Antisemitismus in Deutschland: Verbale Brutalität
Juden sind keine Deutschen und Deutsche sind Leidtragende: Beobachtungen aus einer Politikstunde an einer westdeutschen Berufsschule.
![](https://taz.de/picture/93389/14/Jugendbegegnungstaette_AnneFrank__FaM__45927746__ZUSCHNITT.jpg)
Ist der Lehrer der Einzige, der nichts hört? Er sitzt am Pult und lässt sich nichts anmerken. Es kommt mir vor, als beugten sich meine Mitschüler besonders tief über ihre Zeichenbretter. Wir sind Tischlerlehrlinge im dritten Lehrjahr. Zwei in der hinteren Bank ereifern sich halblaut: „Arschgefickte Juden … sind an allem schuld.“
„Jude“ ist ein gebräuchliches Schimpfwort an der Berufsschule in Westdeutschland. Ein 19-Jähriger erklärt mir, Juden seien Wucherer. Sie trieben Menschen in den Ruin.
Ich staune, wie offen im Unterricht Bemerkungen fallen wie „Schufa, alles Juden“. Als einmal ein Schüler ruft: „Aldi gehört den Juden“, reagiert der Lehrer: „Dazu könnte ich jetzt etwas sagen. Aber?“ Er lässt es. Ich bin Mitte fünfzig, fast so alt wie er. Und rund fünfunddreißig Jahre älter als meine Mitschüler.
Inzwischen hetzen die beiden Hinterbänkler weiter gegen „Drecksjuden“. Ein Mitschüler warnt sie leise: Wegen so etwas sei er schon mal fast von der Schule geflogen. Erst als ich die beiden laut anspreche – „Man muss nicht jeden Dreck, den man im Kopf hat, rauslassen!“ –, schweigen sie.
Was: Für Sonntag, 14. September, 15 Uhr, ruft der Zentralrat der Juden zu einer Kundgebung gegen Antisemitismus in Berlin auf. Die Veranstaltung findet am Brandenburger Tor statt. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird auf der Demo sprechen ebenso wie der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Marx, und der EKD-Ratsvorsitzende, Nikolaus Schneider.
Warum: Zentralratspräsident Dieter Graumann ruft angesichts der "unfassbaren und schockierenden Hassparolen auf deutschen Straßen" Politik, Kirchen und Zivilgesellschaft dazu auf, ein deutliches Zeichen gegen Judenhass in der Bundesrepublik und in Europa zu setzen.
Kritik: Für die Demo haben sich auch jüdische Deutsche und Israelis angekündigt, die sich vom Zentralrat und von der Politik des israelischen Staats distanzieren. Sie kritisieren die einseitige Unterstützung Israels und die ihrer Ansicht nach stattfindende Gleichsetzung von Israelkritik mit Antisemitismus. (gsh)
Nun bestellt der Lehrer die Provokateure zu sich. Mir erklärt er, den jungen Leuten fehlten Grundlagen. Das will er in der nächsten Politikstunde ändern.
Deutschland? Autos!
Er schreibt „Deutschland“ an die Tafel. Die Schüler assoziieren Autos, Merkel, fehlende Autarkie bei der Energieversorgung, Wurst und Bier. Schließlich nennt einer Nazis. Eine Schülerin ergänzt: „Weiße Rose“.
Wofür dieser Name steht, weiß sie nicht. Ein Schüler ist auf eine nach den Geschwistern Scholl benannte Schule gegangen und gibt Informationen. Der Lehrer nimmt das Stichwort „Nazis“ auf: Wir hätten ein Problem mit Neonazis in den neuen Ländern. Dort habe es keine Vergangenheitsbewältigung gegeben.
Dann bemängelt er, dass niemand den Begriff Demokratie genannt habe. Sie erscheine offenbar so normal, dass keinem mehr auffalle, wie wichtig sie sei. Es sei aber nicht selbstverständlich, dass man sich sicher auf der Straße bewegen könne. Dieser Bewusstseinsmangel sei die Ursache für das fehlende gesellschaftliche Engagement der heutigen Jugend.
Mich reizt es, seinen Monolog zu unterbrechen. Doch meine Wortmeldung könnte leicht zum Dialog ausufern. Ich war Fernsehjournalist, mache die Lehre, weil ich nicht mehr konnte. Wie ich inzwischen weiß, litt ich seit Jahren an Morbus Parkinson.
Film statt Lehrer
Die weitere Argumentation überlässt der Pädagoge einem Film. Für einige Gelegenheit zum Abschalten mit dem Kopf auf der Bank. Sie sehen nicht einmal auf, als Joseph Goebbels brüllt: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Die Menge im Berliner Sportpalast tobt, Bomben fallen auf deutsche Städte. Eine Totale zeigt Ruinen soweit das Auge reicht. Die Deutschen hungern. In den Konzentrationslagern stapeln sich ausgemergelte Leichen. „Gotteskinder“ raunt der Kommentar zum Gesicht eines Toten in Nahaufnahme. Kinder in KZ-Kitteln zeigen ihre tätowierten Unterarme: „Sie haben ihren Namen vergessen.“
Eine Schülerin greint: „Die armen Kinder. Haben ihre Namen vergessen.“ Will sie provozieren oder drückt sie ihr Unbehagen aus? Der Lehrer hakt nicht nach. Er erklärt nicht, wie Kinder im KZ von Eltern getrennt und von da an mit ihrer eintätowierten Häftlingsnummer angesprochen wurden. Die Autoren des Films wollen Mitgefühl erzeugen. Nichts eignet sich dazu besser als leidende Kinder. Doch ohne Informationen wirkt das Vergessen des Namens banal gegen die Not in den Ruinenstädten. Der Lehrer bleibt abstrakt. Das Vergessen sei womöglich „Folge von Traumatisierung“. Ob der Begriff den Schüler etwas sagt, will er nicht wissen. Die meisten haben Haupt- oder Realschulabschluss, einige Fachabitur.
Die Schüler wissen nichts
In den Pausen äußern einige Mitschüler ihren Unmut. Auch dort sind sie vorsichtig. Widerwillig erklären sie, das alles schon so oft gehört zu haben. Aber sie wissen nichts.
Mir lässt die Stunde keine Ruhe. Die Juden geschundene „Gotteskinder“ zu nennen schließt sie aus dem Kreis normaler Menschen aus. Ich fürchte, dass am Ende die Bilder siegen. Sie zeigen die Juden, wie die Nationalsozialisten sie sehen wollten: als verlauste, ausgemergelte, elend krepierte Gestalten – Opfer ohne Vorgeschichte. Auch „Opfer“ ist eine gebräuchliche Beleidigung unter Jugendlichen.
Ich bitte den Ethiklehrer um zwei Unterrichtseinheiten. Und informiere die Klasse über die massive Gewalt, mit der die Nazis die deutschen Juden aus der Gesellschaft ausgrenzten. Erkläre, dass sie Mitbürger, Kollegen und Nachbarn waren – Deutsche. Die Wortmeldungen zeigen, woher viele Schüler ihr Wissen haben: von ihren Großeltern.
Ein Schüler verteidigt die Wehrmacht gegen den Vorwurf, sie habe einen verbrecherischen Krieg geführt. Sein Großvater habe ihm erzählt, wie es wirklich war. In dieser familiären Geschichte sind offenbar die Deutschen die Leidtragenden. Und Juden keine richtigen Deutschen.
Auch die beiden Nachkommen türkischer Einwanderer tun sich mit antisemitischen Sprüchen hervor. Sie müssen sich ihrerseits von Mitschülern fragen lassen, was der Unterschied zwischen Juden und Türken sei. Antwort: „Die Juden haben es hinter sich.“ Was mir als unerträglicher Affront erscheint, nehmen die beiden äußerlich ungerührt hin.
Für meine Mitschüler geht das alles zusammen: Sie beleidigen sich und lachen sich an. Ich erlebe sie als sensibel und sozial eingestellt; zugleich als regellos bis zur verbalen Brutalität. Es ist kaum herauszufinden, wann sie provozieren und was sie ernst meinen.
Und die fehlenden Grundlagen? Die schreibt der Lehrer am Ende der Stunde an die Tafel: den Tag der Kapitulation der Wehrmacht, die ersten Tagungen des Parlamentarischen Rates und der Volkskammer: „Wichtig, bitte merken für die Gesellenprüfung“. Wir schreiben alles ab.
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