Rebecca Harms über Enttäuschungen: „Ich bin keine schlechte Verliererin“
Sie ist eine Heldin des Gorleben-Widerstandes. Nach der Niederlage bei den Vorwahlen kämpft Rebecca Harms um Platz eins auf der Europawahlliste der Grünen.
taz: Frau Harms, ärgern Sie sich über Ihre Teilnahme an den primaries?
Die europäischen Grünen haben versucht, ihre SpitzenkandidatInnen in europaweiten Vorwahlen, so genannten primaries, per Online-Votum zu ermitteln.
Das Verfahren sorgte durch Sicherheitsmängel, hohe technologische Hürden und eine niedrige Beteiligung für Aufsehen. Insgesamt wurden 23.000 Stimmen abgegeben.
Die meisten Klicks erhielt Ska Keller, Europa-Abgeordnete aus Guben, die als handelspolitische Sprecherin der Fraktion und als Kritikerin der EU-Grenzschutzpolitik in Erscheinung getreten ist.
Beim Bundesparteitag der Grünen in Dresden, der am Wochenende über die Europawahlliste entscheidet, treten Rebecca Harms und Ska Keller als Bewerberinnen um Platz eins an.
Rebecca Harms: Ärgern ist das falsche Wort. Ich bin enttäuscht, dass die viele Arbeit, die gerade die KandidatInnen in dieses Verfahren gesteckt haben, nicht zu einer größeren Resonanz geführt hat.
Das ist alles?
Ich bin natürlich auch über mein persönliches Abschneiden enttäuscht. Ich bin doch nicht aus Holz! Wer verliert, fragt sich doch immer auch: Was habe ich falsch gemacht?
Nur lässt sich das bei einer so verschwindend geringen Beteiligung kaum klären?
Bei der Europawahl 2009 habe ich allein in meiner Heimatregion Lüneburg-Uelzen rund 17.000 Stimmen bekommen. Bei der primary haben insgesamt 22.000 erfolgreich abgestimmt! Und ich kriege heute noch Briefe von Leuten, die schreiben mir: „Ich wollte für Sie abstimmen, ich habe aber kein Handy, deswegen ging das nicht. Bitte zählen Sie uns mit!“
57, seit 2004 im Vorstand und seit 2010 Vorsitzende der Grünenfraktion im Europaparlament, zuvor Chefin von Niedersachsens Landtags-Grünen, prägte als Gründungsmitglied der BI Lüchow-Dannenberg die Anti-AKW-Bewegung mit
Bloß: Durch Ihre Teilnahme laufen Sie Gefahr, als schlechte Verliererin dazustehen, wenn Sie gegen Ska Keller antreten.
Ich bin keine schlechte Verliererin. Meine Absicht ist: Ich will meiner Partei noch einmal anbieten, mit mir in den Wahlkampf zu ziehen – mit meiner politischen Erfahrung, die ich in Deutschland in der niedersächsischen Landespolitik und in Europa gerade in den Krisenjahren erworben habe, mit meinen Erfahrungen aus Griechenland, Portugal und Spanien. Ich stehe als Politikerin sehr stark für genau die Themen, die niemals von den Grünen vernachlässigt werden dürfen.
Also den Atomausstieg?
Für all jene Großthemen, die mit ökologischer Vernunft zu tun haben, vom Atomausstieg über Verbraucherschutz bis hin zur Agrarwende, mit der Auseinandersetzung über Massentierhaltung und dem Kampf gegen Gentechnik. All das sind ja europäisch offene Debatten.
Das ganze Spektrum?
Ich bin seit knapp fünf Jahren Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europäischen Parlament. Da ist es logisch, dass ich mich für alle Themen verantwortlich fühle – dazu gehören auch Flüchtlings- und Außenpolitik wie jetzt in der Ukraine. Ich glaube, dass diese Kombination, also meine Erfahrung in der Auseinandersetzung mit den großen Tieren der Politik, angefangen mit Angela Merkel, und die Beschäftigung mit den grünen Kernthemen etwas Gutes ist. Und dass diese Verbindung gerade in der schwierigen Lage, in der die Partei nach der Bundestagswahl steckt, hilfreich sein kann.
Da war Ihr Weggefährte Jürgen Trittin Spitzenkandidat: Fürchten Sie nicht, dass der Wert „Erfahrung“ bei den Grünen an Kurs verloren hat?
Ich hielte das für falsch, genauso wie ich einseitige Schuldzuweisungen nach der Bundestagswahl für falsch gehalten habe. An meiner Arbeit in der Fraktionsspitze des Europaparlaments gab es jedenfalls nie wirklich Kritik – eher im Gegenteil.
Sie haben keine Sorge, wie Angelika Beer 2009 von der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen durchgereicht zu werden?
Wer strittig kandidiert auf Platz eins, kann immer auch verlieren. Das ist nun einmal so. Aber ich bin in diesen Auseinandersetzungen nicht von der Art: Alles oder nichts.
Nun sollten die primaries ja durch stärkere Personalisierung Begeisterung wecken für Europapolitik. Das Anliegen teilen Sie doch auch?
Ja, aber wir müssen vor allem mit Inhalten punkten: Die größten und erfolgreichsten Veranstaltungen hatte ich, wenn ich mich mit Anti-Fracking-Initiativen in Polen getroffen habe oder wenn ich in Griechenland Hilfsorganisationen besuche, um über Auswege aus der menschenverachtenden Flüchtlingspolitik nachzudenken. Bei solchen Veranstaltungen, da hatten wir richtig Zuspruch. Das ist das eigentliche politische Leben ...
… wo lägen denn in dem die Differenzen zwischen Ihnen und Ska Keller?
Es gibt keine großen politischen Konflikte zwischen uns. Ska hat mir gegenüber jedenfalls nie beklagt, dass ich die Fraktion in die falsche Richtung führen würde. Sie hat weniger Verantwortung für die Politik der europäischen Grünen-Fraktion und andere Schwerpunkte. Aber sie hat sich gefreut, dass ich die kritische Debatte angestoßen habe über das transatlantische Freihandelsabkommen.
Es ist kein Flügelstreit?
Ich würde mich weigern, aus dieser Debatte eine Links-rechts-Debatte zu machen. Das halte ich für an den Haaren herbeigezogen.
Vielleicht geht es um eine stärkere Westorientierung, während Sie doch eine starke Bindung an die Ukraine haben?
Es ist wahr, dass ich seit meinem ersten Besuch 1988 nicht mehr richtig losgekommen bin von der Ukraine.
Sie gehörten zur ersten zivilen Besuchergruppe des Tschernobyl-Gebiets.
Aktuell ist das eine Mischung aus politischer und persönlicher Verantwortung. Für meine Freunde und für alle die Menschen, die sich mehr als alle anderen auf diesem Kontinent mit so viel Leidenschaft und Mut für europäische Werte und rechtsstaatliche Standards einsetzen.
Dort entscheidet sich die Zukunft der EU …?
Ich bin davon überzeugt, dass sich Europa von der Peripherie her ändert – und wir das, was uns an Aufbruch mit der Euromaidan-Bewegung aus der Ukraine entgegenkommt, zu lange nicht gesehen haben. Dass wir jetzt quasi wieder im Kalten Krieg aufwachen, das erinnert uns daran, dass man auch ein Verständnis von Geschichte braucht, um Europa weiterzubauen. Denn Geschichte vergeht nicht.
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