: Die Angst vor dem Müllmann
Der Münchner Aktionskünstler Wolfram Kastner schneidet seit zwölf Jahren die Schleifen von Gedenkkränzen für SS-Schergen ab – und steht deshalb vor Gericht. Der Staatsanwalt verfolgt ihn aus „öffentlichem Interesse“, der Künstler ist empört. Die verdrängte Nazivergangenheit ist Leitthema seiner Kunst
VON GEORG ETSCHEIT
Die Freiheit der Kunst ist eine feine Sache. Im Prinzip gilt sie auch in Bayern, wenn es die Damen und Herren Künstler nicht gar zu weit treiben. Dann baut die Stoiber-Regierung für sie sogar schöne Museen, wo die Produkte der Kunstfreiheit hängen und stehen, hinter alarmgesicherten Türen, und keinen Schaden mehr anrichten können. Und als „weiche Standortfaktoren“ dem Freistaat zunutze sind.
Wer aber, wie der Münchner Künstler Wolfram Kastner, die Kunstfreiheit vielleicht ein bisschen weiter auslegt und die bürgerliche Sonntagsruhe in Gefahr bringt, muss darauf gefasst sein, Post von der Justiz zu bekommen. Dann wird die Kunstfreiheit zum Fall für die Richter, und bald riecht die Chose verdächtig nach Feuchtwangers „Erfolgs“-Roman, in dem die bayerische Justiz der Zwanzigerjahre gründlich und unerbittlich die Unschädlichmachung des Museumsdirektors Krüger verfolgte, der es gewagt hatte, sein Münchner Bildermuseum mit unmoralischen und umstürzlerischen Kunstwerken zu besudeln.
Es geht, wie gesagt, um den Münchner Aktionskünstler Kastner und seinen Kampf mit der bayerischen und österreichischen Justiz. Ein Kampf, der ihn bis zum höchsten deutschen Gericht nach Karlsruhe geführt hat. Es geht ums Vergessen und Erinnern. Und es geht ums Prinzip: Was ist die Kunstfreiheit in Bayern und Deutschland wert, wenn sie, wie im vorliegenden Fall, mit dem Eigentumsrecht kollidiert? Beide Rechte sind grundgesetzlich geschützt.
Die Sache begann im November 1989 in Salzburg. An einem Novembertag entdeckte Kastner vor dem Kriegerdenkmal auf dem Salzburger Kommunalfriedhof einen prächtigen Kranz mit schwarzen Bändern und der Aufschrift „Unseren gefallenen Kameraden der Waffen-SS“. Der ganze Friedhof sei übersät gewesen mit roten Grablichtern, erinnert sich Kastner. „Und die meisten standen vor dem SS-Kranz. Das war richtig gespenstisch.“ Bei den Salzburgern diagnostizierte der empörte Künstler eine kollektive „SSehstörung“. Niemand nahm Anstoß an dem profaschistischen Ensemble. Fortan beobachtete Kastner jedes Jahr aufs Neue, wie sich die alten Kameraden der Waffen-SS, die in den Nürnberger Prozessen als verbrecherisch eingestuft worden war, begleitet von zackiger Blasmusik, Burschenschaftlern und Abgesandten der FPÖ, vor dem Kriegerdenkmal – Helm ab zum Gebet! – in Positur warfen. Weil sich nach wie vor niemand für das Geschehen zu interessieren schien, schritt Kastner zu einer „ästhetischen Intervention“ und griff zur Schere. Im Jahr 1994 schnitt er die erste Schleife vom Kranz ab und stellte sie in einer Galerie aus.
Kastner sitzt, während er dies erzählt, in seinem kalten Schwabinger Atelier mit dicker Jacke und grauem Hut auf dem Kopf. „Das ist kein Markenzeichen“, sagt der 58-Jährige, der ausweislich eines erstinstanzlichen Urteils des Amtsgerichts München „freischaffender Künstler“ ist und „weder Schulden noch Vermögen“ hat. Der Mann ist kein Beuys, aber in Süddeutschland kein Unbekannter. Immer wieder tritt er irgendjemandem mit seinen aufmüpfigen happenings auf die Füße. Etwa mit seinen Gedenkaktionen zum Jahrestag der Bücherverbrennung auf dem Münchener Königsplatz. Kastner brennt jedes Jahr am 10. Mai mit einem Gasbrenner einen schwarzen Kreis in den gepflegten Rasen des klassizistischen Platzes, der, 1935 mit Granitplatten zugepflastert, den Nazis als Aufmarschgelände diente. Dazu lässt er mehrere Stunden aus verbrannten Büchern lesen. Erst nach endlosem Hin und Her verzichteten die Münchner Behörden darauf, den Künstler zu verpflichten, den Brandfleck nach Ende der Aktion auf eigene Kosten mit Rollrasen zuzudecken. Dieses Jahr darf das Loch auf natürliche Weise zuwachsen. „Zuerst kommt der Löwenzahn, der wächst am schnellsten“, freut sich Kastner. Bald ist die Wunde mit grünem Gras verheilt, bis zum nächsten Jahr, wenn er sie wieder aufreißt.
Die verdrängte Nazivergangenheit ist Leitthema von Kastners Kunst. Jene Kollektivamnesie, die die deutsche respektive österreichische Bevölkerung nach dem Ende der Naziherrschaft ereilt hatte. Er will Vergessenes, Verdrängtes wieder hervorholen und die Menschen damit konfrontieren. „Kunst macht sichtbar“, sagt Kastner, das sei ihre wichtigste Aufgabe.
„Der Aufschrei der Ewiggestrigen nach meinem ersten Scherenschnitt war gewaltig“, berichtet Kastner über seine erste Salzburger Intervention. Der „preußische“ Künstler war tagelang Stadtgespräch. In wütenden Leserbriefen an die örtliche Presse ließen die Einheimischen ihrer Wut freien Lauf. „Ich glaube, eine solche Gemeinheit würde nicht mal dem Teufel einfallen“, echauffierte sich eine Salzburgerin über die Besudelung großdeutscher Soldatenehre. Mit seiner „Unratbeseitigungsaktion“ handelte sich Kastner auch eine Briefbombendrohung ein sowie mehrere Anzeigen: Störung der Totenruhe, der öffentlichen Ordnung, Sachbeschädigung, Diebstahl … Zu einer Verurteilung kam es nie, alle Verfahren wurden wegen Geringfügigkeit eingestellt.
Seit 1994 schnitt Kastner insgesamt sechs Schleifen ab, sandte sie auch mal an den österreichischen Bundespräsidenten. Er ließ eine Klezmer-Band auf dem Friedhof aufspielen, veranstaltete Lesungen und Mahnwachen. Jedes Mal strengte die Staatsanwaltschaft Verfahren gegen ihn an, jedes Mal wurden sie wieder zu den Akten gelegt. Bis zum Jahr 2003. Kastner hatte von seinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch gemacht, woraufhin das Verfahren wegen des Scherenschnittes diesmal nicht ad acta gelegt wurde. Stattdessen landete die Akte bei der Münchner Staatsanwaltschaft. „Die Österreicher kehren gerne alles unter den Teppich“, sagt Jürgen Arnold, Kastners Anwalt. „Die Deutschen wollen es immer genau wissen.“
So kam es, dass sich der Staatsanwalt Hofmann des casus bemächtigte. Auch Martin Hofmann ist in München kein Unbekannter. Er erwirkte ein als skandalös empfundenes Urteil gegen den Antifaschisten und ehemaligen KZ-Häftling Martin Löwenberg, der es 2003 gewagt hatte, zu einer Gegendemonstration gegen Rechtsextreme aufzurufen. Beinahe hätte sich auch Münchens SPD-Oberbürgermeister Christian Ude vor Gericht verantworten müssen – er hatte sich dem Aufruf angeschlossen. Im selben Jahr zerrte Hofmann einen Kriegsgegner vor den Kadi, der gegen die alljährliche Münchner Sicherheitskonferenz protestiert hatte, blitzte allerdings vor Gericht ab.
Im Fall Kastner stellte Hofmann umgehend ein „besonderes öffentliches Interesse“ fest, obwohl die Tat im Ausland begangen worden war. Er wollte dem gefährlichen Gesinnungs- und Wiederholungstäter hinter der Maske des Künstlers einen Denkzettel verpassen. Am 20. Juni 2005 kam es vor dem Münchner Amtsgericht zur Hauptverhandlung, in deren Verlauf die Richterin Römer Sympathie für Kastners Aktion zeigte und von einer Bestrafung absah. Sie verwarnte den Künstler lediglich wegen Sachbeschädigung und setzte eine Geldstrafe von fünf Tagessätzen zu 20 Euro fest. Verteidiger Arnold sagt, die Richterin habe zweimal versucht, den forschen Staatsanwalt dazu zu bewegen, das Verfahren wegen Geringfügigkeit einzustellen. Vergeblich. In der Urteilsbegründung konstatiert sie, dass die Kunstfreiheit nicht schrankenlos zu gewähren sei und „ihre Schranken in anderen Rechtsgütern, hier dem Eigentumsrecht anderer“ finde. Gleichwohl zollt sie Kastners Motiv Respekt, der „durch sein Handeln zum Nachdenken über den heutigen Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus anregen will“. Dieser Beweggrund sei „sowohl nachvollziehbar wie auch ehrenwert“.
Gegen den Spruch der Amtsrichterin legte Kastners Anwalt Arnold Sprungrevision zum Oberlandesgericht München ein, das das Urteil jetzt bestätigte. Nach Überzeugung von Bayerns obersten Strafrichtern steht das Eigentumsrecht „prinzipiell nicht hinter der Freiheit der Kunst zurück“. Gesetze, die eine Eigentumsbeschädigung mit Strafe bedrohten, verstießen nicht gegen den Sinn der Kunstfreiheit, „zumal sich Kunst regelmäßig auch ohne Beschädigung fremden Eigentums entfalten kann“.
In seiner Reaktion auf dieses Urteil lässt Kastner seiner Empörung freien Lauf. „Ein typisch deutsches Urteil von furchtbaren deutschen Juristen“, wettert er in einer Pressemitteilung. „Diesen Richtern liegt die ‚Freiheit‘ der Waffen-SS-Veteranen, ihre Verbrechen zu verharmlosen und in ehrenwerte Taten umzudeuten, scheinbar mehr am Herzen als alles andere.“ Arnold hält das Urteil für verheerend. „Die Beseitigung einer öffentlichen Beifallskundgebung für eine terroristische Vereinigung ist strafbar, die Beifallskundgebung selbst jedoch nicht.“ Im Auftrag Kastners legte er jetzt gegen diesen Spruch Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Unter den Unterstützern der Beschwerde ist neben der Brecht-Tochter Hanne Hiob auch die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek, die gewohnt wortmächtig schreibt: „Es ist ein selbstverständlicher Akt der Zivilcourage, der jedem abverlangt werden müsste, jedes SS-Sinnbild oder -abzeichen sofort zu ‚versehren‘. Das Versehren von Menschen war das Ziel der Nazis und dafür muss sofort zurückversehrt werden. […] Ein Akt der Hygiene gewissermaßen, wie Waschen und Zähneputzen. […] Und wenn man dafür verklagt wird, dann verlange ich, dass ich unverzüglich mit angeklagt werde.“
Kastner will sich auch dieses Jahr nicht davon abhalten lassen, den braunen Müll in Salzburg auf seine Art zu entsorgen – selbst wenn die Verfassungsrichter seine Beschwerde verwerfen. Ein Wiederholungstäter eben – ganz im Sinne der Münchner Staatsanwaltschaft.