Prozess wegen 1.-Mai-Randale: Ein Cocktail, der viele Fragen aufwirft
Die beiden Waldorfschüler Yunus K. und Rigo B. sollen am 1. Mai in Kreuzberg einen Brandsatzl auf Polizisten geworfen haben. Seit sieben Monaten sitzen sie in U-Haft, seit September wird ihnen der Prozess gemacht.
Frostig und stockfinster ist es an diesem Montagabend. Doch an der Dahlemer Clayallee schieben sich immer mehr Schüler und Erwachsene in die Rudolf-Steiner-Schule. Mehr als 200 sind es am Ende, die sich in die in rotes Scheinwerferlicht getunkte Aula verteilen. Sie wollen die Anwälte hören, die Eltern, die Lehrer. Sie reden über diesen Prozess, "der uns nicht mehr schlafen lässt", wie es in der Einladung heißt.
An der Saalwand lächeln die auf ein Transparent gepinselten Gesichter von Yunus K. und Rigo B., vorne auf der Bühne prangen ihre Konterfeis auf den T-Shirts einer Gruppe von Zwölftklässlern. Es sind Rigo B.s Mitschüler. Ein Lied von Brecht singen sie und ein umgedichtetes von Konstantin Wecker: "Eher unschuldig inhaftieren, als sich selbst zu blamieren, macht euch stark und mischt euch, sagt nein."
Der 1. Mai 2009 war so gewalttätig wie lange nicht mehr. 289 Festnahmen und 479 verletzte Polizisten verzeichnete die Polizei. Die Staatsanwaltschaft erhob mehr als 140 Anklagen. Bisher wurden 12 Mai-Randalierer zu Haftstrafen verurteilt. 11-mal wurden Bewährungen ausgesprochen, 38-mal sonstige Strafbefehle.
Der Prozess gegen Yunus K. und Rigo B. läuft seit dem 1. September, heute findet der 16. Verhandlungstag statt. Am Samstag wollen Freunde unter dem Motto "Freiheit für Rigo und Yunus" durch Mitte demonstrieren. Start: 14 Uhr, vor der Waldorfschule Mitte in der Weinmeisterstraße.
Am Dienstag hat sich auch der evangelische Kirchenkreis Stadtmitte für die Angeklagten eingesetzt. In einem Brief an Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) haben sich Superintendent Bertold Höcker, Kreisjugendpfarrerin Silke Radosh-Hinder und Gemeindepfarrer Peter Storck um eine Aussetzung der Haft über die Weihnachtstage gebeten. Es bestünde keine Fluchtgefahr, betonte Radosh-Hinder.
Dann bekommt Yunus Vater das Mikro. Einen "permanenten Ausnahmezustand" durchlebe seine Familie gerade. Nichts, gar nichts hätten Yunus und dessen Freund Rigo mit den Vorwürfen, diesem Molotowcocktailwurf am 1. Mai, zu tun. Es müsse endlich einen Freispruch geben.
Rigos Mutter nickt. Nichts wünsche sich ihr Sohn mehr, "als wieder draußen zu sein". Als Anwältin Christina Clemm ein Grußwort von Yunus K. vorliest, wird es mucksmäuschenstill. "Macht darauf aufmerksam, was hier mit uns passiert", entziffert Clemm langsam die Kritzelschrift. Applaus rauscht durch die Aula.
Selten verdichten sich in einem Prozess so viel Brisanz, soviel Emotionen wie in dem Verfahren gegen den 20-jährigen Yunus K. aus Tempelhof und den 17-jährigen Rigo B. aus Zehlendorf. Seit September wird gegen die Waldorfschüler vor dem Landgericht verhandelt, seit mehr als sieben Monaten sitzen sie in U-Haft. Laut Anklage sollen sie am 1. Mai einen Molotowcocktail auf Polizisten geworfen haben. Der Brandsatz verfehlte die Beamten, Teile der brennenden Flüssigkeit verletzten aber eine umstehende 28-Jährige schwer.
Es geht um viel: Der Vorwurf lautet auf versuchten Mord, fahrlässige Körperverletzung und Verstoß gegen das Waffengesetz. Es ist die schwerste Anklage, die bisher nach einem 1. Mai erhoben wurde. Lebenslange Haft könnte das im Höchstfall für Yunus K. geben, zehn Jahre nach Jugendstrafrecht für Rigo B. Doch die beiden bestreiten den Vorwurf vehement - und die Zweifel, dass sie recht haben könnten, lassen sich auch nach 15 Prozesstagen nicht kleinreden.
Tatsächlich erwecken die beiden Jungs, die da im holzgetäfelten Gerichtssaal 817 sitzen, alles andere als den Anschein autonomer Straßenkämpfer. Zaghaft betreten sie jedes Mal den Saal. Rigo B. wirft seinen Eltern einen Kussmund zu, lächelnd winken sie in die Zuschauerreihen. Wuschelfrisuren tragen sie, Pullover und Jeans. Yunus K. hat in der U-Haft sein Abitur bestanden, spielt Klavier. Rigo B., katholisch, absolvierte im Knast seinen Mittleren Schulabschluss. Mit der linken Szene hätten sie nichts zu tun, beteuern die beiden. Alles sei eine große Verwechslung.
Genau das schließen zwei Polizisten aus. Sie hätten die beiden bei der Tat am 1. Mai am Kottbusser Tor beobachtet, sagen die Beamten im Prozess aus. Es war gegen 21.45 Uhr, die "Revolutionäre 1. Mai"-Demo war gelaufen. Plötzlich fliegt ein Molli, wenig später ein zweiter. Diesmal haben die Zivilpolizisten die Werfer gesehen. Keine Gesichter zwar - aber der Typ im weißen Shirt mit Basecap und der Dunkelgekleidete, die sollens gewesen sein.
Die Polizisten folgen den beiden; an einer Polizeikette nehmen die Beamten sie fest. Könnten Sie die Angeklagten nicht im Gewühl des 1. Mais verwechselt haben, fragt Richterin Petra Müller? "Ich sage mal - nein", schüttelt der Beamte den Kopf.
"Gespenstisch" sei dieser Prozess, sagt Ulrich von Klinggräff, der ebenfalls Yunus K. verteidigt. Es ist nicht das erste Mal, dass er 1.-Mai-Angeklagte vertritt. Der bedächtig auftretende Verteidiger mit den kurzen, graumelierten Locken ist bekannt in der Szene. Doch in diesem Prozess sei vieles anders, sagt von Klinggräff. Die ganze Anklage basiere auf der Aussage der beiden Polizisten - hinter der viele Fragezeichen stünden. "Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass hier die Falschen vor Gericht stehen."
Kein einziger Zeuge habe Yunus K. und Rigo B. als die Brandsatzwerfer wiedererkannt, betont von Klinggräff. "Im Gegenteil konnten drei Zeugen die Täter genau beschreiben - und ausschließen, dass es sich um die Angeklagten handelt." Es gebe keine objektiven Beweismittel: keine Videos, keine Benzinspuren, nicht mal Taschen hätten Yunus und Rigo dabei gehabt, aus denen sie den Brandsatz hätten ziehen können. Zudem hätten zwei weitere Zeugen ein Foto präsentiert, das sie von der vermeintlich "wahren Tätergruppe" gemacht hätten. Darauf abgebildet: ein Jugendlicher mit weißem Shirt und dunklem Basecap und ein schwarz Gekleideter. Nicht abgebildet: Yunus K. und Rigo B. "Damit ist eine Verwechslung sogar äußerst naheliegend", unterstreicht der Anwalt. "Im Zweifel für die Angeklagten", sagt von Klinggräff. "Wie viele Zweifel denn noch?"
Als Schaulustige seien sie am 1. Mai nach Kreuzberg gekommen, sagen Yunus K. und Rigo B. am ersten Prozesstag aus. Am Kotti hätten sie die Krawalle beobachtet. Dann hätten sie zur Sparkasse gewollt, um Geld zu holen, und seien festgenommen worden. "Wir wussten nicht, was los war", erzählt Yunus K. "Im Nachhinein war es falsch, nach Kreuzberg gegangen zu sein."
Was aber, wenn sie es doch waren? Wurde nicht erst vor drei Wochen eine 22-jährige, frühere Waldorfschülerin wegen eines Flaschenwurfs am 1. Mai verurteilt? Stand nicht Yunus K. zum Tatzeitpunkt unter Bewährung wegen eines Flaschenwurfs in der Walpurgnisnacht 2007?
Doch Fakt ist in diesem Prozess bislang nur, dass durch den Brandsatzwurf eine Frau schwer verletzt wurde. Sie sei panisch gewesen, als ihr plötzlich Flammen den Rücken emporschlugen, berichtet die 28-jährige Josefine R. im Prozess. Im Krankenhaus seien Verbrennungen zweiten und dritten Grades festgestellt, drei Viertel der Rückenhaut abgenommen worden. Die Täter habe sie nicht gesehen.
Ralph Knispel, Staatsanwalt in dem Verfahren, steht in den weiten Landgerichtsfluren, hält kurz inne. "Wir dürfen uns in diesem Prozess von keinen Emotionen leiten lassen." Knispel ist seit 18 Jahren Staatsanwalt, inzwischen Berliner Oberankläger für Kapitalverbrechen. Als Hardliner ist er nicht bekannt. "Ich bin nach wie vor von dem dringenden Tatverdacht gegen die Angeklagten überzeugt", sagt Knispel. Die Polizisten hätten glaubhaft eine Verwechslung ausgeschlossen.
Es gehe hier auch nicht um irgendwelche Rufe nach Abschreckung, wie Boulevardblätter sie gefordert hatten, wiegelt Knispel ab. "Davon lasse ich mich nicht beeindrucken." Natürlich habe auch er Widersprüche in den Aussagen der Beamten bemerkt. "Entscheidend ist aber das Gesamtbild, das wir am Ende bewerten müssen." Es ist eine andere Frage, die den Staatsanwalt und die besonnene, immer wieder nachhakende Richterin Petra Müller umtreibt: Warum sollten diese langjährig am 1. Mai tätigen Polizisten lügen oder sich dermaßen irren, da sie doch eine Verwechslung ausschließen? Es geht auch für Knispel und Müller um was. Sollte sich am Ende die Unschuld der Schüler erweisen, eine monatelang fälschlich verhängte U-Haft, wäre das nicht nur eine Schlappe - es wäre ein handfester Skandal.
Für die Angehörigen, Mitschüler und Freunde von Yunus K. und Rigo B. ist der Prozess genau das bereits jetzt - ein Skandal. Das Verfahren begleiten sie mit einer "Freiheit für Rigo und Yunus"-Kampagne. Jeden Adventssonntag tragen sie vor dem Roten Rathaus mit Grablichtern "die Gerechtigkeit zu Grabe". Am Samstag steht der vorläufige Höhepunkt bevor: Mit einer Demo wollen sie durch Mitte ziehen.
Unterstützer gibt es viele: Im Gerichtssaal drängeln sich auf den Zuschauerbänken Anwaltskollegen und Politiker wie der Grüne Christian Ströbele und die SPD-Abgeordnete Bilkay Öney. Die Berliner Linksjugend Solid erklärt sich solidarisch mit den Angeklagten. Denn es steht eine dritte Frage im Raum: Wiegen Aussagen von Polizisten schwerer als die anderer Zeugen?
Ruhig, nach außen gefasst verfolgen Yunus K. und Rigo B. das Verfahren. Nur einmal, am elften Verhandlungstag, bricht diese Fassade auf. Richterin Müller lehnt einen Antrag ab, die Angeklagten zumindest aus der U-Haft zu entlassen. "Der dringende Tatverdacht ist nach wie vor gegeben", sagt Müller. Es bestehe weiter Fluchtgefahr ob der "erheblichen Straferwartung". "Na klar", schnaubt Rigo B. plötzlich, schlägt auf den Tisch. Er springt auf, bricht in Tränen aus. Rigos Eltern eilen zu ihrem Sohn, nehmen ihn in den Arm. "Was wollt ihr noch?", ruft Rigos Vater gen Richterbank. Auch Yunus K. weint. Es bricht Tumult aus. "Skandal"-Rufe ertönen aus dem Publikum.
Richterin Müller muss die Verhandlung unterbrechen. Eine Viertelstunde später setzt sie die Verlesung ihres Beschlusses fort. Elf Seiten lang erläutert Müller, warum der Tatverdacht bisher nicht ausgeräumt wurde. Es klingt wie ein Urteil.
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