: Lesen in Reinbek
Der Rowohlt Verlag cancelt kurz vor Drucklegung die Veröffentlichung von Thor Kunkels neuem Roman „Endstufe“
Es hätte alles so schön für die Buchbranche werden können. Das Jahr 2003 überstanden, mit Blessuren zwar: zweifelhaften Gerichtsurteilen, Promibüchern als Großtrends, mehr roten als schwarzen Nullen. Aber immerhin. Dazu ein frisches Frühjahrsprogramm, das mal wieder einen Neuanfang versprach. Und nun das: Erst das Buch einer vermeintlichen israelischen Agentin, das der Verlag zurückzog, nachdem Zweifel an der Authentizität aufgekommen waren; dann ein eher spekulativ angelegtes Buch über den Amoklauf von Erfurt, das für Irritationen besonders in Erfurt sorgte; dann das „Manieren“-Buch des Äthiopiers Asfa-Wossen Asserate, von dem es inzwischen unverhohlen heißt, es stamme von dem deutschen Autor Martin Mosebach; und schließlich, brandaktuell und recht mysteriös, Thor Kunkels neuer Roman, „Endstufe“, der vom Rowohlt Verlag kurz vor Drucklegung gecancelt wurde.
„In der letzten Phase der Lektoratsarbeit“, heißt es in einer Pressemitteilung des Verlags, habe man „in einigen inhaltlichen und ästhetischen Fragen keine Einigung erzielen können und beschlossen, das Vertragsverhältnis aufzulösen“. Ein Buch, das vom Verlag angekündigt wurde als „packendes, minutiös recherchiertes Porträt der morbiden Nazi-Gesellschaft“ und als Aufhänger mehrere tatsächlich von den Nazis gedrehte Pornos hat, die „Sachsenwald-Filme“ – das klingt natürlich brisant, das rockt. Aber ein „Skandalbuch“, das nun einen „Skandal“ auslöst, weil es nicht erscheint? Das darf bezweifelt werden. Dass sich Verlage und Autoren nicht einig sind und Bücher nicht erscheinen, gehört zum Geschäft, und auch, dass diese Bücher schon in Verlagsvorschauen auftauchen. Dazu kommt, dass Kunkels Roman kein „Spitzentitel“ war, keine „Werbeschwerpunkte“ hatte und im Rowohlt-Programm eher unauffällig zwischen den Romanen des Niederländers Tomas Lieske und der Dominikanerin Loida Maritza Pérez platziert war.
Über die Gründe des Zerwürfnisses schweigt man sich aus: Rowohlt-Chef Alexander Fest ist vorsichtig geworden, sein Verlag hat auch das Buch der israelischen „Spionin“ und das über Erfurt zu verantworten. Kunkel schweigt ebenfalls, zumindest das Romanmanuskript gab er der FAS zum Lesen. So kann man nur spekulieren. Darüber, dass Lektorat und Autor sehr aneinander geraten sein müssen; dass man bei Rowohlt plötzlich Muffensausen bekam angesichts des die Öffentlichkeit reflexartig elektrisierenden (Nazis! Pornos!) und von Kunkel alles andere als politisch korrekt aufbereiteten Materials; dass das Buch gar schlecht geschrieben ist und das Thema den Autor und seine literarischen Mittel überfordert hat; dass der Verlag das Manuskript, das angeblich seit einem halben Jahr vorliegt, nicht sorgfältig geprüft hat; und so weiter. Mögliche Aufklärung mag es in den nächsten Tagen geben. Der Buchbranche aber hilft das nicht. Denn gegen solche „Skandale“ haben selbst die gelungensten Bücher einen schweren Stand.
GERRIT BARTELS
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen