Autobiografie von Helmut Schmidt: Was er noch sagen wollte
Helmut Schmidt hat ein Buch geschrieben, in dem er sich lange nach Beendigung seiner sexuellen Karriere an ebendiese erinnert. Wer will das wissen?
Ich. Man fängt einen Zeitungsartikel nicht mit „Ich“ an, wenn man als ernsthafter Journalist den altruistischen Eid abgelegt hat und sklavengleich neutral der Sache dient. Mit „Ich“ können Blogger beginnen, Faschisten oder Lyriker. Trotzdem frage ich mich, als die Anfrage für diesen Text kommt: Warum gerade ich?
Ein alter Mann hat ein Buch geschrieben, in dem er sich lange nach Beendigung seiner sexuellen Karriere an ebendiese erinnert. Vielleicht ist das die Parallele. Ich bin der Spezialist. Doch damit sei von nun an (ausgenommen Fremdzitate) das Personalpronomen in der ersten Person Singular tabu.
Helmut Schmidt hat in seiner jüngsten und hoffentlich auch letzten Autobiografie „Was ich noch sagen wollte“ eingeräumt, seine verstorbene Frau Loki über längere Zeit hinweg betrogen zu haben. Auch Marcel Reich-Ranicki blubberte präposthum recht offenherzig seine Affären in die Öffentlichkeit. Und seine Alte war zu jenem Zeitpunkt noch nicht mal kalt.
Welche Vereinbarungen in einer Beziehung über Seitensprünge herrschen, ist verhandelbar und Sache der Beteiligten. Wenn es die Heimlichkeit ist, dann ist es eben die Heimlichkeit. Doch das Besondere an der Heimlichkeit ist, dass sie nun mal heimlich abzulaufen hat. Über die Medien dem anderen Hörner aufzusetzen, ist schlechter Stil. Das Motiv, sie seien im Alter Hippies geworden und hätten nun endlich das Prinzip polyamorer Ehrlichkeit verstanden, will man den lebenskonservativen Patriarchen, die ihren Partnern nie dasselbe Recht zugestanden hätten, nicht abkaufen.
Was also soll der Mitteilungsdrang, was wollen sie uns stolz verkünden: „Ich hab schon mehr als eine andere Person gefickt“? Das ist doch fünfzehnjährig. Oder eben die regressive Kindlichkeit, die sich im Final Countdown vom erwarteten Lebensende an wieder rückwärts rechnet. „Ich bin auch ein Mensch (gewesen) und kein Polit- oder Literaturroboter“? Es gibt längst ganz hervorragende Fickroboter. Vielleicht ist die Lösung aber ganz einfach: „Ich brauche Geld für Zigaretten.“ Auch das Buch des Altkanzlers möchte ja verkauft werden.
King Kong meets Matthias Matussek
Doch wer will das wissen? Das freizügige Gelaber, wer mit wem, wo, wann, wie und wie viele, hat vor allem männliche Tradition und vergisst allzu gern, dass die Privatsphäre zweiter, dritter, vierter Personen ebenfalls geschützt sein will. Es ist eben nicht nur die eigene Sache, wenn andere involviert sind. Doch das Prahlen mit dem banalen Funktionieren der eigenen Biologie scheint zu verlockend. Denn ewig tobt der Wettstreit, wer den Längeren hat, ihn öfter benutzt, sein Erbgut weiter verteilt, den anderen verdrängt und übertrumpft. King Kong meets Matthias Matussek.
Bei Jüngeren ist das Geschlechterverhältnis der Angeber bereits deutlich ausgewogener. Der Feminismus hat da seine kältesten Schattenseiten, wo er männlichen Schwachsinn unhinterfragt imitiert, ob im Straßen- oder im Geschlechtsverkehr. Inge Meysels spätes Coming-out zählt ausdrücklich nicht dazu – zu allgemein, zu unpersönlich. Das tut niemandem weh. Mit den Erwähnten gemein hatte sie bestenfalls das Alter.
Der Verlust des Tickets für den großen Triebwagen über Attraktivität nach Vögelhausen mit Zwischenhalt in Libido-Nord, tut unbestritten weh. Man mindert den Schmerz jedoch nicht, indem man für den Hilfeschrei von Wolke elf auch noch Bäume sterben lässt. Daher halten wir es lieber frei nach Reinhard Mey: „Was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarette und eine zweite noch im Geh’n.“
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