Gaza-Konflikt: Israels Kriegsgegner
Nicht nur Israels arabische Bürger protestieren gegen die Militäroperation im Gazastreifen. Immer mehr jüdische Israelis fordern ein Ende des Krieges.
Nicht nur rund um den Gazastreifen wird die Atmosphäre immer gespannter. Unter den arabischen Staatsbürgern Israels wächst die Wut über den Krieg gegen die Hamas: In arabischen Städten kam es zu Massenprotesten. Die Zentren Nazareths und Sachnins verwandelten sich in Geisterstädte, als viele diese Woche dem Aufruf zu einem Generalstreik folgten. Gleichzeitig gossen israelische Nationalisten Öl ins Feuer.
Außenminister Avigdor Lieberman, der sich vor dem Hintergrund des Krieges als rechte Alternative zum Premier profilieren will, rief auf seiner Facebookseite dazu auf, alle arabischen Geschäfte zu boykottieren, die sich am Streik beteiligten. Eine kleine Gruppe von Aktivisten weigert sich jedoch, sich in diesen Sog ziehen zu lassen. Noch sind es kleine Veranstaltungen von wenigen hundert Teilnehmern: In Orten wie Haifa oder Tel Aviv demonstrieren auch ehemalige Soldaten und bekannte Künstler gegen den Krieg in Gaza.
Es sind Menschen wie der ehemalige Kampfpilot Yonathan Schapira, der keine Demo verpasst. Zu manchen bringt er sogar seine zehn Monate alte Tochter mit. Genau vor zwölf Jahren machte sein Leben eine dramatische Kehrtwende: Israel nahm am 22. Juli 2002 in Burdsch in Gaza eine „gezielte Tötung“ vor. Die Bombe wog eine Tonne und tötete außer dem gesuchten Terroristen 15 Menschen, darunter neun Kinder. „Ein weiteres Kind kam in dieser Nacht um“, sagt Schapira, dessen tiefblaue Augen genau so viel Ruhe und Selbstsicherheit ausstrahlen wie sein Bariton: „Der naive Zionist in mir.“ Zwar beruhigte der Luftwaffenchef seine Piloten nach dem Einsatz, sie könnten ruhigen Gewissens schlafen: „Aber das war ein Weckruf.“ Ein Jahr später rief Schapira mit anderen Piloten in einem offenen Brief dazu auf, den Wehrdienst zu verweigern, und wurde vom Dienst suspendiert.
Heute hat er sich weit vom israelischen Konsens entfernt. Den Einsatz in Gaza bezeichnet er als „Massaker“ und „Kriegsverbrechen“, die zudem nichts nützten: „Es ist dumm zu glauben, man könne 1,8 Millionen Menschen im größten Gefängnis der Welt einsperren, und dann zu erwarten, dass sie nicht reagieren“, sagt Schapira. Seiner Meinung nach hat „jedes Volk das Recht auf Selbstverteidigung, besonders wenn es besetzt wird. Das müssten wir eigentlich am besten wissen.“ Schließlich handle die gesamte jüdische Geschichte „vom Wunsch, sich von Unterdrückung zu befreien.“ Der Nachkomme von Holocaustüberlebenden scheut sich nicht, riskante Vergleiche anzustellen: „Wenn die Juden im Warschauer Ghetto Raketen gehabt hätten, hätten sie sie auch abgeschossen“, meint Schapira.
Nein, kein Pazifist
Nein, er sei kein Pazifist, wäre auch heute noch bereit, Terroristen zu töten. Die Bomben, die Israel auf Raketenteams der Hamas abwirft, um diese am Beschuss israelischer Städte zu hindern, könne man „in diesem engen Zusammenhang moralisch vielleicht rechtfertigen. Wenn ich glauben könnte, dass all diejenigen, die wir töten, Terroristen sind, tickende Bomben, und ich könnte sie aufhalten, ich würde es tun.“ Aber Schapira glaubt der Armee schlicht nicht, wenn sie sagt, der gesamte Krieg in Gaza diene der Verteidigung: „Diejenigen, die Soldaten auf diese Missionen schicken, sagen nicht die Wahrheit“, meint Schapira.
Vielmehr diene der Krieg in Gaza hauptsächlich Israel als „Kolonialmacht. Sie braucht Radikale auf der anderen Seite, um sie weiter unterdrücken zu können. Israel stärkt mit diesem Krieg die Extremisten, sie wurden zu den Vertretern der Palästinenser gemacht." Zudem ist Krieg langfristig kontraproduktiv: „Wenn man das große Bild betrachtet, erzeugt jedes Bombardement langfristig nur noch mehr Raketenteams, mehr Hass, und den Tod von Unschuldigen“, sagt er. Dabei kritisiert er auch die Hamas, nicht zuletzt, weil „Gewalt am Ende immer dem Stärkeren dient, sie liefert ihm die beste Rechtfertigung. Nichts lässt Premier Benjamin Netanjahu so gut dastehen wie die Handlungen der Hamas.
Die Alternative, die Schapira vorschlägt, ist für viele jedoch Anathema: „Die Zwei-Staaten Lösung kann man nicht umsetzen. Sie ist ein falsches Konzept. Es ist unmöglich mehr als 500.000 Siedler zu räumen, ohne ihnen großes Unrecht zuzufügen. Die einzige Lösung ist, sich völlig zu vermischen. Ein Staat für alle, wo jeder frei ist und die gleichen Rechte hat“, meint Schapira. Für Israelis klingt das jedoch wie ein Aufruf, ihren jüdischen Staat abzuschaffen, wie die Forderung, sie zu einer verfolgten Minderheit inmitten eines feindlichen arabischen Raumes zu machen.
Niemand möchte den High-Tech-Staat umkrempeln
Spätestens dann kehren ihm selbst pragmatische Israelis den Rücken. Kaum jemand möchte den Versuch wagen, die einzige Demokratie in Nahost abzuschaffen, niemand möchte den florierenden High-Tech- und Industriestaat umkrempeln, nachdem der arabische Frühling die gesamte Region in Chaos und Armut stürzte.
Schapira ist es gewöhnt, bei Demonstrationen und im Internet beschimpft zu werden. Um Anstellung als Pilot zu finden, muss er ins Ausland: Seine ehemaligen Kameraden wollen ihm keinen Job geben. Doch ihn bekümmert das nicht: „Ich habe viele Freunde verloren“, sagt er. „Aber dank meiner neuen Weltanschauung noch viel mehr neue dazugewonnen.“
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