Kult um Santa Muerte: Schwarze Mutter Gottes
Sie wird als Todesheilige verehrt – und soll auch Verbrecher schützen: die Sensenfrau Santa Muerte. Ein Besuch in einem Armenviertel von Mexiko-Stadt.
TEPITO taz | An fast jeder Straßenecke findet sich in Mexiko ein Altar für irgendeinen Volksheiligen. Ständig bringt die religiöse Popkultur des Landes neue Heiligenfiguren hervor. Eine der neuesten ist die Santa Muerte – ein weibliches Skelett in Kutte, in der einen Hand eine Sense, in der andern einen Globus.
Nicht zufällig ist sie seit Mitte der nuller Jahre beliebt – dem Beginn des Drogenkriegs mit bislang über 60.000 Toten. Die katholische Kirche verdammt die Todesheilige, die wie eine makabre Umkehrung der Mutter Maria wirkt.
Die Santa Muerte gilt als Schutzpatronin derer, für die der Tod alltäglich ist. Sie soll schmerzfreies Sterben bescheren und – im Unterschied zu den offiziellen Heiligen der katholischen Kirche – auch bei Verbrechen helfen. Beim grausamsten Drogenkartell Los Zetas – so berichteten jüngst Zeugen vor Gericht – sei es üblich, das Blut ermordeter Rivalen der Todesheiligen zu opfern. Immer wieder gelangen Anhänger des Kults hinter Gitter: wegen Drogenhandel etwa, und wegen Entführungen.
Die Sensenfrau und ihre Gemeinde
In amerikanischen TV-Serien wie „Breaking Bad“ und „Dexter“ ist die Sensenfrau Standard, wenn es darum geht, den Horror südlich der Landesgrenzen effektvoll zu inszenieren. Dennoch wächst ihre Gemeinde rasant. Der Kult hat sich von Mexiko aus in ganz Lateinamerika ausgebreitet, er ist mittlerweile in mexikanisch geprägten Städten wie Los Angeles und sogar in Madrid zu Hause.
Wer jenseits des Mythos etwas über den Ursprung des Kults erfahren möchte, muss sich am Ersten des Monats nach Mexiko-Stadt begeben, ins Stadtviertel Tepito, eines der gefährlichsten der 20-Millionen-Metropole. Hier wurde der erste Santa-Muerte-Altar errichtet, hier finden die populärsten Messen statt. Tepito ist ein Gewirr von unverputzten Gebäuden und Hinterhöfen, in dem man alles kaufen kann. Sex, Elektronika fragwürdiger Herkunft, und vor allem: Drogen.
Eine halbe Tonne Gras und zehn Kilo Koks wechseln hier täglich den Besitzer. Immer wieder kommt es zu Exekutionen. Es riecht nach Müll, Gras, Schnaps und gebratenem Schweinefleisch. Und selbstverständlich strotzt es auch vor privaten Altären aller möglichen Heiligen. Sie dienen, wie der mexikanische Urbanist Pedro Sánchez meint, unter anderem dazu, das Ablagern von Müll vor Hauseingängen zu vermeiden.
Auch die etwa 60-jährige Hausfrau Enriqueta Romero eröffnete hier vor über zehn Jahren einen Altar auf ihrer Veranda – den ersten der Santa Muerte. Man nennt sie respektvoll Doña Queta, sie gilt als so etwas wie die Hohepriesterin des Kults. Obwohl die Kurzhaarträgerin mittlerweile in der gesamten spanischsprachigen Welt bekannt ist, trägt sie eine fleckige Kittelschürze.
Bescheiden weist sie den Anspruch auf Gründung des Kults von sich: Das Skelett sei ihr nicht etwa als Erste erschienen, wie ein Gerücht lautet. Freunde im Umland der Stadt hätten sie mit der Santa Muerte bekannt gemacht. Lediglich den ersten Altar habe sie errichtet.
Vor dem Altar Doña Quetas türmen sich Opfergaben – Schinken, Tabak, Blumen und merkwürdigerweise jede Menge Lollipops. Häufig wird die Santa Muerte beschenkt, als ob sie ein Kind wäre. „La Niña Blanca“ – das weiße Mädchen – nennen die Gläubigen das grausige Skelett zärtlich oder „La Flaquita“ – das Dünnchen. Das klingt ungewöhnlich, ist es aber für Mexiko nicht. An einem der wichtigsten mexikanischen Feiertage, dem Tag der Toten, wird ein ähnliches weibliches Skelett – die Catrina – liebevoll mit Süßwaren gefeiert.
Auch in Lateinamerika ist Religion eher Frauensache. Trotzdem sind überraschend viele Männer gekommen für die in ein paar Stunden beginnende Messe. Es sind vor allem Typen aus dem Viertel mit Tätowierungen und Goldzähnen. Sie lehnen an Hauswänden, trinken, kiffen und schnüffeln an Fläschchen mit Lösungsmitteln. Vollkommen high skandieren sie immer wieder: „Se ve, se siente, la Santa está presente.“ – „Man sieht es, man fühlt es, die Heilige ist anwesend.“ Bedrohlich würde das wirken, wüsste man nicht, dass die Santa Muerte hier so große Autorität genießt, dass während der monatlichen Messen Gewalt ausgeschlossen ist.
Messe wird zum Volksfest
Immer mehr Menschen strömen auf die Straße vor Doña Quetas Veranda. Sie kommen auch aus weniger armen Vierteln, insgesamt etwa fünfhundert. Die Messe wird zum Volksfest. Leute gehen umher und verschenken Schnaps, Gras, Tacos, belegte Brote. Vor sich auf dem Asphalt präsentieren Gläubige ihre Devotionalien der Sensenfrau: Amulette, Poster, T-Shirts und vor allem Statuen in allen Formen und Farben. Um Geld anzuziehen, kleben an vielen von ihnen Spielgeld-Dollarscheine.
Einzeln tragen die Gläubigen ihre Devotionalien durch ein Spalier zum Altar, damit etwas von der Aura des ersten Santa-Muerte-Schreins auf sie abfärbt. Erwartungsgemäß sieht man, wie mit Totenköpfen tätowierte Männer ihre Statuen segnen lassen. Soweit das Klischee der düsteren Verbrecher-Heiligen.
Aber es sind auch ein paar androgyne Jugendliche aus der Emo-Szene hier, die die Santa Muerte schlicht um Jobs und Ausbildungsplätze bitten. Eben so einige Kranke – sie flehen um Heilung. Einer von ihnen trägt noch eine intravenöse Kanüle. Er sagt, er komme direkt aus dem Krankenhaus.
Etwas abseits steht ein älterer Herr mit etwa dreißig Statuen der Sensenfrau auf der Kühlerhaube seines Pick-ups – die größte Sammlung hier. Er erklärt, sein Sohn verdanke der Heiligen das Leben. Der sei gelähmt, habe einen Wasserkopf, schon vor zehn Jahren hätten ihn die Ärzte totgesagt.
Während des Gesprächs drückt ein Mädchen dem Mann etwas Gras in die Hand, wie bei der Messe üblich. Darauf angesprochen, weshalb die Santa Muerte so furchterregend aussehe, wenn sie doch so viel Gutes bewirke, antwortet er: „Glaube bedeutet, das Hässliche im Leben anzunehmen – dafür steht die Santa Muerte.“ Seine Frau und der Sohn im Rollstuhl kommen zurück. Das Kind strahlt. Auf seinem Schoß eine frisch gesegnete Sensenfrau.
Idee eines Kultes
Je mehr man von der Wandlung des rauen Viertels in einen Hort der Verletzlichkeit und Freigiebigkeit mitbekommt, desto ferner scheint die Idee eines Kults für Drogenhändler.
Doña Queta muss die Fragen nach den Menschenopfern der Kartelle und den vielen gefassten Drogenhändlern mit Insignien des Kults schon tausendmal gehört haben. Routiniert antwortet sie: „Diese Geschichten von Kartellen, die die Santa Muerte verehren, sind Quatsch – das haben diese katholischen Kinderficker in die Welt gesetzt, um uns zu diskreditieren.“ Sie sei Christin, aber den verleumderischen Priestern dürfe man nichts glauben.
Die katholische Kirche Mexikos setzt sich tatsächlich vehement gegen den Kult ein. Sein schlechter Ruf hat jedoch auch andere Gründe. David Romo Guillén – der selbsternannte Bischof der Santa Muerte – sitzt etwa lebenslang wegen Erpressung und Entführung im Gefängnis. Auf ihn angesprochen verfinstert sich Doña Quetas Gesicht. „Ja, Romo Guillén“, antwortet sie fahrig, als erinnere sie sich nur vage an den Namen, „solche Leute machen mir Angst.“
Flink wendet sie sich einem Gläubigen zu, der um persönlichen Segen bittet. Man möchte kaum glauben, dass der ihr nur flüchtig bekannt zu sein scheinende Romo Guillén vor seiner Verhaftung auch an ihrem Altar predigte.
Es folgen unzählige Ave Marias. Wie die Sonne über dem Viertel untergeht, fassen sich die Gläubigen an den Händen und schließen die Augen. Beim Blinzeln wird klar, dass tatsächlich alle Augen geschlossen sind – bis auf die Doña Quetas. Stille legt sich über die immer geschäftige Metropole, über Tepito, das man „Barrio Bravo“ nennt, tapferes Viertel.
Es ist so ziemlich der letzte Ort, an dem man blind und händchenhaltend mit Fremden rumstehen möchte. Öffnet man die Lider nach sich lang anfühlenden zehn Minuten, ist die Welt eine andere. Gespenstisch wirkt nun vor allem die Frage, wie eine Hausfrau in Kittelschürze dieses unbeherrschbare Viertel zähmen konnte.
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