: Marokko geht in die Offensive
Marokko versucht, das Referendum über die Unabhängigkeit der Westsahara zu verzögern. Spanischer Ex-Kolonialbeamter erhebt in Rabat schwere Vorwürfe ■ Von Reiner Wandler
Madrid (taz) – Marokko versucht mit allen Mitteln, das UN- Referendum in der Westsahara hinauszuzögern. Der Kabinettschef des Innenministeriums in Rabat, Otman Bouabit, gewährte der taz Einblick in ein mehrere hundert Seiten starkes Dokument, das belegen soll, daß die Minurso, die UN-Mission zur Vorbereitung der Abstimmung über die Unabhängigkeit der seit 1976 von Marokko besetzten ehemaligen spanischen Kolonie, „schwerwiegende Fehler“ bei der Erstellung der Wählerlisten begangen habe.
Der spanische Zensus von 1974, auf den sich die Minurso stützte, sei unvollständig, heißt es am Anfang des Dokumentes. Der Text stamme aus der Feder von Emilio Cuevas, dem ehemaligen Obersten der spanischen Armee. Er koordinierte die einzige Volkszählung in der seit 23 Jahren von Marokko und der Befreiungsbewegung Polisario umstrittenen Ex-Kolonie. Cuevas zählte 74.000 Sahrauis. Die Listen dienten der Minurso als Basis bei der Erstellung der Wählerregister für ein Referendum. Vor vier Monaten schloß die Minurso die Registrierung ab. Die Polisario hat der Veröffentlichung der Listen zugestimmt. Marokko schweigt. Zu goß ist die Angst, eine Volksabstimmung zu verlieren.
„Ich hatte nicht genug Zeit und Mittel, um die Volkszählung abzuschließen“, behauptet Cuevas in einem Telefoninterview. „Weit mehr als die Hälfte“ der Nomadenbevölkerung habe sich zur Zeit der Zählung außerhalb der Kolonie aufgehalten. Auch beschuldigt Cuevas die Minurso, eine Kopie des spanischen Zensus benutzt zu haben, „die die Polisario bereitstelle“ und die „manipuliert war“. Zu möglichen politischen Folgen seiner Behauptungen befragt, antwortet er: „Ich bin kein Politiker, sondern Techniker.“
„Ich finde es entwürdigend, daß der Minurso soviel Vertrauensvorschuß gegeben und ich bei der erneuten Identifizierung vollständig außen vorblieb“, wettert Cuevas. Rabat jedenfalls schenkt ihm Gehör. „90 Prozent der von der Minurso aufgelisteten Wähler wurden aufgrund des spanischen Zensus zugelassen“, sagt Bouabit, die Nummer zwei von Innenminister Driss Basri, seines Zeichens die rechte Hand von König Hassan II. Da der Zensus jetzt mehr als fragwürdig sei, fordert Bouabit eine erneute Wähleridentifizierung.
Im spanischen Außenministerium rufen die Aussagen von Cuevas Erstaunen hervor. Gut erinnert sich Luis Calvo, der stellvertretende Generaldirektor für Nordafrika, an zwei Presseartikel. 1990, als Cuevas bei der UN als Berater zum Thema Sahara arbeitete, erklärte er in der Tageszeitung El Pais, „stolz und äußerst zufrieden“ angesichts der von ihm durchgeführten Volkszählung zu sein. Drei Jahre später, als Cuevas der Minurso half, die Basis für die jetzt beendete Registrierung zu legen, sprach er erstmals von 30 Prozent nicht erfaßter Bevölkerung.
„Wir gingen nie davon aus, daß der Zensus wirklich vollständig ist“, gibt auch Calvo zu. Die Zahlen von Cuevas hält er jedoch für „maßlos übertrieben“. Selbst Cuevas gibt zu, zumindest alle Stämme und deren Untergliederungen aufgeführt zu haben. Das es damit der Minurso möglich war, jedem, der sich präsentierte, eine Familie zuzuweisen oder ihn nicht in die Listen aufzunehmen, will auch Cuevas nicht leugnen. Warum sich zehntausende von Sahrauis, die laut seiner Einschätzung nicht erfaßt wurden, weder bei den Identifizierungsbüros in den besetzten Gebieten, noch in Marokko, Mauretanien oder den sahrauischen Flüchtlingslagern im westalgerischen Tindouf gemeldet haben, kann er nicht erklären.
Daß Cuevas seit geraumer Zeit offen mit Rabat kollaboriert, um die Westsahara für Marokko zu sichern, möchte das Außenministerium in Madrid nicht bestätigen. Es sei aber „eine Schlußfolgerung, die man durchaus ziehen kann“, so Calvo. Spanische diplomatische Kreise in Rabat wollen Cuevas in den letzten Monaten mindestens zweimal in Rabat gesehen haben.
Auch Washington hat bereits Wind von Marokkos neuen Manövern bekommen. „Die UNO und die beteiligten Parteien müssen den Prozeß für das Referendum schnell abschließen“, forderte der Subsekretär für den Nahen Osten, Martin Indyk, am Dienstag. „Die Verzögerungen hat die Glaubwürdigkeit des Prozesses gemindert“, mahnt er. Marokko und die Polisario hatten sich vor zwei Jahren geeinigt, die Abstimmung im vergangenen Dezember durchzuführen. Mittlerweile muß selbst UN-Generalsekretär Kofi Annan eingestehen, daß es im besten Falle im April 2000 soweit sein wird.
Gewaltandrohung, um den Prozeß zu beschleunigen, schließt Annan aus. Daher spielt Marokkos Innenminister Basri weiter auf Zeit. Für ihn und König Hassan II. kann die Volksabstimmung nur die „Marokkanität der Sahara bestätigen“. Zu verlieren „käme einem Selbstmord für ganz Marokko“ gleich. „Deshalb werden wir das Gebiet nicht verlassen“, erklärte Basri am Wochenende.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen