das wusste ich von meiner Gewerkschaft – die Lehrer nun langsam in Pension gehen. Ich habe mir die Zahlen besorgt und gesehen, dass in fünf bis sechs Jahren die Kinder eingeschult werden, während die Lehrer gerade die Schulen verlassen. Bin dann durch die zuständigen Ministerien in Bonn gezogen, habe das vorgelegt und gesagt, es müssen jetzt Lehrer ausgebildet, pädagogische Hochschulen ausgebaut werden. Keinerlei Reaktion!
ist Professor für Statistik, Mathematik und empirische Wirtschafts- und Sozialforschung an der Fachhochschule Koblenz (Standort Remagen), Forschungsschwerpunkt: Statistikmissbrauch, Arbeitsmarkt- u. Bevölkerungsstatistik (Demografie), Armut (im Alter), volkswirtschaftliche Aspekte der Gesundheitsfinanzierung. Er studierte in Köln Mathematik und promovierte nach dem Diplom im Bereich Statistik an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. 1988–1991 beratende Tätigkeit im Statistischen Bundesamt (für Wirtschafts- und Finanzministerium und wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages), im Anschluss als Statistiker bei der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung.
Er erhielt tiefe Einblicke in den Umgang mit Zahlen sowie deren interessengeleiteter Interpretation und Manipulation im Politik- und Gesundheitsbereich. Seit 1999 lehrt er als Professor, seit 2002 in Remagen. 2004 ging er als Kritiker des Missbrauchs der Demografie in die Öffentlichkeit. Seither zahlreiche Veröffentlichungen, Vorträge und Interviews zum Thema. Buchveröffentlichungen u. a.: „Lügen mit Zahlen. Wie wir mit Statistiken manipuliert werden“(mit J. J. Korff), Heyne, München 2011; „Armut im Alter“ (mit Ch. Butterwegge, M. W. Birkwald, Hrsg.), Campus, Frankfurt/Main 2012. Herr Bosbach wurde 1953 in Euskirchen im Rheinland geboren, sein Vater war kaufmännischer Angestellter, die Mutter Hausfrau, er ist verheiratet und kinderlos.
Überraschender Lehrermangel
Mitte der 90er Jahre gerieten wir dann in die Situation eines ’vollkommen überraschenden Lehrermangels‘. Zugleich will ich damit sagen, dass verantwortlicher Umgang mit Statistik richtig und wichtig ist, denn wir brauchen kurzfristige und flexible Prognosen, um planen zu können.
Eine Zwischenbemerkung noch, eine kleine Geschichte: Mit Schuld daran, dass ich mich mit dem Thema Demografie beschäftigt habe, hatte der Altbundeskanzler Helmut Schmidt. 1990 hat er sich ans Statistische Bundesamt gewandt, er wollte sich von mir Daten geben lassen, die ich ihm aber nicht geben konnte. Das war ein Riesenzinnober, anfangs wussten wir nicht, dass der Anfragende Helmut Schmidt ist, die Anfragen waren anonymisiert. Dann erfuhr ich es aber doch. Er hat richtig Druck gemacht und ich habe ihm dann Daten gegeben – über die Bevölkerungsentwicklung, eine Prognose der UNO von 1988, basierend auf Daten von 1985 – mit dem ausdrücklichen brieflichen Hinweis, dass diese Daten für 1990 nicht mehr tauglich sind, denn inzwischen hatte sich ja der Ostblock aufgelöst mit Einwanderungsbewegungen usw.
Und was habe ich dann sehen müssen? Helmut Schmidt hat genau aus diesen Daten einen einseitigen Artikel – in jeder Beziehung einseitig – für die Zeit geschrieben, ohne jeden Hinweis auf die Hinfälligkeit der Daten. Das hat mir gezeigt, wie leichtfertig allgemein der Umgang ist mit solchem Material. Auf Grund dessen habe ich mich seit 1990 intensiver mit der Materie Bevölkerungsprognosen beschäftigt.
Dann, mit der Jahrtausendwende, spätestens 2002, und vor allem im Zusammenhang mit der Agenda 2010 im Jahr 2003, tauchten tagtäglich in den Politikerreden und Medien Demografiemeldungen auf. Franz Müntefering (SPD) sagte im Sommer 2003: ’Wir Sozialdemokraten haben in der Vergangenheit die drohende Überalterung unserer Gesellschaft verschlafen. Jetzt sind wir aufgewacht. Unsere Antwort heißt: Agenda 2010! Die Demografie macht den Umbau unserer Sozialsysteme zwingend notwendig!‘ Das, worauf man sich allerorten bezog, war die ’10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung‘ für die Jahre bis 2050, die der Leiter des Statistischen Bundesamtes im Juni 2003 der Öffentlichkeit präsentiert hat.
Modelle für Panikmacher
Alle Nachrichtensender und Zeitungen stürzten sich auf die angeblich apokalyptische demografische Entwicklung. Die Welt titelte etwas mit ’Zeitbombe Demografie‘, die FAZ prophezeite in ihrem Aufmacher ’Dramatische Alterung‘ – einer ihrer Herausgeber, Frank Schirrmacher, schrieb sogar gleich einen Bestseller, ’Das Methusalem-Komplott‘, und machte Alarm mit Scharen von 110-jährigen Frauen.
Müntefering behauptete, dass von den heute geborenen Mädchen jedes zweite 100 Jahre alt wird usw. Auf diese Modellrechnung beziehen sich bis heute die Panikmacher – beim Zweiten Demografiegipfel 2013 zum Beispiel war die Überalterung ein Schwerpunktthema. Jedenfalls wurde ich damals hellhörig, dachte, man hat sich für die nächsten fünf bis sechs Jahre für reale Zahlen und naheliegende Probleme nicht interessiert, obwohl sie Auswirkungen hatten. Weshalb nun plötzlich dieses Interesse daran, was in 50 Jahren angeblich sein wird?
Gut. Dann habe ich mir das alles genau angeschaut und bin auf tausend und einen Widerspruch gestoßen. Bei jeder Prüfung habe ich mindestens in sechs Richtungen geguckt und habe festgestellt, ich komme immer zum gleichen Ergebnis. Trotzdem war ich erst mal ziemlich verunsichert, dachte, alle anderen Experten sind anderer Meinung. Ich habe es dann Freunden gezeigt, die ein bisschen damit umgehen können, geduldig genug sind. Und die haben mich bestärkt, dass ich das ausarbeiten soll. Ich habe mich aber immer noch nicht getraut, habe dann noch einen etwas größeren Kreis gefragt, vorwiegend neugierige Intellektuelle, ob ich das mal vortragen darf. Und die haben gesagt, ja, das ist neu, das ist ja fantastisch, das muss bekannt gemacht werden.
Einsamer Feldzug
Trotzdem habe ich aber immer noch gezögert, habe mich gefragt, was willst du eigentlich als kleiner Professor der Fachhochschule in Remagen, gegen alle anderen ins Feld ziehen? Meine Frau hat mich dann endlich dazu gebracht. Als ich wieder einmal geflucht habe über eine völlig unlogische Meldung, da sagte sie: Hör auf zu fluchen, tu was!
Zu meiner großen Überraschung wurde es veröffentlicht. Das hat zwar ein viertel Jahr gedauert, aber es erschien dann, zuerst in der Frankfurter Rundschau, dann in den Gewerkschaftlichen Monatsheften. Einige andere waren zwar interessiert, von der „Tagesschau“, vom SWR jemand, aber sie hatten Angst, dass Fehler drin sind und sie dann Druck bekommen. Selbst Albrecht Müller von der kritischen Website Nachdenkseiten. Ja, auch er hatte zuerst ’Muffe‘, und hat es weitergereicht an andere Leute mit der Bitte um Prüfung.
Es ging durch viele Hände und es wurde dann ganz allmählich öffentlich wahrgenommen, dass vieles dramatisiert war, übertrieben und überzogen dargestellt. Der Präsident des Statistischen Bundesamtes hat die FR gebeten, eine Gegendarstellung zu bringen, da waren 7 Punkte angeführt. Als ich die angeschaut hatte – es waren Bagatellen –, da war ich sehr erleichtert und dachte: Wenn das die einzigen Fehler sind, dann habe ich im Kern recht und habe ins Schwarze getroffen! Das hat mir Flügel verliehen. Und es ist heute so, dass meine Sachen derart gründlich überprüft sind, dass Sie in der Welt, der Süddeutschen, der „Tagesschau“ usw. gebracht werden. Aber das ändert leider nichts an der Weiterverbreitung der Fehler und Lügen mit Zahlen.
Überzogen ist beispielsweise … nee, fangen wir erst mal so an: Demografische Entwicklung stellt ja die Zukunft dramatisch dar, weil wir zu wenig Kinder bekommen, weil wir immer älter werden und weil wir demzufolge immer mehr Rentner haben werden. Diese drei Faktoren zusammen gab es aber schon seit 1870. Ich habe mir die Daten dann mal zusammengestellt von 1900 bis 2000. Folgendes kam dabei heraus: Die Lebenserwartung stieg um etwas mehr als 30 Jahre, der Anteil der Jugendlichen hat sich etwas mehr als halbiert, sank von 44 Prozent auf 21 Prozent, der Anteil der über 65-Jährigen hat sich mehr als verdreifacht, stieg von 4,9 Prozent auf 16,7 Prozent. Da kann man aus der heutigen Sicht der Demografie ja eigentlich nur sagen: Katastrophe! Das zieht zwangsläufig einen wirtschaftlichen und sozialen Kollaps nach sich.
Wenn wir nun aber mal schauen, was in dieser Hinsicht tatsächlich passiert ist im vorigen Jahrhundert, dann wird deutlich: Der Sozialstaat wurde umfangreich auf- und ausgebaut, der Wohlstand hat massiv zugenommen – unbeschreiblich! Statt dass uns die Arbeitskräfte ausgegangen sind – wie es heute immer behauptet wird – wurde die Arbeitszeit massiv verkürzt: Lebensarbeitszeit, Wochenarbeitszeit, Jahresarbeitszeit. 1900 wurden noch 60 Wochenstunden gearbeitet, Rente gab es ab 70. Übrigens auch damals gab es schon die Demografieängste: In der Weimarer Republik sprach man von ’Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers‘, 1953 befürchtete Konrad Adenauer sogar unser ’Aussterben‘. Ebenso war schon in den 1950er Jahren die Annahme weit verbreitet, dass niemand mehr die Renten von heute würde bezahlen können. Wir sind aber nicht ausgestorben, der Sozialstaat wurde auf- und nicht abgebaut.
Treibende Kräfte
Heute ist auffällig, wie sehr das Schüren der Ängste massiv interessegeleitet ist. Bereits Ende der 1990er Jahre gehörte die arbeitgebernahe ’Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft‘ zu den ersten treibenden Kräften, die die Demografie hof- und panikfähig gemacht haben. Auf die Interessenten und Interessen komme ich später noch.
Zuerst möchte ich von einer weiteren Unstimmigkeit sprechen: Was bei der Diskussion um die Demografie völlig fehlte – bis heute noch fehlt –, ist die Berücksichtigung der Produktivitätsentwicklung. Also habe ich die mal mit einberechnet, habe 2004 eine Zahl genommen mit 1,25 Prozent Steigerung der Produktivität per Arbeitsstunde – nicht der Wirtschaft, sondern des Arbeitnehmers, der noch übrig bleibt. Und das Ergebnis war, dass man spielend einen wesentlich höheren Rentenbeitrag bezahlen könnte und trotzdem selber noch mehr Geld im Portemonnaie hat.
Von ’unbezahlbar‘ kann also gar keine Rede sein. Vorausgesetzt ist allerdings, dass der Kuchen verteilt wird, dass die erhöhte Produktivität auch anteilig ausgezahlt wird an die Arbeitnehmer. Auch bei der Finanzierung der Rente ist das Hauptproblem also nicht die demografische Entwicklung, sondern die Umverteilung zulasten der Arbeitnehmer.
Dieselbe Rechnung habe ich jetzt übrigens noch mal neu gemacht für einen Beitrag im Buch ’Armut im Alter‘, bin sogar auf 1 Prozent Produktivitätszuwachs runtergegangen und habe gezeigt, dass selbst dann noch die Produktivität stärker wächst als die Alterung. Jede kleine Veränderung, über 50 Jahre gerechnet, ist eine große. 1 Prozent Wachstum jährlich – es klingt wenig – das macht in 50 Jahren gut 64 Prozent durch den Zinseszins.
Oder die Arbeitslosigkeit. Die vermeintliche Demografiedramatik besteht darin, dass sich das Verhältnis zwischen Erwerbsfähigen und Älteren in Zukunft zuungunsten der Erwerbsfähigen verschiebt. Aber das passiert schon heute; der Auslöser ist allerdings die Arbeitslosigkeit, und die wird kleingerechnet. Wir haben 5 Millionen Arbeitsuchende, aber offiziell nur 2,8 Millionen Arbeitslose, der Rest wird wegdefiniert, als gäbe es ihn gar nicht! Die Wirkung der Arbeitslosigkeit ist wesentlich stärker als die der demografischen Entwicklung. Nicht die Demografie ist schuld, schuld sind die Politiker, die nicht gehandelt haben. Ein Abbau der Arbeitslosigkeit heute würde die produzierte Güter- und Dienstleistungsmenge erhöhen, also zum Wohlstand beitragen. Ein Zusatzeffekt wäre, neben der Senkung der Beiträge für die Arbeitslosenversicherung, ein Absinken des Rentenversicherungsbeitrags, da es mehr Einzahler gäbe.
Eine weitere Unstimmigkeit bei den Dramatisierern: Nicht nur die Versorgung der Älteren durch die Erwerbsfähigen ist zu berücksichtigen. Auch Kinder und Jugendliche müssen ernährt werden, brauchen Kindergärten, Schulen, Universitäten mit entsprechendem Personal und vieles mehr. Deshalb widerspiegelt erst der Gesamtquotient, sprich: das Verhältnis der Jungen und Alten zu den Erwerbsfähigen, die finanzielle Belastung richtig. Während nach einer Prognose der Quotient Ältere zu Erwerbsfähigen bis 2050 um dramatisch wirkende 77 Prozent steigen soll, klettert nach der gleichen Prognose der realistischere Gesamtquotient nur um 37 Prozent. Allein die Einbeziehung dieser simplen statistischen Weisheit halbiert schon das angeblich so dramatische Zahlenverhältnis.
Fehlende Bildung
Nicht vergessen dürfen wir die ganz reale Tatsache, dass die Generation, die 2050 die ’vielen Alten‘ zu ernähren hat, sich heute, aufgrund politischer Versäumnisse, in einer schwierigen Lage befindet. Ausfallende Schulstunden, fehlende Lehrer, marode Schulgebäude, Mangel an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, dramatisch überfüllte Hochschulen, Zugangsbeschränkungen usf. Eine gute Bildung für Kinder und Jugendliche sind aber elementare Voraussetzungen zur Meisterung der Zukunft. Stattdessen verweisen Wirtschaft und Politik ständig auf die Demografie. Und sie bemerken gar nicht, wie grotesk angesichts dessen die Klage über zu wenig Kinder ist. Nein! Politiker und Unternehmer, die wirklich Angst vor der demografischen Entwicklung haben, müssten sich auch massiv im Bildungsbereich und Ausbildungsbereich engagieren. Und das jetzt, sofort!
Das waren nur so ein paar der wichtigsten Punkte. Und was die angebliche Fähigkeit betrifft, 50 Jahre voraus in die Zukunft zu gucken, so ist das reine Kaffeesatzleserei. Die Prognosen der Wirtschaft halten in der Regel nicht mal ein halbes Jahr der Realität stand. Kein großer Aufschwung, keine Krise, ist jemals richtig vorhergesagt worden. Ein Blick in die Vergangenheit macht das Problem sehr anschaulich. Denn bedenken Sie, eine Vorausberechnung von 1900 für das Jahr 1950 hätte sogar zwei Weltkriege übersehen müssen!
Aber gucken wir mal auf die Zeitspanne von 1960 bis 2010. Niemand wäre darauf gekommen, was alles kam: Bau der Mauer, Antibabypille, die Gastarbeiter, der Trend zur Kleinfamilie, der erste PC und die Entwicklung von Internet und Mobiltelefon, dazwischen dann – auch undenkbar – die Auflösung des Ostblocks, das Ende der DDR, der Zerfall der Sowjetunion, drei Millionen Aussiedler, der Jugoslawienkrieg … um einige der wichtigen Ereignisse zu nennen, die man allesamt vollkommen übersehen hätte bei einer Vorausberechnung. Hier lässt sich deutlich erkennen, was 50 Jahre für Quantensprünge in der Entwicklung sind und was das für die Veränderung der Parameter bedeutet. Die zukünftige Entwicklung ist also nicht strikt determiniert, wie uns die Auguren der Bevölkerungskatastrophe ständig einreden wollen.
Ein Beispiel: Das Berlin-Institut, ein privates Meinungsbildungsinstitut hinter dem unter anderem Versicherungskonzerne stehen, hat 2006 eine sogenannte Studie vorgestellt. Die Horrormeldung im O-Ton: ’Deutschland auf Schrumpfkurs‘ und ’Nach dem Mensch kommt der Wolf‘. Behauptet wurde, dass wir Deutschen weltweit die geringste Geburtenrate haben. Das war die Meldung Nummer eins in allen Medien. Ich habe am nächsten Tag nachgeguckt und fand eine EU-Statistik, wonach Deutschland unter den 25 EU-Staaten Platz 15 einnahm. Ich bin damit an 50 bis 60 Journalisten herangetreten. Kein Wort. Nichts! Das hat mich empört, dass alle solche Fälschungen durchgehen lassen. Ich habe das Statistische Bundesamt kontaktiert. Nichts!
Falschen Daten
Ich habe die dpa kontaktiert, die diese Nachricht verbreitet hatte, und da sagte man mir, eine junge und unerfahrene Redakteurin hätte das auf der Pressekonferenz des Instituts gehört und es passte eben in die ’Denkwelt‘. Wenn sie eine Stunde prüfen würden, verkauft eine andere Presseagentur derweil die Meldung. Sie haben danach zwar die richtigen Daten veröffentlicht, aber ohne die falschen zu dementieren. Der Fernsehsender NDR-Kultur hat dann einen Beitrag gemacht, ich erzählte von meinen Aufklärungsversuchen, der Mann von der dpa hat sich entschuldigt und jemand vom Statistischen Bundesamt hat die Richtigstellung gebracht. Aber ich finde heute noch Meldungen, die sich auf die alte Falschmeldung beziehen.
Oder das Beispiel vom Spinat. 1890 vertut sich ein Experte bei der Berechnung des Eisengehalts in der Kommastelle. 35 mg pro 100 g, statt 3,5 mg. Alle anderen Gemüse haben 2 bis 6 mg. Es hat 40 Jahre lange bei keinem geklingelt, dann wurde nachgemessen und korrigiert. Aber weiterhin wurden die kleinen Kinder jahrzehntelang erbarmungslos mit Spinat traktiert, weil er ’so viel Eisen‘ enthält!
Beim Spinat ist es nur der Kommafehler, bei der Demografie aber – und nun komme ich zum eigentlichen Punkt – stecken massive Interessen dahinter. Mehr Interessen und Interessenten, als die meisten ahnen. Die ersten Interessenten, sie werden oft übersehen, sind die Arbeitgeber. Die wollen die Lohnnebenkosten senken und der größte Teil davon geht in die Renten. Ohne die Angst vor dem demografischen Wandel wären die Arbeitgeber nie aus der paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung rausgekommen.
Die ’private Vorsorge‘ ist für die Gold wert. Jedes Prozent, das weniger in die gesetzliche Rentenkasse eingezahlt wird, sind für die Arbeitgeber 5 Milliarden Euro weniger Lohnnebenkosten! Da lohnen sich natürlich die Investitionen in große Kampagnen und Forschungseinrichtungen, die öffentlichkeitswirksame Studien veröffentlichen. Und in interessengesteuerte Wissenschaftler, wie Raffelhüschen, die mit pseudowissenschaftlichen Studien den ’Renten-GAU‘ prophezeit und die sozialen Sicherungssysteme sturmreif geschossen haben.
Das waren ja die Figuren, die zuerst mal die wichtigen einflussreichen Leute bearbeitet haben, also Politiker, in der FAZ, im Managermagazin usw. Von dort aus wurde die Hiobsbotschaft dann in die Öffentlichkeit geschwemmt: Die ganze Gesellschaft ist bedroht, wir werden immer älter, immer teurer, die Gesundheits- und Rentenkosten sind nicht mehr bezahlbar! Wer nicht im Elend landen will, muss privat vorsorgen.
Profit der Versicherer
Damit ist schon die zweite Gruppe gefunden: die Versicherer. Alle Privatversicherer schwelgen in diesem Szenario. Die gesetzliche Rentenversicherung macht einen Umsatz von über 250 Milliarden Euro, der lange am privaten Versicherungsmarkt vorbeilief. Seit 1999 wurde also massiv Einfluss genommen: auf den Finanzminister, den Wirtschaftsminister und die Bundestagsausschüsse. Mit Erfolg. Obwohl es ja nicht die Aufgabe der Politiker ist, der Versicherungswirtschaft neue Profitquellen zu erschließen. Die Parteispenden der Versicherungen gingen übrigens wieder zurück, als die Riester-Rente beschlossene Sache war. Seitdem bekommen sie ihr Geschäft auch noch staatlich beworben, staatlich bezuschusst!
Ich bin froh, dass ich ein humorvoller Mensch bin, sonst würde ich verrückt: Die gesetzliche Rentenversicherung wird verpflichtet, Werbeveranstaltungen für die private Rente zu machen!!! Aber nicht nur die Versicherer profitieren, sondern der gesamte Finanzmarkt. Finanzspekulation ist ja ein Nullsummenspiel. Was der eine gewinnt, verliert der andere. Mit einer Ausnahme: Es kommt frisches Geld von außen. Und das ist über Riester und Rürup massiv da reingeflossen. Man ist im Moment fast noch komplett in der Einzahlungsphase. Sobald sie in die Auszahlungsphase kommen und ihr ’Tafelsilber‘, das sie gekauft haben, wieder verkaufen müssen, wobei unklar ist, an wen und zu welchem Preis, dann kollabieren sie, dann knallt es.
Eine weitere eifrige Gruppe, die ein Interesse daran hat, den Teufel an die Wand zu malen, das sind die Politiker und Politikerinnen, wie Ulla Schmidt zum Beispiel: Die Einführung der Praxisgebühr hat sie begründet mit der demografischen Entwicklung des 21. Jahrhunderts. Was war aber wirklich? 5 Millionen Arbeitslose offiziell, kaum Lohnerhöhungen, leere Sozialkassen. Ebenso wird gelogen, wenn es um den aberwitzigen Facharbeitermangel geht. Da könnte ich unter die Decke gehen! Wenn wir den haben, dann ja deshalb, weil zwischen 1990 und 2005 von den geburtenstarken Jahrgängen mehrere 100.000 Jugendliche nicht ausgebildet wurden. Damals hieß es, es sind zu viele. Heute wird gesagt, sie seien zu dumm. Die Regierung und die Arbeitgeber haben versagt, haben an Ausbildung gespart und schieben es auf die Demografie – und auf die Betroffenen! Die Demografie ist eine Zauberformel zur Durchsetzung von rücksichtslosen Einschnitten ins Sozialsystem, ein Deckmantel für die Politik.
Meine Hoffnung? Ich hoffe, dass sich Widerstand regt, es gibt genug denkende Leute. Bei den Jungen ist das Problem, dass sie es nicht leicht haben und sich von den ganzen Negativszenarien lieber erst mal abwenden und nicht sehen wollen, dass sie wie das Schlachtvieh zur Schlachtbank geführt werden. Vielleicht können ja die Alten eine kritische Masse bilden? Das Potenzial ist eigentlich vorhanden, da die Generation der 68er Bewegung gerade ins Rentenalter kommt. Auch Leute, wie ich, die sich haben politisieren lassen, gibt es überall. Und da hoffe ich, dass die, wenn sie aus der Mühle raus sind, nun mal wieder anfangen zu denken und sich zu entrüsten.“
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