: Fucking Identity
Der Blick auf Deutschland steht am Anfang und Ende der Migrationsgeschichten des deutschen Kinos: Wie aus der dissidenten Geschichte der Fremdheit das tröstende Märchen von der Identität wird
VON MARKUS METZ UND GEORG SEEßLEN
Angefangen hat es natürlich mit Fassbinder. „Katzelmacher“ war nicht nur ein neuer deutscher Film mit Betonung auf neu und deutsch. Es war auch ein Film über ein unmögliches Thema, damals, im Jahr 1969. Über „Gastarbeiter“, die nicht nur arbeiten und zurückwollten. Sondern Menschen waren, die Fassbinder wie immer am Leitfaden einer Suche nach dem Glück sah. Wohlgemerkt: die Suche. Später, in „Angst essen Seele auf“ (1974), kamen seine Protagonisten dem Glück in der Fremde näher, aber der Film hatte sich schon weiter von ihnen entfernt. Es ging darum, Deutschland durch die Augen der Fremdheit zu sehen. Als unbewohnbares Land.
In „Katzelmacher“ sah man zum ersten Mal den Hinterhof als Lebensraum. Den Hinterhof, in dem sich bald darauf, als aus den Arbeitssklaven auf Zeit Einwandererfamilien wurden (die man so nicht nannte), eine neue Art von Leben zeigte. Öffentlich, sichtbar und doch sonderbar und unleserlich: ausländische Deutsche, deutsche Ausländer. Code inconnu. Aus Blicken wurden Geschichten, Dramen und Grotesken zwischen den Kulturen. Wer sollte sie erzählen?
Im neuen deutschen Film sollte alles vorkommen, was wirklich war und was den Mythen der Kontinuität widersprach. Rainer Werner Fassbinder spielte in „Katzelmacher“ selbst die Rolle des unglücklichen Gastarbeiters, und das war so etwas wie ein Programm: Der Blick des deutschen Außenseiters und der Blick des Ausländers in Deutschland (West) verschmolzen so sehr wie der Blick des Regisseurs und das Bild des Subjekts seiner écriture. Das konnte, nach diesem Beginn, nicht weiter funktionieren.
Migrationsbilder im deutschen Kino der Siebzigerjahre sind zwischen Solidarität, Ideologie und Entfremdung auf der Suche nach einer Formulierung der Widersprüche zwischen Kultur, Klasse, Geschlecht und Generationen. Sie meinen es weder mit ihren Protagonisten noch mit ihrer Umwelt gut. „Aus der Ferne sehe ich dieses Land“ (Christian Ziewers Film über eine chilenische Familie im deutschen Exil, 1978) zeigt die Grenzen der gegenseitigen Wahrnehmung. „Shirins Hochzeit“ (Helma Sanders, 1975) oder „Die Kümmeltürkin geht“ (Jeanine Meerapfel, 1985) beschreiben das doppelte Elend der Frauen. Dokumentarische Arbeiten interessierten sich für die Ausbeutung der Arbeiter oder für bizarre künstliche Identitäten. Es ist der Code der Fremdheit, nicht der Vermischung, der dieses Kino bestimmt. So wenig die Utopie der „Integration“ zu erfüllen ist, so wenig lässt sich der Traum von einer Heimkehr erfüllen. Die einzige Chance ist es tatsächlich, Teil einer „Kultur der Métissage“ zu werden. Schon in ihrer Form greifen die Filme die Ahnung auf, dass diese Kultur nicht eine der „Identität“ als vielmehr eine des Dialogs sein wird.
Daneben entstanden auch verzweifelte Exilfilme, von Sohrab Shahid Saless’ „In der Fremde“ (1974), von Tevfik Baser „40 Quadratmeter Deutschland“ (1985) und in gewisser Weise auch Yilmaz Arslans „Langer Gang“: Die Fremdheit ist auf die Spitze getrieben, der Blick bricht sich ganz buchstäblich an alten und an neuen Grenzen, an Mauern, die beide Seiten, die deutsche Gesellschaft und die Migranten, ziehen. Die Filme schilderten Situationen der radikalen Isolation, weniger Geschichten der Migration als existenzielle Bilder des inneren und des äußeren Exils. Es war, als hätte die Kälte aus „Katzelmacher“ sich über Menschen gelegt, die eine Suche nach dem Glück kaum beginnen können. Es ging ums Überleben.
Aber schließlich wurden auch die Kids in den Hinterhöfen erwachsen. In den späten Achtzigerjahren begann ein Kino der dritten Generation; vor allem aus den Familien mit türkischem Hintergrund kamen viele junge Filmemacher, Autoren, Regisseure, Schauspieler, die ihre eigenen Geschichten, die ihrer Freunde und die ihrer Familien zu erzählen hatten. So unterschiedlich die Geschichten, so unterschiedlich waren auch die Stile: Der vitale Milieurealismus von Fatih Akin, die präzise, distanzierte Analyse von Thomas Arslan, die mitfühlende Beobachtung von Ayse Pollat, nur zum Beispiel. Aus der biografischen Geste entstand ein neuer Realismus im deutschen Film: Es gelang den Filmemachern der dritten Migrantengeneration, den dissidenten Blick mit einer Kunst des Geschichtenerzählens zu verknüpfen. Das rettete gleichsam, für eine Zeit, den deutschen Film vor dem endgültigen Auseinanderbrechen in Filme, die nicht mehr dissident sein konnten, und Filme, die nicht mehr erzählen konnten.
Vergleichbar dem „cinéma beure“ in Frankreich entstand auch in Deutschland ein Kino der Métissage, das von der ökonomischen und politischen Flucht und den bürokratische Schikanen erzählte, Bilder für die Erfahrung der Begegnungen und die internen Konflikte fand und zwischen den Kulturen einen neuen Lebensbereich beschrieb. Das deutsche Kino der Métissage war so weit vom „neuen Heimatfilm“ entfernt wie vom Kino der Fremdheit. Es handelte von Menschen, die in der radikalen Fremdheit nicht verharren konnten, denen der Rückweg nicht einmal als Traum blieb, Menschen, die leben müssen, hier und jetzt. Der Blick war kritisch, ganz gewiss, aber er war auch zärtlich. Deutschland sah aus wie das, was der deutsche Mainstream noch nicht oder schon gar nicht mehr sah, aber es sah ebenfalls aus wie ein Ort, an dem wirkliche Menschen leben: Der migrantische und postmigrantische Blick „entdeckte“ in den Neunzigerjahren Deutschland. Willkommen in der Wirklichkeit.
In den Filmen von Thomas Arslan zeigt sich, dass die Spannung immer größer wird zwischen verschiedenen Optionen: sei es die vollständige Integration ins Bürgertum des deutschen Mainstreams, sei es das Leben in einer neuen Ghettokultur, die zum neuen Gefängnis werden mag, oder in einer migrantischen Gegen- und Nischenkultur. Es gibt Lebensentwürfe, in denen man die drei Möglichkeiten gleichzeitig oder hintereinander ausleben kann. Das Kino der dritten Generation, wie kritisch und selbstkritisch es auch im Einzelnen auch sein mochte, war Teil einer Hoffnung: Die Migrationsgeschichte würde Teil unserer mehr oder weniger gemeinsamen Geschichte. In allen ihren Brüchen.
Zur gleichen Zeit schrieben sich Migrationsgeschichte und Ghettoleben auch in den Mainstream ein. Die Soap Operas hatten ihre migrantischen Rollenmodelle. Die türkischen Comedy-Stars spotteten ausgewogen über deutsche und über türkische Klischees. Die Hinterhöfe waren kein Niemandsland mehr; die Codes durchdrangen einander. Erkan & Stefan wurden zu Prollhelden, in deren Erscheinung der Migrationshintergrund nur noch als fernes Echo spielte. Postmigrantische Biografien wirkten sich als Beschleuniger von Karrieren in der New Economy aus.
Während sich für die integrierten Bürger die Migrationsgeschichte tatsächlich zur Legende formte, löste sie sich im Ghetto auf. In einem Leben, das nicht so sehr multikulturell als vielmehr „polymigrantisch“ wurde. Die Menschen der vierten Generation konnten sich durch ihre Migrationsgeschichte nicht mehr verbinden, es sei denn in einer Kultur, die ein wenig der neuen Volkstümlichkeit im deutschen Mainstream glich. Als könnte man zwischen den Gewinnern und den Verlierern, zwischen Integrierten und Draußengebliebenen durch eine Form von Migrationstümlichkeit vermitteln. Und noch einmal kehrte sich die Bewegung um: Ein postmigrantischer Film wie „Gegen die Wand“ begab sich auf die Suche nach den Wurzeln. Reisefilme auf den Spuren der Migrationsgeschichten sind merkwürdigerweise auch sehr deutsch. Mit dem internationalen Erfolg von Fatih Akins „Gegen die Wand“ (und nicht unerheblich mit dem „Skandal“ um die Hauptdarstellerin Sibel Kekili, die vordem in einem Pornofilm gewirkt hat, was zu einer sehr bedenkenswerten Form der symbolischen Sexualpolitik führte) schien das deutsche Kino der Métissage in den Mainstream gelangt zu sein. Es ist „unser“ Filmpreis, „unser“ Film, „unsere“ Geschichte. Oder?
Andererseits scheint das Kino der dritten Generation auch an ein Ende gelangt. Vielleicht sind alle Migrationsgeschichten erzählt, vielleicht aber hat der Blick eine Genauigkeit auf das Subjekt angenommen, die bereits die Möglichkeiten der Kinofabel überfordert. Überdies ist in der polymigrantischen Gesellschaft des Neoliberalismus die Geschichte der Migration nicht mehr in einer linearen Dramaturgie zu erzählen, so wenig es einen Blick der Entdeckung aus dem Fremden heraus noch geben könnte: Wir und sie, Mainstream und Migration, dieser Code und jener Code, das funktioniert nur noch in einem unlösbaren Geknäuel. Was immer man ansieht, befragt, möglicherweise sogar anklagt, es antwortet auf die immer gleiche Weise: Tut mir Leid, ich bin hier selber fremd.
Die ursprüngliche Geschichte der Fremdheit wird unter den Bedingungen der sozialen Verschärfung zu ihrem eigenen Gegenteil, nämlich zum tröstenden Märchen der Identität. Wir wollen den Hinterhof haben. Dort spürte man Unsicherheit, Gewalt, Trauer. Aber auch familiäre Wärme, zärtliche Zeichen, code connu. In der arbeitslosen Gesellschaft des Neoliberalismus, in der „Mainstream“ und „Normalität“ keine Garantien mehr für soziale Sicherheit sind, sehnt man sich aus dem Mainstream heraus nach der Nestwärme des migrantischen Hinterhofs. Und die Geschichte der Fremdheit wurde zur Erzählung der Identität. Ein Genre, dessen emotionaler Ökonomie man nicht mehr unbedingt trauen kann.
Kein Zufall vermutlich, dass es in den letzten Jahren wieder Filmemacher ohne migrantischen Hintergrund sind, die sich mit dem Motiv befassen: Die Migrationsgeschichten sind frei verfügbar in der Popkultur der „Du bist Deutschland“-Kultur. Filme wie zum Beispiel Rolf Schübels „Zeit der Wünsche“ aus dem Jahr 2004 funktionieren nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Detailauthentizität viel eher als Migrationsmärchen denn als wirkliche Zeitbilder. Sie kehren zu einem Erzählen zurück, das man mit etwas gutem Willen als Identitätsüberfüllung ansehen kann, mit weniger gutem Willen freilich als einen medialen Sieg der Identifikation über die Identität, wenn auch aus einem mehr oder weniger guten Willen heraus.
Einem genaueren kritischen Blick offenbart sich in Produktionen wie dieser viel weniger von migrantischer Lebenswirklichkeit als von sehr, sehr deutschen Träumen.
Am Montag, den 9. Januar, halten Georg Seeßlen und Markus Metz einen Filmvortrag „Ghettomovie oder Neues Genre“. HAU 2, Theater am Halleschen Ufer, in Berlin im Rahmen des Festivals „Beyond Belonging. Migration[2]“