„Philosophie Magazin“ und „Prokla“: Gutes Denken, schlechtes Denken
Das „Philosophie Magazin“ widmet Philosophen im Nationalsozialismus eine Sonderausgabe. Die Zeitschrift „Prokla“ untersucht globale Proteste.
Philosophie, als freies Denken verstanden, scheint sich mit dem Nationalsozialismus kaum zu vertragen. Das Gegenteil belegt der Fall Martin Heidegger, dessen Werk nicht nur zu den einflussreichsten philosophischen Beiträgen des 20. Jahrhunderts zählt, sondern sich auch in beunruhigender Nähe zur Ideologie des NS-Staats bewegte.
Die Sonderausgabe des Philosophie Magazins „Die Philosophen und der Nationalsozialismus“ geht dieser Mesalliance aus verschiedenen Perspektiven nach. Heidegger ist ein eigener Schwerpunkt gewidmet, in dem an seine Verstrickung in das NS-System und an seinen Antisemitismus erinnert wird.
Heidegger war kein Einzelfall, und antisemitische Strömungen gab es in der deutschen Philosophie durchaus schon früher. Wie der Philosoph und Schriftsteller Per Leo nachzeichnet, entwickelte sich der Antisemitismus von Friedrich Schleiermachers Unterscheidung zwischen Judentum und Christentum über Richard Wagners negative Charakterisierung des Jüdischen bis hin zu Hitlers „Mein Kampf“ – Letzteres war aus Leos Sicht eine „Schwundstufe des Genres“.
Für die Vernichtungspolitik entscheidend seien vielmehr die Durchbrüche in Genetik und Humanbiologie um die Jahrhundertwende gewesen: „Jüdische“ Charaktereigenschaften ließen sich so als Teil des biologischen Erbguts umdeuten.
Philosophie Magazin, Sonderausgabe 03, 9,90 Euro
Prokla 177, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 44. Jahrgang, Nr. 4, Dezember 2014, 14 Euro
Nietzsche im Sinne der Nazis
Neben den strengen Wissenschaften wurden gern auch klassische Denker annektiert, allen voran Friedrich Nietzsche. Über dessen verheerende Rezeption im Nationalsozialismus spricht der Philosoph Volker Gerhardt im Interview mit Catherine Newmark, der Chefredakteurin dieser Sonderausgabe.
Gerhardt hebt die Bedeutung des NS-Philosophen Alfred Baeumler hervor, der Nietzsche schon 1931 „ganz im Sinne der Nazi-Ideologie“ interpretiert habe und in seinem Aufsatz „Nietzsche und der Nationalsozialismus“ Sätze formulierte wie: „Und wenn wir dieser Jugend zurufen: Heil Hitler! – so grüßen wir mit diesem Rufe zugleich Friedrich Nietzsche.“
Zu Wort kommen noch weitere Philosophen, die sich als Vordenker der NS-Ideologie betätigten, etwa der NS-Erziehungswissenschaftler Ernst Krieck, der schon 1922 in seiner „Philosophie der Erziehung“ die totale Unterwerfung des Einzelnen unter „die Gemeinschaft“ predigte.
Der österreichische Philosoph Othmar Spann seinerseits schmähte in einem Vortrag von 1929 – im Beisein Adolf Hitlers – die jüdischen neukantianischen Philosophen Hermann Cohen und Ernst Cassirer als „Fremde“, deren Interpretation der Kantischen Philosophie „sehr mangelhaft“ sei.
Rothacker und die „Rassenaristokratie“
Eine besonders haarsträubende Ausprägung des akademisch verbrämten Wahnsinns der NS-Ideologie findet sich bei Erich Rothacker, Philosophieprofessor und Abteilungsleiter im NS-Propagandaministerium, der 1934 in seiner „Geschichtsphilosophie“ eine „Rassenaristokratie“ heraufbeschwor: „Ein rassisch befriedigender Bevölkerungsdurchschnitt ist in dem Rassegemisch einzelner deutscher Stämme erreichbar nur durch die energischste Unterstützung aller eugenischen Maßnahmen durch Formung und Zucht des im äußeren und inneren noch knetbaren jugendlichen Menschenmaterials im Geiste der rassisch besten Bestandteile seiner Erbmassen.“
Gleichwohl behielten viele der im Nationalsozialismus „engagierten“ Philosophen, Arnold Gehlen etwa und selbst der „Rassentheoretiker“ Erich Rothacker, nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Lehrstühle, wie der Philosoph Hans Jörg Sandkühler im Interview erinnert – Sandkühlers Doktorvater Joachim Ritter eingeschlossen. Bei Rothacker promovierten im Übrigen – nach 1945 – Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel.
Einen Blick auf die jüngste Vergangenheit wirft hingegen Prokla, die „Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft“, die sich „globalen Protesten“ seit dem Jahr 2011 widmet. Die Ausgabe will so das eigene Erstaunen über das Ausmaß der Protestwellen von Occupy über die Kettenreaktion in den arabischen Ländern bis hin zu den J14-Sozialprotesten in Israel einholen.
Zwar konstatieren die Autoren einen gegenwärtigen Rückgang der Proteste – und dass diese bisher keinen „progressiven Politikwechsel“ erreichen konnten. Das sehen sie aber zugleich als positives Zeichen: Der Mangel an öffentlicher Sichtbarkeit vieler Protestbewegungen habe oft damit zu tun, dass sie einen Transformationsprozess durchliefen und „neue, weniger spektakuläre Initiativen verfolgen“. Doch gelte das leider auch für die reaktionären Kräfte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient