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Dem Zuschauerleben Würde geben

Wo der Alltag regiert: Das fsk zeigt in „Ende August, Anfang September“ zehn neue französische Independent-Filme, die dazu einladen, dem Durchgang einiger Personen für ein Weilchen beizuwohnen  ■   Von Philipp Bühler

„Ende August, Anfang September“. Oliver Assayas' neuester Film hat einen schönen Titel, der zur Jahreszeit passt. Den Freunden des unabhängigen französischen Films setzt er eine Frist. In den kommenden zwei Wochen präsentiert das fsk eine Filmreihe mit zehn neuen französischen Produktionen, die danach voraussichtlich für immer von hiesigen Leinwänden verschwinden werden. Dabei genießt „Ende August, Anfang September“ immerhin das seltene Privileg, einen deutschen Verleih gefunden zu haben. Doch wer seinerzeit zwei Jahre lang auf dessen furiosen Vorgänger „Irma Vep“ gewartet hat, weiß, dass man auf eine zweite Chance nicht unbedingt hoffen sollte.

Diesmal lässt Assayas die Zitatmaschine ruhen, liefert keinen verschachtelten Film über das Filmemachen, sondern wendet sich wieder dem Autorenkino zu. Paradoxerweise muss er zuerst einen Autor sterben lassen, damit ein neuer Autor sich selbst erschaffen kann. Der mäßig erfolgreiche Schriftsteller Adrien ist todkrank. Nicht nur er selbst, auch sein Freundeskreis muss sich der neuen Situation stellen und das Verhältnis zum Selbst und zum Tod neu ordnen. Der junge Lektor Gabriel, der bereits zwischen einer alten und einer neuen Beziehung den Kopf zu verlieren droht, findet über die Beschäftigung mit der Tragödie des Freundes die nötige Reife, selbst einen Roman zu beginnen. Ein gewaltiger Schritt für einen, der eben noch als seelenloser Ghostwriter für einen Politiker fungiert hat. Ob er es zwischen literarischer Eigenständigkeit und der Anpassung an Marktgesetze schafft, Adriens Fehler nicht zu wiederholen, bleibt offen. Geschickt formuliert Assayas in dieser einfühlsamen Studie menschlicher Wirrungen das entscheidende Dilemma, das für den Schriftsteller wie für den Filmemacher das selbe ist: Einerseits können Leser und Zuschauer ohne eine Geschichte, eine Story kaum zum Werk finden, andererseits ist eine solche Geschichte prinzipiell ungeeignet, die Welt des Autors auch nur annähernd zu beschreiben. Über dieses Ziel, das mit „Realismus“ so unzureichend beschrieben ist, besteht unter den vorgestellten Filmen bemerkenswerte Einigkeit. Die Frage nach einer Handlung bleibt dem Zuschauer überlassen, dessen Sehgewohnheiten in dieser Reihe gelegentlich auf die Probe gestellt sein dürften. Denn nach französischer Independent-Tradition ist hier kein Illusionskino angesagt, es regiert der Alltag. Dazu wird keine Geschichte von Anfang bis Ende erzählt, eher ist man eingeladen, dem mal langsamen, mal schnellen Durchgang einiger Personen durch eine gewisse Zeiteinheit beizuwohnen. Wer sich darauf einstellen kann, wird etwa am wunderbaren Geschwisterdrama „Un frère“, dem Erstling von Sylvie Verheyde, seine helle Freude haben und sogar mit ungekannten Reizen belohnt werden! Nichts ist ungewöhnlich an diesem durch Liebe und Autorität geprägten Verhältnis von Sophie zu ihrem großen Bruder Loic, der es nicht ertragen kann, dass sie sich die Freiheiten nimmt, die er schon hat. Muss sie ausgerechnet mit Vincent gehen, von dem er sich seinen Einstieg in die Fotobranche erhofft? Warum lässt sie sich nicht verbieten, was ihr mit Sicherheit schaden wird? Nicht nur wer selbst Geschwister hat, wird hier auf angenehme Weise beinahe zur Identifikation gezwungen. Bis man sich wünscht, genau das zu tun, was die Darsteller gerade tun. Also meistens rauchen oder Sex haben. Das Wunderbare am filmischen Realismus ist, dass diese Identifikation keine unerfüllbaren Sehnsüchte weckt, sondern dem Zuschauerleben ein bisschen von der Würde zurückgibt, die Hollywood ihm genommen hat. Das klingt pathetisch, doch nach einem Film wie „Un frère“ erscheint es einem nachgerade als Verbrechen, dass etwa die peinlichen Kennenlerngespräche, die auch der größten Liebe vorangehen, im Kino so selten sind. Gar nicht banale Fragen wie „Gehst du gern ins Kino?“ und „Was ist deine Lieblingsmusik?“ sollten in keinem Film fehlen! Auch nicht das angespannte Schweigen, das folgt, wenn einem eben kein bedeutungsschwerer Spruch einfällt. „Du redest nicht sehr viel“, sagt Sophie. „Du bist nicht sehr groß“, antwortet Vincent. Der Film ist getragen von dieser absurden Heiterkeit, mit der die Protagonisten ihre sozialen Katastrophen ertragen lernen. Sie ist nicht zu verwechseln mit der zuckersüßen Melancholie, die einem schon so manchen französischen Liebesfilm vergällt hat.

Gar nichts zu lachen hat Didier in Pascal Bonitzers „Rien sur Robert“, der schon auf der Berlinale zu sehen war. Lustvoll schwärmt seine Freundin Juliette von den sexuellen Vorzügen ihres neuen Liebhabers und testet dabei seine Verletzungsbereitschaft bis an ihre äußersten Grenzen. Die Nerven des armen Didier dürften sich dabei als stärker erweisen als die manches Zuschauers. Bonitzer, der schon zahlreiche Drehbücher für die Filme von André Téchiné geschrieben hat, ist damit eine hochlakonische Studie über Liebe und Macht gelungen.

Für Zartfühlende wieder besser geeignet ist „Circuit Carole“ von Emmanuelle Cuau. Es ist das stille Porträt einer alleinerziehenden Mutter, deren Leben seinen Sinn zu verlieren droht, als ihre Tochter Marie sich anschickt, das Haus zu verlassen. Ihre Sorge steigert sich in Paranoia, als Marie sich in einen Motorradfahrer verliebt und schließlich selbst zu Rennen antritt. Eine interessante Frage ist nicht zuletzt, wer von den beiden zuerst im Krankenhaus landet.

Realität als Abfolge von Augenblicken einzufangen versucht Marie Vermillards „Lila Lili“. Dazu heftet sich die Kamera an die Fersen der jungen Protagonistin Micheline, die sich über ihr großes Geheimnis, wie sie zu ihrer Schwangerschaft gekommen ist und warum sie das Kind auch noch behalten will, beharrlich ausschweigt. Das gerät leider noch etwas zäher als im vergleichbaren „Plätze in Städten“ von Angela Schanelec, der es ja vor kurzem, wie nun „Lila Lili“, ebenfalls vom Forum der Berlinale ins Kino geschafft hat, wenn auch nur für kurze Zeit.

Außerdem im Programm: die Komödie „Dieu seul me voit“ von Bruno Podalyes, in der sich ein hilfloser Neurotiker in gleich drei Beziehungen verheddert; „Nadia et les hippotames“ über den Transportarbeiterstreik von 1995, der ja schon auf den Straßen von Paris für lustige Verwicklungen gesorgt hat – die angesprochenen Nilpferde stehen dabei für das mächtige Schwergewicht eines ganz gemütlichen Widerstands, wie ihn sich Regisseur Dominique Cabrera zum Ideal erkoren hat; in „Je ne vois pas ce qu'on me trouve“ von Christian Vincent unternimmt ein erfolgreicher Fernsehkomiker eine desaströse Reise an die Stätten seiner Kindheit; „L'examen de minuit“ von Danièle Dubroux ist die tragikomische Geschichte von der Hochzeitsnacht eines Bankräubers. Als das Geld da ist, ist die Braut weg.

Wie es sich gehört, werden alle Filme im Original mit Untertiteln gezeigt. Dass die meistenteils englisch sind, ist, siehe oben, der Trägheit des deutschen Verleihs zu danken. Den Kummer gewohnten Cineasten sollte das aber nicht abhalten, so gegen Ende August, Anfang September mal ins Kino zu gehen.

Von heute bis zum 8. September im fsk, Segitzdamm 2, Kreuzberg

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