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Die heilige Familie der Inquisition

■ Zusatzprogramme auf jedem PC sollen Kinder vor den Gefahren des Internets schützen. Sie zensieren alles, was der Familienmoral der amerikanischen Konservativen widerspricht - auch dann, wenn der Filter

Die staatliche Zensur des Internets befindet sich nach wie vor in der öffentlichen Diskussion. Zwar ist 1997 in den USA der Communications Decency Act (CDA) gescheitert. Das Gesetz wollte das Verbreiten sogenannter unanständiger Inhalte in Computernetzen unter hohe Strafen stellen. Aber nicht nur der Widerstand der Internet-Gemeinde, sondern auch der Hinweis auf Software zur elterlichen Kontrolle verhinderte seine Einführung. Diese Programme, die nun schon seit mehreren Jahren existieren, sollen es Eltern ermöglichen, den Internet-Zugang ihrer Kinder einzuschränken. Auf Drängen der Kirchen werden die digitalen Wächter in den USA auch in Schulen und öffentlichen Bibliotheken installiert.

Die freiwillige Selbstzensur hat jedoch einen entscheidenden Nachteil: Weder der durchschnittliche PC-Benutzer noch geschulte Systemadministratoren haben Einblick in das Verhalten der Software. Die zugrundeliegenden Listen verbotener Inhalte werden verschlüsselt. So kann zwar entschieden werden, ob zensiert wird oder nicht, welche Inhalte aber blockiert werden, bleibt im dunkeln.

Nur einige findige Netzbenutzer haben sich die Mühe gemacht, die Listen verschiedener Programme zu entschlüsseln oder sich wenigstens mit Stichproben einen Überblick über die zensierten Seiten zu verschaffen. Das Ergebnis ist alarmierend. Die Internet-Zensur hört bei der Pornographie längst nicht auf.

Zu den bekanntesten Programmen, die sich zum Schutz von Kindern anbieten, zählt „Cyber Sitter“ von Solid Oak Software. Vertrieben wird es von der konservativen Organisation „Focus on the Family“. Programmierer Brian Milburn verriet letzten Sommer in der Zeitschrift PC World News Radio: „Die Mehrheit unserer Kunden ist sehr familienorientiert und vertritt traditionelle Werte.“ Von traditionellen Werten ist freilich in der Programmbeschreibung nichts zu lesen. Vielmehr sollen in der jüngsten Version einzeln anwählbare Filter für verschiedene inhaltliche Gruppen („Pornographie“, „Aktivitäten von Homosexuellen“, „Sport und Freizeit“) eine maximale Anpassungsfähigkeit gewährleisten.

Die Realität sieht jedoch anders aus. Cyber Sitter zensiert auch bei Abschaltung aller Filtereinstellungen des Nutzers. Ob das Programm aktiviert ist oder nicht, läßt sich nur bei einem direkten Zugriff auf seine Einstellungen herausfinden, der aber mit einem Paßwort geschützt ist. Einmal installiert, überwacht es am Zugang zum Internet die ein- und ausgehenden Datenpakete. In der Voreinstellung ist lediglich die Übertragung von E-Mails davon ausgenommen – das Filtern dieses Bereichs kann zu technischen Problemen beim Versand von Dateien als sogenannte Attachments führen. Ein E-Mail-Filter kann jedoch zugeschaltet werden – es bleibt dem Anwender überlassen, ob er das Risiko zerstückelter Daten auf sich nehmen will.

Der gesamte übrige Datenverkehr aber wird in jedem Fall Paket für Paket analysiert und mit den Listen gesperrter Begriffe verglichen. Diese Listen können einzelne Wörter, Kombinationen von Worten, Teile von Adressen oder auch ganz Domain-Namen enthalten. Sobald über eine Internet- Verbindung ein Wort aus der Sperrliste verschickt werden soll, wird es abgefangen. Dasselbe gilt für den Empfang. Damit ist es nicht mehr möglich, die gesperrten Worte in Suchmaschinen, Newsgroups oder Chats zu verwenden. Überlisten läßt sich das Programm kaum. Wenn zum Beispiel das Wort safesex gesperrt ist, fällt auch die Zeichenfolge „s a f es e x“ der Zensur zum Opfer.

Ähnlich funktioniert auch die Blockade von Adressen. Wenn sie auf der Zensurliste stehen, lassen sie sich nicht mehr direkt eingeben, und wenn sie durch das Anklicken eines Links auf einer Website aktiviert werden, schickt Cyber Sitter lediglich eine Reihe von Leerzeichen an den Server, der diese Anforderung mit einer Standardfehlermeldung beantwortet. So ist es möglich, einzelne Wörter, Teile von Adressen oder auch komplette Domains auszusperren – womit sämtliche Dokumente des betroffenen Anbieters im Internet unzugänglich sind.

Auch eine solche globale Zensur ganzer Adressen bleibt dem Nutzer verborgen. Die traditionellen Familienwerte des Programmierers Milburn sind voreingestellt. Ihnen widersprechen bereits Schimpfworte wie bullshit. Aus europäischer Sicht mag man als typisch amerikanische Prüderie belächeln, daß auch Begriffe wie naturist und nudist oder masturbation zur verbotenen Liste gehören.

Doch so harmlos sind die Moralvorstellungen nicht, die hier durchgesetzt werden. Auch die Wörter fascism und fascist sind gesperrt. Das Programm verhindert nicht nur zu Hause, sondern auch in öffentlichen Bibliotheken und Schulen jede Internet- Recherche nach den Ursprüngen des Faschismus. Nur mit dem Schutz der Jugendlichen, der vor dem Obersten Gerichtshof der USA als Argument für den Einsatz solcher Programme anstelle offener Zensur diente, nahmen es die Programmierer bei Solid Oak nicht so genau. Zwar gestattet das Programm bei Abschaltung des Sexfilters die Eingabe des Wortes sex. Das Wort safesex wird aber weiterhin zensiert – Jugendlichen wird es nicht gelingen, seriöse Informationen über Safer Sex zu finden oder auch nur darüber zu diskutieren. Gleich zur Gänze gesperrt ist die Adresse „CONDOM .COM“: Der Anblick von Geschlechtsorganen und die Darstellung von Sexualpraktiken scheinen nach Ansicht der Cyber-Sitter- Autoren weit gefährlicher zu sein als Aids.

Die Abwehr angeblich jugendgefährdender Inhalte ist nur ein Deckmantel. Ein Blick auf andere Websites, die Cyber Sitter direkt zensiert (über Teile der Adresse oder der Domain), zeigt eine weit darüber hinausgehende, elektronische Inquisition, die dabei ist, auch aus den Schulen und Bibliotheken alles zu verbannen, was dem Weltbild einer christlich-fundamentalistischen Rechten widerspricht: Internet-Seiten über Verhütung und Abtreibung, Brustkrebs, Minderheitenrechte oder politische Gegner.

Das Ziel ist die totale Kontrolle des Hauptinformationsmarktes der nahen Zukunft. Dutzende von Internet-Providern werden zensiert, vielleicht, weil einer ihrer Kunden einmal ein schmutziges Gedicht veröffentlicht hat. Daß dadurch auch alle anderen, thematisch nicht verwandten Seiten auf diesem Server nicht besucht werden können, wird billigend in Kauf genommen. Auch das „Queer Resources Directory“, eine wichtige Informationsquelle für homosexuelle Jugendliche, kann man nicht einsehen, selbst wenn kein Filter aktiviert ist. Dasselbe gilt für die „International Gay and Human Rights Commission“, das „Human Awareness Institute“ und das „Penal Lexicon“, das auf die Bedingungen in amerikanischen Gefängnissen aufmerksam macht.

Da wundert es kaum noch, daß diejenigen, die über Cyber Sitters Praktiken berichtet haben, selbst Opfer der Zensur wurden. So war der Zugriff auf die Peacefire-Website (www.peacefire.org) lange Zeit verwehrt: Es handelt sich um eine von Jugendlichen geleitete Organisation gegen Netzzensur. In einer der letzten Versionen brach Cyber Sitter gar die Installation ab, falls es im temporären Speicher (cache) der Internet-Software die Peacefire-Website fand. Eine Suchmaschine, mit der sich prüfen läßt, ob die eigene Seite von Cyber Sitter erfaßt wird (cgi.pathfin der.com/netly/spoofcentral/cen sored/), steht immer noch auf dem Index. Der scheint gar kein Ende zu nehmen: Was mit freier Meinungsäußerung, Minderheitenrechten oder nur einfacher Aufklärung zu tun hat, wird zensiert. Nur Seitenbetreiber, die mit Klage gedroht haben, falls sie nicht umgehend aus dem Filter entfernt werden (unter anderem die „National Organization for Women“), sind in der letzten Version nicht mehr in der schwarzen Liste enthalten.

Cyber Sitter sorgt für das digitale Mittelalter. Wer sündigt, wird an den Pranger gestellt. Denn die Software erlaubt es, alle Zugriffsversuche auf indizierte Begriffe oder Adressen zu protokollieren – und zwar unabhängig davon, welche Blockaden der Benutzer tatsächlich eingestellt hat. Auch wenn zum Beispiel der „Gay“-Filter abgeschaltet ist, werden sämtliche Zugriffe auf Seiten über Homosexuelle mitgeschnitten. Zusammen mit der Möglichkeit, eigene Filter zu definieren, haben damit selbst wenig erfahrene EDV-Verwalter ein perfides Kontrollinstrument in der Hand: Der Benutzername steht in der Zugriffsliste direkt neben den als unanständig geltenden Wörtern. Persönlichkeitsrechte sind danach kaum noch das Papier wert, auf dem sie stehen, und nicht zuletzt Kinder sind schutzlos der Autorität konservativer Lehrer ausgeliefert, die sich nicht nur in den USA vertrauensvoll an die Eltern wenden werden, wenn ein in ihren Augen sexuell abnormes Kind im Internet nach Informationen über Homosexualität sucht.

Anders als zur Zeit der Inquisition bleibt der Gesinnungsterror selbst jedoch geheim. Die Kirche muß bis heute ihren Zensurindex veröffentlichen, die Programmierer der Internet-Filter nicht. Nur sie dürfen wissen, was sie verbieten. Schon vor der Installation des Cyber Sitter müssen sich die Anwender mit einem Lizenzvertrag einverstanden erklären, der es ihnen verbietet, sich Zugang zu der Liste blockierter Seiten zu verschaffen oder derartige Informationen an andere weiterzugeben. Wer das Programm benutzt, möglicherweise im guten Glauben, damit seine Kinder zu schützen, stimmt zu, daß er sich über Ausmaß und Inhalt der Zensur nicht informieren wird. Er wird danach nicht den leisesten Anhaltspunkt haben, warum bestimme Informationen nicht aufzufinden sind. Zumal die Zensur sich manchmal in plötzlich unterbrochenen Texten äußert, was eher auf einen Datenübertragungsfehler hindeutet.

Cyber Sitter ist in der wohl bedeutendsten amerikanischen PC- Zeitschrift PC Magazine zur Editor's Choice erklärt worden. Brian Milburn verweist auf weitere Auszeichnungen und erklärt jeden, der Kritik an seinem Programm übt, zum „Privatsphären-Fanatiker“. Doch das Programm ist keine Ausnahmefall. Die Konkurrenzprodukte können durchaus mithalten. Die Recherchen der Peacefire- Mitglieder zeigen, daß alle vergleichbaren Internet-Filter politische und aufklärerische Seiten oder auch religiöse Informationsangebote des Judaismus und des Islam zensieren, ohne daß der Anwender danach gefragt wird. Die Software Cyber Patrol treibt die Heuchelei auf die Spitze. Sie sperrt Diskussionsforen über Atheismus und Feminismus und das linke Mother Jones-Magazin. Informationsangebote zum Thema Aids oder das renommierte „Nizkor“- Archiv über den Holocaust wurden zumindest zeitweise blockiert. Auf der Homepage der Herstellerfirma prangt trotzdem das blaue Schleifchen, das für freie Meinungsäußerung im Netz wirbt. Nur: Die Seiten der „Electronic Frontier Foundation“, die das Symbol eingeführt hat, sind über einen langen Zeitraum hinweg ebenfalls durch Cyber Patrol zensiert worden.

Wer sich das Internet im Sinne der blauen Schleife als freies Medium erhalten möchte, sollte solche Programme schleunigst vom Computer löschen. Doch auch dagegen haben die Zensoren Blockaden eingebaut. Cyber Sitter läßt sich nur durch seine eigene Deinstallationsroutine entfernen, die aber durch ein Paßwort vor fremdem Zugriff geschützt ist. Cyber Patrol geht noch einen Schritt weiter: Wenn die entsprechenden Programm- und Einstellungsdateien gelöscht werden, ist danach das ganze System unter Umständen nicht mehr lauffähig. Erik Möller

flagg@oberberg-online.de

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