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Die Stadt des Schweigens

Die Sahrauis in der Westsahara hoffen auf ein Referendum über Unabhängigkeit. Wer sich öffentlich dazu äußert, riskiert Strafen. Derweil blockiert Marokkos Regierung ständig die Vorbereitungen für den Volksentscheid  ■ Aus El Aaiun Reiner Wandler

„Sind Sie für die Unabhängigkeit oder für den Verbleib bei Marokko?“ Der junge Taxifahrer antwortet mit einem schüchternen Blick. Dann versteinert seine Miene. Er biegt in die Hauptstraße von El Aaiun ein und schaltet hoch. Der Motor des alten Mini- Taxis stottert schneller. Nach Momenten des Schweigens zieht der Chauffeur seinen weißen Turban hoch vor das Gesicht. Nur die Augen schauen noch heraus. Er sieht sich verängstigt um, als ob er befürchte, daß ein blinder Passagier vom Rücksitz aus lauschen könnte. Dann stammelt der Mann in einer eigenartigen Mischung aus Französisch und Spanisch: „Moi? Independencia!“ Bis zum Ende der Fahrt ist ihm kein Wort mehr zu entlocken.

Die Einwohner von El Aaiun, der einstigen Hauptstadt der spanischen Kolonie Westsahara, reden nicht gerne über ihre Heimat. Seit Jahren bereitet die UNO ein Referendum vor, das über die Zukunft der 1976 von Marokko annektierten Region entscheiden soll, die an Afrikas Nordwestküste direkt gegenüber den Kanarischen Inseln liegt. Weiterhin Bestandteil des Reiches von König Hassan II. oder eine unabhängige Republik, wie es die Befreiungsbewegung Polisario fordert, heißen die beiden Möglichkeiten. Wer die Menschen darüber auf der Straße befragt, erhält immer die gleiche Antwort: „Das hier ist Marokko.“ Ohne nachzudenken, laut, als ginge es darum, sich selbst und vor allem mögliche Zuhörer zu überzeugen. Selbst dann, wenn weit und breit niemand zu sehen ist.

Wem dieses Glaubensbekenntnis nicht über die Lippen gehen will, der hat gelernt, sich aus dem Gespräch zu stehlen. So Salim, der Besitzer eines kleinen Ladens für Hülsenfrüchte und Tongeschirr, in der Flachbausiedlung, die einst Offiziere der spanischen Armee beherbergte. Der Alte hat sich die Sprache der ehemaligen Kolonialherren bewahrt. Nur eine kleine, aber entscheidende Lücke weist sein üppiger Spanischwortschatz auf: „Volksabstimmung, was ist das?“ fragt er mit gut gespieltem Erstaunen. Sein Enkel, der neben ihm im Schatten kauert, grinst verschmitzt.

Ahmed, der Freund des Friseurs gleich um die Ecke, ist ebenfalls der Sprache von Cervantes mächtig. Er plaudert bereitwillig über eine Reise nach Madrid, „damals in den Siebzigern, zu Zeiten der Kolonie“. Er erinnert sich an jede Ecke, jede U-Bahnstation der einstigen Metropole. Doch an den Februar 1976, als er in seine Heimat zurückkehrte, will er sich nicht erinnern. Weder an den Grünen Marsch, eine inszenierte Propagandaschau, mit der König Hassan II. 350.000 Marokkaner mit Nationalfahnen und Koran in der Hand über die Südgrenze schickte, um die Sahara für sich einzufordern, noch an den jahrelangen Krieg der marokkanischen Armee gegen die Guerilla der Polisario. Auf die Frage nach den Lagern im westalgerischen Tindouf, wo seit 23 Jahren über die Hälfte der Sahrauis Zuflucht vor den Napalmbomben der Truppe von Hassan II. suchen, reagiert er, als höre er zum ersten Mal vom erbarmungslosen Wüstenkrieg. Ein Krieg, der 1991 auf Vermittlung der UNO in einem Waffenstillstand und mit der Aussicht auf ein Referendum endete.

„Dazu habe ich keine Meinung“, antwortet Ahmed, als er nach den 400 Beobachtern der Minurso, der UN-Sondermission in der Region, befragt wird. Dann verkündet er im leicht angestaubt wirkenden Madrider Slang seine Lebensphilosophie – „Hey Alter, ich bin ein Überlebender, was willst du mehr?“ – und wechselt wieder zu unverfänglicheren Themen: das „Vagabundenleben“ in Madrid, der Flohmarkt, die langen Nächte ... Ahmed beobachtet die ganze Zeit mit unruhigem Blick das Treiben draußen auf der anderen Seite des Schaufensters.

„Die Menschen haben Angst vor Repression“, sagt einer der wenigen Europäer, die sich noch in der Region aufhalten. Auch er möchte seinen Namen und Beruf lieber nicht gedruckt sehen, „denn Rabat reagiert sehr empfindlich auf alles, was mit der Sahara zu tun hat, und ich muß demnächst meine Aufenthaltsgenehmigung verlängern“. Unbequeme Kritik, die einen Ausländer die Ausweisung kosten kann, endet für Sahrauis im besten Falle mit Gefängnis, im schlimmsten mit dem Tod. Internationale Menschenrechtsorganisationen geben die Zahl der verschwundenen Sahrauis mit über 500 an. „Wer dafür eintritt, daß die Sahara nicht marokkanisch ist, für den gelten die Menschenrechte nicht“, gibt Hassan II. in den 1993 erschienenen „Memoiren eines Königs“ unumwunden zu.

Wer in El Aaiun ankommt, muß seinen Paß vorlegen und wird registriert. Für die Sahrauis ist die Ausreise nahezu unmöglich. An den Ausfallstraßen der Stadt kontrolliert die Polizei jeden Wagen. Telefongespräche ins Ausland werden handvermittelt. Das von der Polisario in Tindouf unterhaltene „Radio Freie Sahara“ wird mit riesigen Sendeanlagen gestört. Die Nachrichten dringen trotzdem nach El Aaiun. Nomaden hören den Sender draußen in der Wüste und tragen die Kunde in die Stadt.

„Das Schlimmste ist die soziale Kontrolle“, weiß der Europäer zu berichten. Die Sahrauis kleiden sich anders und reden einen eigenen arabischen Dialekt, das Hassani. Längst sind sie in der Minderheit. 1976, als die Spanier abzogen, lebten in El Aaiun 40.000 Menschen, heute sind es fünfmal so viele. Die Zugezogenen haben sich hier eine Existenz aufgebaut. Sie erhalten die besten Arbeitsplätze und werden bei Lizenzvergaben für Geschäfte zuerst bedacht. Der Wunsch nach Unabhängigkeit könnte all das gefährden. Die Sahrauis sind ihnen somit alle verdächtig. Und das um so mehr, als bei einem möglichen UN-Referendum nur wählen darf, wer schon vor der Besatzung in der Region lebte oder von einer der alteingesessenen Familien abstammt.

Gespräche unter vier Augen sind hier nur in den eigenen Wänden möglich. Selbst gewöhnliche Alltagssituationen entgehen den überall präsenten Beobachtern nicht. Ein alter Mann in Dschilabah und Turban erklärt einem Besucher auf spanisch den Weg ins Stadtzentrum. Wie aus dem Nichts taucht ein junger Marokkaner auf. Freundlich, aber bestimmt mischt er sich auf französisch ein. Der Alte trottet mit gesenktem Kopf davon.

Marokkos Innenminister Driss Basri nennt das Leben in El Aaiun „eine exzellente Symbiose“. In den letzten Monaten ziehen immer mehr Sahrauis die riskante 90 Kilometer lange Flucht in kleinen Booten über den Atlantik auf die kanarische Urlaubsinsel Fuerteventura dieser marokkanischen Harmonie vor. Die Sahrauis, die nicht geflohen sind, erdulden diese Entwicklung schweigend. „Sie sind wie Zwiebeln“, behaupten die zugezogenen Marokkaner. Keiner wisse, was unter den vielen Hautschichten tatsächlich stecke, was sie tatsächlich denken. Zustimmung zur Besatzung dürfte es in den wenigsten Fällen sein.

Es reden nur diejenigen, die offen für Marokko eintreten. Einer von ihnen ist Mohamed, Korrespondent „in den Südprovinzen“ bei der französischsprachigen marokkanischen Tageszeitung L'Opinion. Der smarte Enddreißiger stammt aus einer alten sahrauischen Familie, der von Scheich Malainin. Einer seiner Vorfahren gründete die erste Stadt der Sahrauis, Smara. Ein anderer kämpfte gegen Frankreich und Spanien. Wieder ein anderer bestieg gar für einige Zeit den Sultansthron in Fez, bis er von marokkanischen Scheichs vertrieben wurde. Heute ist die Familie gespalten: Ein Teil lebt in den Lagern in Tindouf, wo es ein Cousin von Mohamed bis zum Minister in der Exilregierung der Polisario gebracht hat.

„Marokko hat viel für uns getan. Straßen, Schulen und Krankenhäuser wurden gebaut“, begründet Mohamed seine Zustimmung gegenüber Rabat. Dabei wurden nicht etwa die spanischen Einrichtungen erweitert. Die Pisten der Kolonie verfallen ebenso im Wüstensand wie die Kasernen der Legion. Das ehemalige Kolonialkrankenhaus wurde aufgegeben. Alles wurde neu erbaut, um selbst die architektonischen Erinnerungen an die Zeit vor der Einnahme durch Marokko für immer zu löschen.

Eine Milliarde Dollar gibt Rabat jährlich in den besetzten Gebieten aus. Eine 2.000 Kilometer lange Mauer quer durch die Wüste, zehn Millionen Minen und 75.000 Soldaten schützen das eroberte Gebiet vor etwaigen neuen Angriffen der Polisario. Der Abbau von Phosphat und der Verkauf der reichhaltigen Fischgründe im Atlantik an die EU machen die Ausgaben zum Großteil wieder wett. Außerdem organisiert das Tourismusministerium seit Jahren gemeinsam mit internationalen Reiseveranstaltern Ausflüge in den „Zauber der marokkanischen Sahara“. Bungalowsiedlungen am Strand laden zum Badeurlaub. Jetzt soll gar mit chinesischer Hilfe an der Nordgrenze der umstrittenen Region ein AKW errichtet werden, um Strom für eine Meerwasserentsalzungsanlage zu produzieren.

„Die UNO hat nicht alle Wahlberechtigten gezählt“, wiederholt Mohamed das Argument, mit dem Rabat die Referendumsvorbereitungen immer wieder blockiert. Als Beweis dienen ihm die Slums rund um El Aaiun, 40.000 Menschen leben hier seit 1991. Weitere 25.000 siedeln rund um die anderen Städte der Region. Zurückgekehrte Wüstensöhne, deren „Familien 1958 vor den Truppen Frankreichs und Spaniens geflüchtet waren“, gibt Mohamed brav die offizielle Version wieder. Sie harren in kaum zehn Quadratmeter großen Baracken aus. König Hassan II. bedenkt sie mit kostenlosem Wasser, Strom und Lebensmitteln. Als UN-Generalsekretär Kofi Annan im November El Aaiun besuchte, wurden sie schnell in sahrauische Trachten gesteckt, um für Marokko zu jubeln. Als Premierminister Abderrahmane Youssoufi im Januar dieses Jahres die besetzte Stadt besuchte, waren sie wieder auf der Straße. Dieses Mal gegen Rabat. Sie fordern die Wohnungen, die ihnen einst für ihre „Rückkehr“ versprochen wurden.

Es ist nicht Mohameds Tag. Als er einen der „Heimgekommenen“ anspricht, der mit Freunden im Schatten seiner Hütte Karten spielt, stellt sich heraus, daß dieser Berber ist und aus Guelmine kommt, dort wo Marokko bis zum Wüstenkrieg 1976 endete. Nur 4.000 der 65.000 Angehörigen der Gruppe, die Marokko „umstrittene Stämme“ nennt, wurden von der Minurso als Wähler anerkannt. Innenminister Driss Basri protestiert. Er sieht seinen Erfolg bei der „Volksabstimmung zur Bestätigung der Marokkanität der Sahara“ gefährdet.

Diejenigen, die problemlos in die Wählerliste aufgenommen wurden, warten weiterhin geduldig auf den Urnengang. „Wir Sahrauis waren schon immer hier“, bricht Salim, der alte Ladenbesitzer, nach einiger Zeit sein Schweigen: „Erst kamen die Franzosen, da waren wir Sahrauis schon hier. Dann kamen die Spanier, wir sind noch immer da. Dann kam die Polisario, wir sind noch immer da ...“ Der Sahraui verstummt erneut. Er überläßt es dem Zuhörer, die Aufzählung weiterzudenken.

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