Montagsinterview Prostituiertenbetreuerin Wiltrud Schenk: "Neuerdings wird sogar geküsst"
Im Rotlichtmilieu war in Berlin nie so viel zu verdienen wie in anderen Bundesländern. Daran hat sich nichts geändert. Trotzdem steigt die Zahl der Frauen, die anschaffen gehen. Wiltrud Schenk begleitet Prostituierte seit 20 Jahren als Sozialarbeiterin.
taz: Frau Schenk, ist die Wirtschaftskrise schon in den Bordellen angekommen?
Wiltrud Schenk: Prostituierte klagen grundsätzlich immer. Aber mein Eindruck ist schon, dass die Anzahl der Freier zurückgeht und das Feilschen um die Preise zunimmt - die gehobenen Clubs mal ausgenommen. Auch die Schnäppchenangebote werden mehr.
Wie bitte?
Immer mehr Bordelle werben mit Flatrates: "Sex, sooft Sie können". Oder: "Eine Frau bezahlen, zwei bekommen." Neben dem Arbeitsamt in Spandau wird eine Happy Hour angeboten: mit Arbeitslosenbescheid die Hälfte. Es gibt Rentnerrabatt. Es gibt die irrsten Dinge. Das alles geht natürlich auf Kosten der Frauen.
Sie sind Sozialarbeiterin und im Gesundheitsamt Charlottenburg-Wilmersdorf für die Beratung von Prostituierten zuständig. Woher beziehen Sie Ihre Informationen?
Wiltrud Schenk wird 1950 in Münster/Westfalen geboren. Sie hat vier Geschwister. Der Vater ist Maurer, die Mutter Hausfrau. Sie macht eine Ausbildung als Buchhändlerin, studiert dann Sozialarbeit. Sie geht als Entwicklungshelferin nach Botswana, Afrika und lebt in Israel im Kibbuz.
1983 begründet sie in Berlin die Beratungsstelle für sexuell missbrauchte Mädchen und Frauen, Wildwasser, mit und begleitet das Projekt viele Jahre als ehrenamtliche Mitarbeiterin. 1985 fängt sie beim Bezirksamt Neukölln als Sozialarbeiterin im Jugendamt an. Später wechselt sie zum Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf. Seit 1989 berät und betreut sie Prostituierte.
Seit einigen Jahren leitet sie die Behörde "Zentrum für sexuelle Gesundheit und Familienplanung". Das Zentrum ist auch für die Bordelle in Spandau und Reinickendorf zuständig. Schenk ist parteilos und lebt mit ihrer Lebenspartnerin zusammen.
Vieles erfahre ich von den Prostituierten selbst. Ich besuche sie in den Bordellen, oder die Frauen kommen zur Sprechstunde ins Amt. Um Adressen von neuen Bordellen ausfindig zu machen, durchstöbere ich auch die Zeitungen nach Inseraten. In den 20 Jahren, die ich diese Arbeit jetzt mache, hat die Konkurrenz ganz schön zugenommen.
Früher ging es den Prostituierten besser?
In Berlin war auf diesem Sektor nie so viel zu verdienen. Hier gehen mehr Frauen anschaffen als in anderen Bundesländern. Obwohl immer weniger Männer bereit sind, dafür Geld auszugeben, nimmt die Zahl der Prostituierten weiter zu. Mehr und mehr Frauen machen das für ein paar Stunden nebenher. Manche fahren zum Arbeiten auch nach auswärts, zum Bespiel drei Wochen auf Schicht nach Bayern.
Was wissen Sie über die Preise?
Es gibt Bordelle, da wird eine halbe Stunde Sex für 30 Euro angeboten. Oder Französisch zusätzlich für 5 Euro. Früher musste man dafür 10 Euro bezahlen. Neuerdings wird sogar geküsst. Früher war das bei den Huren absolut tabu.
Liegt das nur am Konkurrenzdruck?
Nein. Zu unserem Zuständigkeitsbereich gehören rund 120 Prostitutionsbetriebe, in denen rund 500 Frauen beschäftigt sind. Darunter befinden sich diverse Wohnungsbordelle, ein Großbordell, Bars und Sexkinos. Ich würde sagen, 90 Prozent der Frauen gehen freiwillig anschaffen, viele davon in Wohnungsbordellen. Mit diesen Frauen, die zum Teil sehr gebildet sind, gibt es kaum Probleme. Sorge bereiten uns eher die Rumäninnen und Bulgarinnen, die seit der EU-Erweiterung verstärkt als Prostituierte nach Berlin kommen. Ihre Bildung ist sehr gering.
Woran merken Sie das?
Unser Eindruck ist, dass viele der Frauen von Zuhältern gezwungen werden, auf den Strich zu gehen. Viele Frauen sind Analphabetinnen und haben auch kein Verständnis für ihren Körper. Bei Kontaktgesprächen versuchen wir sie erst mal über grundsätzliche Dinge aufzuklären: Warum kriegt man seine Tage? Warum wird man schwanger? Das ist wie bei einer Schulklasse.
Wie oft gehen Sie in Bordelle?
Einmal im Monat, manchmal auch öfter.
Was genau tun Sie dort?
Ich gucke, wo die Frauen Hilfe brauchen, auch außerhalb der Prostitution. Ich möchte sie unterstützen, gesund zu bleiben. Gesund im wirklich umfassenden Sinne auch an der Seele. Hygiene interessiert mich nur insofern, als die Handtücher sauber und Kleenex und Kondome vorhanden sind. Ob das Betttuch gewechselt ist, überprüfe ich nicht.
Lassen Sie sich die Kondome zeigen?
Nein. Aber ich bringe welche mit und biete sie an.
Über die Wohnungsbordelle in Charlottenburg-Wilmersdorf ist ein heftiger Streit entbrannt, der zurzeit vor dem Verwaltungsgericht ausgetragen wird. Der CDU-Baustadtrat Klaus-Dieter Gröhler will sie schließen, die grüne Gesundheitsstadträtin offen lassen. Was sagen Sie als Expertin dazu?
Ich bin eine Verfechterin von Wohnungsbordellen. Es gibt überhaupt keinen Grund, die Genehmigung zu entziehen. Wohnungsbordelle sind meist nur tagsüber geöffnet. Die Frauen haben sich bewusst für diesen Beruf entschieden. Sie achten gegenseitig auf ihre Sicherheit. Der Betrieb wird in der Regel unauffällig und diskret abgewickelt. Anders als bei Bars gibt es keine Leuchtreklame oder Lärm durch Musik oder betrunkene Gäste. Wohnungsbordelle sind für die Nachbarschaft gut verträglich. Das zeigt sich auch daran, dass es kaum Beschwerden von Anwohnern gibt.
Trotzdem ist der CDU-Baustadtrat für die Schließung. Hat das moralische Gründe?
Er behauptet, nein, Bordelle hätten laut Baurecht in Wohngebieten nichts zu suchen. Fertig.
Seit 2002 gibt es das Prostitutionsgesetz, das Prostitution anderen Berufen gleichstellt. Was hat sich dadurch verändert?
Immer mehr Frauen, die im Rotlichtgewerbe nicht mehr genug verdienen, melden sich als Prostituierte beim Finanzamt an. Mit der Bescheinigung gehen sie dann zum Jobcenter und beantragen zusätzlich Hartz IV. Das wäre früher unmöglich gewesen. Prostituierte melden sich jetzt auch bei der Krankenkasse an. Früher geschah das unter Angabe anderer Berufsbezeichnungen. Wenn der Schwindel aufflog, verloren sie ihren Versicherungsschutz.
Wie dicht kommen Sie an die Frauen heran?
Bei neuen Bordellen ist es Schwerstarbeit - ich komme ja als Behörde. Das Misstrauen ist groß. Im Lauf der Zeit fassen die Frauen aber in der Regel Vertrauen. Unsere Beratung geht ja weit darüber hinaus, wie man sich vor Tripper und Aids schützt.
Suchen die Frauen auch persönlichen Rat?
Neulich kam eine Frau zu mir, die sagte: "Meine Tochter ist neun Jahre alt. Soll ich ihr erzählen, was ich arbeite?" Die Frau fährt immer ein paar Tage zum Arbeiten weg. Sie möchte nicht riskieren, dass jemand was mitbekommt. Die Tochter sagt seit längerer Zeit: "Mama, ich will mal mitkommen. Was machst du da?" Die Mutter leidet ganz doll darunter, dass sie immer lügt.
Was haben Sie der Frau geraten?
Dem Kind ganz schnell die Wahrheit sagen. Wenn die Tochter so viel fragt, ahnt sie etwas. Es ist besser, wenn sie die Wahrheit von der Mutter hört.
Wie könnte man das einem Kind erklären?
Eine Fünfjährige kann das vielleicht noch nicht verstehen, aber eine Neunjährige schon. Die Mutter muss nicht so tun, als sei es der tollste Job auf der Welt. Auf jeden Fall muss sie sagen, dass sie es freiwillig tut und dazu steht.
Was haben Sie der Frau in dem konkreten Fall empfohlen?
Die Frau kommt nicht aus Deutschland. Ich habe geraten, mit der Vorgeschichte anzufangen: "Weißt du noch, wo wir früher gelebt haben? Wir hatten kein Geld. In Deutschland habe ich auch keine Arbeit gefunden. Ich wusste nicht, wie ich die Miete und die Schulreise bezahlen sollte. Dann habe ich das Angebot bekommen, mit Männern Sex zu machen. Sie bezahlen mich dafür, dass ich mich für sie ausziehe und zu ihnen zärtlich bin. Das ist nicht schlimm. Es gibt auch andere Frauen, die so was tun. Manche Leute finden das abscheulich und sagen deshalb Schimpfworte. Darum musst du dir überlegen, ob du es anderen erzählst. Es kann sein, dass sie auch dich beschimpfen. Das möchte ich dir ersparen."
Was wissen Sie von den Reaktionen der Kinder?
Kinder haben ein gutes Gespür für Familiengeheimnisse. Sie zu belügen zerstört mehr. Natürlich muss die Mutter auch aushalten, wenn das Kind sagt: "So einen Scheißjob machst du?" - "Ja. Lass uns drüber reden, warum ich das mache."
Wie kommt man als Sozialarbeiterin dazu, mit Prostituierten zu arbeiten?
Ich habe 1989 bei der Geschlechtskrankenfürsorge angefangen - so hießen die Beratungsstellen für Prostituierte bei den Bezirksämtern damals noch. Ich war 39 und zuvor beim Jugendamt tätig. Zuerst habe ich gedacht: "Nein. Das kannst du nicht." Aber dann hat es mich doch gereizt. Ich wollte nicht mehr die Verantwortung für Kinder haben. Ich fand es spannend, dass es erwachsene Frauen sind. Aber ich hatte mir Wunder was darunter vorgestellt.
Was denn genau?
Junge, schlanke, attraktive Frauen. Knisternde Atmosphäre. Alles rot. Das erste Bordell, das ich in der Wilmersdorfer Straße besucht habe, war so was von bieder: Schrankwand, Sessel mit Deckchen auf den Lehnen. Was war ich enttäuscht! Da ist mir erst klargeworden, was ich für ein Bild von der Prostitution hatte.
Was bekommen Sie von den Vorgängen hinter den Kulissen mit?
Einiges. Es gibt Frauen die geschlagen werden. Frauen, die veranlasst werden, ohne Kondom zu arbeiten. Das betrifft vor allem Frauen, die sich nicht gut wehren können. Wenn man das erste Mal in eine Bar kommt, wo der Porno ununterbrochen läuft mit den entsprechenden Geräuschen und die Frauen ungerührt vor dem Bildschirm sitzen und ihre Pizza essen - da kann man nicht einfach abschalten. Ich bin mir sicher, dass das auch mit den Frauen was macht.
Worauf wollen Sie hinaus?
Frauen, die lange in der Prostitution arbeiten, verändern sich im Habitus. Sie bekommen eine sexualisierte Sprache. Sie kennen kaum noch Leute, die nicht zum Milieu gehören. Das grenzt aus und macht einsam. Dazu kommt, dass sie sich ständig verstellen müssen.
Wie meinen Sie das?
Wenn ein Mann in die Bar kommt, fangen alle Frauen sofort an, ihn zu unterhalten. Sie investieren Zeit, Freundlichkeit, Schauspiel, Dauerlächeln - in der Hoffnung: Vielleicht geht er mit mir aufs Zimmer. Dazu kommt die Nachtarbeit und die Gefahr, Alkoholikerin zu werden. Wir warnen die Frauen immer: Trinken Sie alkoholfreien Sekt. Denn nichts trinken geht nicht. Frauen, die in Bars arbeiten, raten wir, mehr auf sich zu achten. Und wenn es nur ist, die Sonne mal wieder auf die Haut scheinen zu lassen. Auch deshalb bin ich eine Verfechterin von Wohnungsbordellen.
Haben Sie auch mit alten Prostituierten zu tun?
Eine Frau, die ich regelmäßig betreue, ist 60. Vor zwei Jahren hat sie sich entschieden, zum Jobcenter zu gehen. Sie hat gesagt: "Ich schaffe das nicht mehr." Jetzt geht sie noch zwei Nächte arbeiten. Sie braucht es, begehrt zu werden. Es gibt Bordelle, wo ganz viele Frauen über 50 arbeiten. Es gibt ja auch Männer, die eine reifere Frau wollen, die Stress haben, dass sie bei einer ganz jungen nicht genug leisten.
Sie leben mit ihrer Lebenspartnerin zusammen. Hat die Arbeit Ihr Männerbild beeinflusst?
Es könnte sein. Bei meinen Kontaktbesuchen in den Bordellen sehe ich manchmal, wie die Freier die Frauen angrabschen. Ich würde Ihnen auf die Finger hauen.
Wie stehen Sie zu den Prostituierten?
Ich mag die Frauen sehr. Ich mag es, wenn sie selbstbewusst erzählen, wie sie die Männer anbaggern. Der offensive Umgang mit Sexualität gefällt mir. Das ist etwas, was meine Generation nicht gelernt hat.
Hat sich Ihr Verhältnis zur Sexualität dadurch verändert?
Ich habe gelernt, offen über Sexualität zu sprechen. Privat und beruflich. Es ist wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen, wenn die Frauen bei den Beratungsgesprächen wissen wollen, wie sie sich besser schützen können; Analverkehr, Französisch pur oder Anpinkeln zu sagen und nicht mit Worten wie "da unten rum" rumeiern.
Französisch pur bedeutet Oralverkehr ohne Kondom. Wie kann man sich da vor Ansteckung schützen?
Geschickte Frauen nehmen das Kondom heimlich in den Mund und stülpen es kurz vor dem Samenerguss über den Penis, ohne dass der Freier es merkt.Wirklich sicher ist Oralverkehr natürlich nur mit Kondom.
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