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Archiv-Artikel

„Meiden Sie den Kugelhagel“

aus Port Harcourt HAKEEM JIMO

Die Bar „Goodfellas“ kennt jeder als Kontakthof. Das Etablissement im Herzen von Port Harcourt besticht nicht mit seiner Innenausstattung. Drei rustikale Sitzecken aus Holz stehen auf der einen Seite, dazu kommen grell beleuchtete Kühlschränke von bekannten Getränkemarken. An der Wand hängt ein „Casablanca“-Plakat mit Humphrey Bogart. In die Jack-Daniels-Flaschen haben die Kellner billigen lokalen Whisky gefüllt. Den echten verkaufen sie woanders und hoffen, dass die betrunkenen Gäste nichts merken.

Man kommt eigentlich auch nicht zum Trinken ins „Goodfellas“. An der Tür hängen selbst gedruckte weiße DIN-A4-Blätter: „Mädchen – sucht nicht nach Freiern in dieser Kneipe!“ Das ist eine reine Pro-forma-Aufforderung. Denn das Nachtleben in Nigerias Ölmetropole ist für die gut verdienenden Angestellten der Ölkonzerne eine gute Möglichkeit, um vom isolierten Arbeitsalltag auf den Ölplattformen, Pumpstationen oder Büros Abwechslung zu finden. Darunter verstehen viele dieser ausländischen Gastarbeiter in Nigeria käuflichen Sex. Am Wochenende wird im „Goodfellas“ der Karaoke-Apparat angeworfen – Rahmenprogramm für das Kontakten.

In Port Harcourt lassen sich viele Sex-Arbeiterinnen nicht in der Landeswährung Naira bezahlen, sondern gleich in Dollar. Das hat für beide Seiten Vorteile. Der Freier muss sich nicht um einen guten Umtauschkurs kümmern, die Mädchen erhalten harte Währung.

Seit einiger Zeit allerdings treiben sich kaum mehr Weiße in der Kneipe herum. Im August hatten Gangster das „Goodfellas“ gestürmt und gezielt eine Gruppe Ausländer entführt, darunter mehrere Briten. Das brachte das Etablissement weltweit in die Schlagzeilen, was seinem Ruf nicht gut tat.

Chichi, die junge Frau hinter der Theke, kellnerte an jenem verhängnisvollen Abend. „Sie haben geschossen, um uns einzuschüchtern“, erinnert sie sich. „Ich bin nach hinten in die Küche gelaufen. Was hätte ich sonst machen können? Es wird bestimmt nicht wieder passieren.“ Die Mittzwanzigerin scheint von dem Angriff wenig beeindruckt zu sein. Dabei war es das erste Mal, dass Kidnapper ihre Opfer im Herzen der Stadt Port Harcourt suchten. Sonst ereigneten sich Geiselnahmen auf entlegenen Pumpstationen oder auf Landstraßen.

Jedenfalls bleiben die ausländischen Gäste im „Goodfellas“ seither aus. Fünf mäßig aufgetakelte Frauen sitzen gelangweilt an der Bar. Drei einheimische Männer können die Damen auch nicht recht aufheitern. Dasselbe Trauerspiel läuft im „The Toby Jug“ oder „Cheers“, einschlägigen Adressen der Nachtszene in Port Harcourt. Kaum einer der zahlungskräftigen Gastarbeiter lässt sich mehr blicken. Die meisten gastronomischen Betriebe mit vornehmlich ausländischer Kundschaft verwaisen. „Wir finden kaum noch Kunden innerhalb der Stadt“, sagt eine junge Frau an der Bar vom „Goodfellas“. Wer es nicht schafft, Zugang zu den abgesperrten Wohnanlagen der gut verdienenden Gastarbeiter zu bekommen, verliert.

Seit einigen Monaten überrollt eine Welle von Entführungen das Nigerdelta. Dutzende ausländische Mitarbeiter von Erdölkonzernen und angegliederten Firmen wurden verschleppt. Darunter auch zwei Deutsche. Der Mitarbeiter von der Baufirma Julius Berger, in Deutschland unter Bilfinger + Berger bekannt, kam nach rund zwei Wochen wieder unversehrt frei. Vergangene Woche begannen nach einer mehrwöchigen Pause die Geiselnahmen im weitverzweigten Nigerdelta wieder, heftiger als je zuvor. Fünfundzwanzig Shell-Mitarbeiter wurden entführt, die bewaffneten Kidnapper töteten in mehreren Scharmützeln mit der Armee vierzehn nigerianische Soldaten. Es folgten die schwersten Kämpfe des Jahres in Nigerias Ölregion. Die Rebellen verkündeten schließlich eine Feuerpause, nachdem sie zuvor gedroht hatten, Nigerias kompletten Ölexport lahmzulegen.

Die Ausländergemeinde in Port Harcourt ist jetzt tief verängstigt. Die meisten Firmen haben ihren ausländischen Mitarbeitern Ausgehverbot erteilt. Es bleibt also nur die Wohnanlage und der Arbeitsplatz. Ganz wenige Firmen erlauben ihren ausländischen Angestellten, den „Expatriates“, noch Fahrten außerhalb der Anlagen und dann nur mit eigenem Chauffeur. Julius Berger hat ihre Expatriates bereits vollständig aus dem Nigerdelta abgezogen. Im alltäglichen Stadtbild von Port Harcourt sind Weiße kaum noch zu sehen.

Warnung vor einer Kulturder Lösegeldzahlungen

Es hat sich ein undurchsichtiger Dunstkreis um das Phänomen der Entführungen gebildet. Entführte kommen in der Regel nach wenigen Tagen wieder frei. Zuerst kommen vollmundige politische Forderungen der Kidnapper. Doch dann einigen sich die Parteien plötzlich gütlich. Die Regierung warnte kürzlich alle Beteiligten vor einer Kultur der Lösegeldzahlung. Wer dabei erwischt werde, mache sich strafbar, sagte ein Regierungssprecher. Aber oft sind es Amtsträger, die die Gespräche zur Freilassung führen. Der Herausgeber der Lokalzeitung The Port Harcourt Telegraph, Ogbonna Nwuke, fragt: „Woher kennen die Verhandlungsführer der Regierung denn überhaupt diese Leute, mit denen sie verhandeln müssen?“

Bislang wurde kein einziger Entführer verurteilt. Das könnte auch darauf hindeuten, dass die Gangster gute Kontakte haben und sogar geschützt werden. Viele Lokalpolitiker im Nigerdelta versuchen, sich mit erfolgreichen Verhandlungen zu profilieren, da sie damit beweisen können, dass sie Einfluss auf die Aufständischen haben. Damit wollen sie sich für das anstehende nigerianische Superwahljahr 2007, wenn Präsident, Parlament und die Regierungen der 36 Bundesstaaten neu gewählt werden, als Friedensbringer empfehlen. Und sicherlich bekommen sie auch eine Provision.

Zwar streiten die nigerianische Zentralregierung und die betroffenen Landesregierungen ab, dass Lösegeld fließt. Aber es kursieren konkrete Preise: Ein entführter Weißer ist zwischen 15 und 20 Millionen Naira wert (9.000 bis 12.000 Euro). Das ist schnell verdientes Geld für meist junge Männer, die in dieser Region kaum Perspektiven haben.

Immer neue Namen von Bekennergruppen machen die Runde. In Port Harcourt herrscht deshalb die Einschätzung vor, dass es sich um Trittbrettfahrer handelt, die die Situation ausnutzen, und nicht um tatsächliche Aktivisten, die in organisierten Rebellenbewegungen für ein unabhängiges Nigerdelta kämpfen. So ist die Gefahr realistisch, dass die Kidnapper Geschmack an dieser Art des Geldverdienens finden – und auch dann nicht mehr davon ablassen, wenn es keine Ausländer mehr gibt. Nigerianer, die für die Konzerne arbeiten, könnten dann das nächste Ziel sein. Oder Wahlhelfer bei den anstehenden Wahlen.

Die Ausländer fristen nun im Nigerdelta ein Leben abgeschirmt von der nigerianischen Realität. Ein paar dieser abgeschirmten Viertel gehören Shell. Alle Ölkonzerne haben eigene, bewachte Wohn- und Arbeitsanlagen für ihre ausländischen und leitenden Mitarbeiter. Der Hauptsitz der nigerianischen Shell-Filiale „Shell Petroleum Development Company of Nigeria“ (SPDC) liegt in der „Shell Industrial Area“ mit eigenem Straßennetz, Tankstellen, Kantinen, Banken, Bürogebäuden, Werkstätten. Shell ist der mit Abstand größte Erdölproduzent im Nigerdelta und ist für die Hälfte der Förderung des Landes verantwortlich.

Mit der Verlegung ihres Hauptsitzes innerhalb Nigerias von Lagos in die „Oil City“ Port Harcourt wollte die Konzernleitung des britisch-niederländischen Multis guten Willen zeigen. Auch führt zum ersten Mal in der Firmengeschichte von Shell ein Einheimischer die Konzernfiliale in Nigeria. Zudem setzt sich der Ölkonzern für die Entwicklung von Gemeinden in den Ölfördergebieten ein. „In keinem anderen Land gibt Shell so viel für Zivilprojekte aus wie in Nigeria. Aber wir können nicht den Staat aus der Verantwortung nehmen“, sagt ein Shell-Sprecher in Port Harcourt. Aber das alles scheint den Trend hin zu mehr Unzufriedenheit und gar Gewalt nicht aufzuhalten. Seit Beginn der Proteste der Bewohner des Nigerdeltas Mitte der 90er-Jahre, damals geleitet vom berühmten und später hingerichteten Schriftsteller Ken Saro-Wiwa, dreht sich die Spirale des Widerstands immer schneller. Seit einigen Jahren bewaffnen sich Rebellengruppen im Nigerdelta, verüben Anschläge, verwickeln Armee und Marine in Kämpfe. Sabotageangriffe auf Pipelines und Pumpstationen haben die gesamte Erdölförderung Nigerias seit Februar um durchschnittlich ein Viertel bis ein Drittel gesenkt – bis zu rund 800.000 Barrel pro Tag, bei einer theoretischen Gesamtförderung von 2,4 Millionen. Am stärksten von den Angriffen und Förderausfällen ist Shell betroffen, mit 500.000 Barrel weniger am Tag. Und so schnell wird sich daran wohl nichts ändern.

Innerhalb der wohlbehüteten Expatriates-Camps aber spürt man wenig von der zunehmenden Anarchie. Die Wartenden im Besucher-Zentrum zur „Shell Industrial Area“ könnten sich in einem Flugzeug wähnen. Im Fernsehen gibt’s ein Video mit Sicherheitsanweisungen. In gleicher Weise wie Flugpassagiere vor dem Start auf Gefahrensituationen vorbereitet werden, geht auch dieser Film vor. „Sollte es zum unwahrscheinlichen Fall einer Schießerei kommen, dann legen Sie sich auf den Boden und meiden Sie den Kugelhagel!“