Debatte „Critical Whiteness“: Weiß, Macht, Schwarz
„Critical Whiteness“ will den Blick von denen weglenken, die Rassismus erfahren – hin zu denen, die Rassismus ausüben. Im linken Milieu wird diskutiert.
Es ist dunkel. André Vollrath steht auf der Bühne. Neben einem Bett. „Ich dachte immer, das, was in Schulbüchern steht, muss richtig sein“, sagt er zum Publikum, „sonst würde es ja nicht in Schulbüchern stehen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mir jemand gesagt hat, dass das, was in Büchern steht, aus einer bestimmten Perspektive geschrieben ist.“
Das Licht geht an: Der weiße Himmelbettrahmen wirft einen schwarzen Schatten auf die Leinwand. Vollrath kramt Bücher unter dem Bett hervor. Eines davon: Immanuel Kant. Er hält es hoch, sagt: „Einer der ganz großen Philosophen der abendländischen Kultur.“ Vollrath schlägt das Buch auf und zitiert: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen.“
„Das Stichwort ist Scham“, sagt André Vollrath vom Berliner Performancekollektiv Meet Mimosa (aka „the tremor art project“) nach der Aufführung. Deren Stück „blank2: ich weiß“ setzt sich auf künstlerischer Ebene mit der Theorie „Critical Whiteness“ auseinander, die spätestens seit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA prominent wurde und sich seit Anfang der 1990er Jahre im akademischen Diskurs etabliert hat.
Als eines der bedeutendsten Werke gilt „Im Dunkeln spielen“ der Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison von 1993. Mit diesem Buch leitete sie in der Rassismusforschung und im antirassistischen Engagement einen Paradigmenwechsel ein: Rassistisch Diskriminierte sollten nicht mehr zu Objekten von Forschung und politischem Handeln reduziert werden.
Von den Objekten zu den Subjekten
Vereinfacht gesagt lenkt die „kritische Weißseinsforschung“ den Blick von denjenigen, die Rassismus erfahren, auch auf diejenigen, die Rassismus ausüben. Von den Objekten zu den Subjekten. Von Schwarz auf Weiß. Im Idealfall beginnt dabei ein Prozess, den Menschen durchlaufen, die sich mit ihrem Weißsein und damit verbundenen Privilegien auseinandersetzen. „Unser Leitfaden waren die fünf psychologischen Mechanismen“, sagt Vollrath, „Verleugnung. Schuld. Scham. Anerkennung. Wiedergutmachung.“ Vollrath, der Germanistik und Philosophie studiert hat, setzt sich seit Jahren mit dieser Theorie auseinander.
Überhaupt hat Critical Whiteness mittlerweile ihren Weg nach Deutschland gefunden. Im linken Milieu wird jedoch heftig über die Theorie diskutiert, sie kritisiert und hinterfragt. Critical Whiteness spaltet die antirassistische Szene. Streitpunkt ist jedoch weniger die Theorie selbst, sondern ihre praktische Umsetzung.
Besonders kritisiert wurden Ereignisse auf dem No-Border-Camp in Köln im Juli 2012: Critical Whiteness wurde von manchen so streng interpretiert, dass Flüchtlinge letztlich von „kritischen Weißen“ mit Hinweis auf herrschaftssensible Sprache zurechtgewiesen wurden – weil diese von „Flüchtlingen“, also einer Verniedlichung, anstatt von „Geflüchteten“ sprachen.
Die ganze Veranstaltung war von Verboten begleitet. Weiße durften jederzeit ohne Begründung von Nichtweißen unterbrochen werden, andersrum ging das nicht. Weiße mit Dreadlocks wurden aufgefordert, sich diese abzuschneiden. Ähnlich harsch forderten die Aktivisten eine Selbstpositionierung der sprechenden Personen: Menschen sollen vorm öffentlichen Reden Auskunft über ihre Herkunft, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, ihren Bildungshintergrund und ihre Einkommensverhältnisse geben. Die Theorie wird zu Praxis – dabei scheint es weniger um die Diskussion zu gehen als um ein Dogma.
Teil eines Gesamtprozesses
Solche Versuche der Selbspositionierung sind vielleicht am schwierigsten nachzuvollziehen. Die Autorin Grada Kilomba, Professorin für Postcolonial Studies an der Humboldt-Universität, sieht solche Vorfälle jedoch als Teil eines Gesamtprozesses.
Es sind Versuche, Herrschaftsverhältnisse zu verändern, die auch mal schiefgehen können. „Schwarze Menschen wurden immer als schwarz markiert, das war nie ein Problem. Aber was passiert, wenn das ummarkierte Weißsein auf einmal sichtbar gemacht wird? Mit der Selbstpositionierung werden weiße Menschen verletzlicher“, sagt Grada Kilomba.
In Büchern, in Filmen und der Kunst wachsen wir mit dem Weißen als Norm auf. Also einfach Umkehrung? Gleiches mit Gleichem bekämpfen? „Es geht eher darum, Weißsein sichtbar zu machen“, sagt Kilomba. „Es ist sehr verstörend für weiße Menschen sich zu positionieren, weil sie es gewohnt sind, sich nur als Mensch zu identifizieren und Weißsein unsichtbar zu machen. Aber es gibt keine machtvollere Position, als sich nur als Mensch zu sehen und die Norm zu bestimmen.“
Was genau ist Critical Whiteness? Und an wen richtet sie sich? „Es ist erst einmal eine sehr, sehr alte intellektuelle Übung schwarzer Menschen, um zu überleben. Es ist ein sehr detailliertes, komplexes und psychoanalytisches Lesen von weißen Privilegien und wie diese in der Gesellschaft performt werden. Es muss verstanden werden, wie Weißsein die Norm ist und die Schwarzen als das Andere definiert werden“, sagt Kilomba. Mit der Theorie könnten Schwarze die Machtstrukturen aushebeln, mit denen sie konfrontiert werden.
„Eine sehr sensible, selbstreflexive Tätigkeit“
Das sieht der Sozialwissenschaftler Vassilis Tsianos ähnlich. Er lehrt zu Migration-, Gender- und Postcolonial Studies im Hamburger Institut für Soziologie. Allerdings käme dieser Positionierungszwang meistens von Personen, die sich selbst als kritische Weiße verstehen. Sich mit den eigenen Privilegien auseinanderzusetzen – erst mal ein erstrebenswertes Ziel. „Es ist aber eine sehr sensible, selbstreflexive Tätigkeit, die andere, geschützte Räume braucht“, sagt Tsianos. Menschen, die Rassismuserfahrung gemacht hätten, bräuchten Orte mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
Schwarz. Weiß. People of Color. Immer wieder tauchen diese Worte auf. Sie zeigen, wie schwierig es ist, Schwarz und Weiß unabhängig von Hautfarben zu begreifen. Während die einen nur von Schwarz und Weiß als politischen Begriffe sprechen, wird mit People of Color ein Begriff für diejenigen eingeführt, die sich in den beiden vorherigen Kategorie nicht wiederfinden.
Für Vassilis Tsianos hingegen ist der Begriff der People of Color eine Verlegenheitslösung: „Der Begriff ist exemplarisch für einen falschen Theorieimport. Ich als Mensch mit Diaspora-, Migrations- und Rassismushintergrund kann mich nicht darin wiederfinden.“
Tsianos kritisiert nicht die Theorie an sich – er sieht Critical Whiteness als Teil des antirassistischen globalen Wissens. „Das Problem fängt an, wo ein Theorieimport in den bundesrepublikanischen Kontext nur als Kritik des Kontextes steht und nicht diesen selbst weiterdenkt“, sagt er.
„Black and White sind wichtige Bestandteile des rassistischen Wissens. Das Problem ist die Übersetzung. In Deutschland ist Weiß immer auch deutsch. Wenn man das Deutsche aus der Konzeption Weißsein wegnimmt, dann haben wir ein rassismuskritisches Analyseangebot, das die Zentralität der Migrationsprozesse in Deutschland und die Post-Holocaust-Geschichte wegtheoretisiert.“ Die US-Theorie Critical Whiteness benötige in Deutschland eine Adaption, die eben auch die deutsche Migrationsgeschichte einbindet.
Bücher auf Bierbänken
Die Einbindung in den akademischen Diskurs birgt die Gefahr, zu vergessen, woher Critical Whiteness stammt. „Die Marginalisierten sollten im Mittelpunkt stehen“, sagt Grada Kilomba. Es ist erst einmal keine hochintellektuelle, komplexe Wissenschaft, sondern frei zugänglich. „Du kannst in einer Bar sitzen und den ganzen Abend Bob Marley hören und du bekommst eine großartige Lektion über Critical Whiteness. Denn vom ersten bis zum letzten Song liefert er ein Wissen über Weißsein, über weiße Privilegien und über die Performance dieser Privilegien.“
Bei seiner Theaterperformance hat André Vollrath die Bühne verlassen. Er läuft durch das Publikum, entlang einer Reihe von Bierbänken, die im Raum aufgestellt sind. Darauf liegen Bücher. AutorInnen: Grada Kilomba und anderen schwarze AutorInnen. Ein Band wird abgespielt, Zitate aus diesen Büchern, und immer wieder der Satz, der an ein Mantra erinnert: „Wessen Wissen wissen wir, wessen Wissen gilt als Wissen.“
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