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Archiv-Artikel

Intifada in der Banlieue

Die „Beurs“ projizieren in die französische Gesellschaft Feindbilder aus dem Nahen Osten

AUS PARIS RUDOLF BALMER

Der elfjährige Benjamin wollte seinen Eltern zuerst nicht sagen, was ihm widerfahren war. Doch die Quetschungen und blauen Flecken sprachen für sich. Zwei seiner Mitschüler hatten ihn zuerst drangsalisiert und dann brutal geschlagen. Und sie beschimpften ihren Klassenkameraden, weil er Jude ist. Hitler habe sein Werk nicht vollendet, musste er sich unter anderem anhören. Die jungen Täter stammen beide aus anscheinend gut integrierten nordafrikanischen Familien und wiederholten offenbar nur, was sie zu Hause und unter Freunden oft gehört hatten. Sie verstehen nicht, was daran besonders schlimm sein soll … Der Vorfall ereignete sich nicht in einem vorwiegend von Einwanderern aus dem Maghreb bewohnten Vorstadtquartier, sondern am renommiertem Pariser Collège Montaigne, gleich neben dem Jardin du Luxembourg. Die um ihren Ruf besorgten Schulbehörden wollten – wie meistens in solchen Fällen – alles vertuschen und verharmlosen, obwohl die beiden Angreifer schließlich alles gestanden hatten. Der Rektor versetzte das Opfer in eine andere Klasse, verzichtete aber vorerst auf disziplinarische Schritte und übergab die Angelegenheit der Justiz. Er versäumte damit den Anlass, in seiner Schule über die neuen Formen des Antisemitismus zu reden.

Als im Mai 1990 jugendliche Rechtsextremisten den jüdischen Friedhof von Carpentras schändeten, reagierte Frankreich mit Entsetzen. Der damalige Präsident François Mitterrand marschierte an der Spitze einer nationalen Demonstration in Paris. Auch Jean-Marie Le Pens geschmacklose antijüdische Anspielungen, die er aus dem „traditionellen“ antisemitischen Fundus der faschistischen Rechten in Frankreich schöpfte, stießen auf einhellige Ablehnung. Im Kontext wachsender rassistischer und fremdenfeindlicher Ressentiments blieben solche Manifestationen antisemitischer Rassenideologie aber eher marginal. Als dann im Oktober 2000 in Trappes im Südwesten von Paris unbekannte Täter eine Synagoge niederbrannten – zum ersten Mal seit den finsteren Jahren des Vichy-Regimes, das den Nazis 1940–44 bei der Judenverfolgung in Frankreich tatkräftig half –, wollte man noch an eine sehr bedauerliche Ausnahme glauben. Doch die Serie der „Einzelfälle“ riss bis heute nicht ab.

Von Jahr zu Jahr werden die Statistiken des Innenministeriums und der Konsultativen Nationalen Menschenrechtskommission (CNCDH) über rassistische Gewaltakte und Aggressionen alarmierender. In ihrem Bericht zum Jahr 2002 konstatierte die CNCDH im März eine „Explosion der antijüdischen Gewalttaten“; diese hatten sich im Vergleich zum Vorjahr versechsfacht (siehe Kasten). Von den 313 registrierten rassistischen Angriffe auf Personen und Einrichtungen hatten 193 (62 Prozent) einen antisemitischen Charakter. Auch bei den gemeldeten Bedrohungen und Beschimpfungen waren 74 Prozent gegen Juden gerichtet. Und über die Dunkelziffern kann man – ähnlich wie bei offiziell registrierten rassistischen Gewaltakten und Diskriminierungen gegen Araber, Afrikaner, Asiaten oder nicht europäisch aussehende Franzosen – nur spekulieren: Wie viele andere Opfer rassistischer Diskriminierungen und Angriffe auch, ziehen es manche Juden vor zu schweigen, um sich nicht noch zusätzlich zu exponieren.

In den Vorstadtvierteln der Banlieue ist die antisemitische Beleidigung „sale juif“ (oder „sale feuj“ im Jargon) – „Dreckiger Jude“ – so banal geworden wie irgendein anderes Schimpfwort. Allen Ernstes erzählte in diesen Tagen im Fernsehen ein 15-Jähriger, dass er mit seiner Bande in den Vorortzügen mit Vorliebe jüdische Passagiere beraube, die „schwach“ seien und damit in seinen Augen anscheinend als Opfer prädestiniert. Unmerklich entstand ein Klima der Angst: Schülern wird geraten, ihre Kippa durch eine weniger auffällige Baseballkappe zu ersetzen, und den Mädchen wird empfohlen, den Davidstern als Halskettenanhänger auf der Straße zu verbergen. Denn wegen solcher sichtbaren Symbole wurden in Frankreich mehrfach schon Menschen belästigt oder verprügelt. Bei den Tätern handelt es sich fast immer um junge Beurs, in Frankreich geborene Kinder nordafrikanischer Einwanderer.

Die Medien und auch die Politiker hatten bisher, im Namen der Nichtdiskriminierung, solche ethnischen oder religiösen Angaben zu Herkunft oder Zugehörigkeit tunlichst verschwiegen. Ungewollt haben sie dazu beigetragen, dass man die Augen verschloss vor einer Entwicklung mit unheilvollen Folgen. Viele wollten lange nicht wahrhaben, dass ausgerechnet die arabische und afrikanische Bevölkerung, die selber Opfer rassistischer Gewalt und Benachteiligung sind, den Nährboden eines neuen Antisemitismus bilden.

In Banlieue-Siedlungen wie Sarcelles, wo seit langen Jahren die aus dem Maghreb geflüchteten (jüdischen) Sephardim problemlos mit ihren muslimischen „Cousins“ zusammen- oder nebeneinander lebten, herrscht nun eine Art „Kalter Krieg“, der gelegentlich mit Zusammenstößen aufflammt. Der Yahoud (Jude auf arabisch) ist dabei der Erbfeind der Beurs, die ihre Feindbilder direkt aus dem Nahen Osten in die französische Gesellschaft projizieren.

„Dreckiger Jude“ ist in Vorstadtvierteln ein ganz normales Schimpfwort

Ihre „Intifada“ besteht jedoch in feigen Angriffen auf zumeist wehrlose jüdische Nachbarn und Ladenbesitzer, sofern diese nicht bereits weggezogen sind. Ihre Wut auf die Regierung Scharon richtet sich gegen Franzosen, die zwar häufig mit dem Staat Israel solidarisch, aber keineswegs für diesen verantwortlich sind. Das demografische Gewicht macht aus dem vermeintlichen Ersatzkrieg eine reelle Bedrohung für die Gesellschaft: In Frankreich leben rund 3,5 Millionen Muslime und knapp 700.000 Juden.

Der Nahostkonflikt hat „unsichtbare Mauern“ (Nouvel Observateur) entstehen lassen. Rar sind Persönlichkeiten wie Leila Shahid, die PLO-Vertreterin in Frankreich, die in die Banlieue-Viertel geht, um den jugendlichen Intifada-Sympathisanten ins Gewissen zu reden und ihnen zu sagen, dass sie nicht das Recht haben, sich aus Solidarität mit den Palästinensern an jüdischen Mitbürgern zu vergreifen. Dem französischen Islam mangelt es an spirituellen Autoritäten, die einen mäßigenden Einfluss ausüben können oder wollen. Auch der sonst als progressiv geltende Mufti von Marseille, Soheib Bencheikh, verurteilt die antijüdische Gewalt nur, indem er sogleich verlangt, man müsse gleichzeitig auch die Aktionen jüdischer Extremisten in Frankreich und die Grausamkeit Israels anprangern. Er weiß, dass er sich mit einer allzu toleranten und differenzierten Haltung von den radikaleren Glaubensbrüdern isolieren würde.

Am 15. November zerstörte ein Brand die jüdische Schule von Gagny nördlich von Paris. Dieses Mal reagierte Präsident Chirac sofort. Er empfing die höchsten Würdenträger der jüdischen Gemeinschaft in Frankreich und erklärte: „Wer einen Juden angreift, vergreift sich an ganz Frankreich. Seit Jahrhunderten sind die Juden in Frankreich zu Hause. Der Antisemitismus steht im völligen Widerspruch zu allen Grundwerten Frankreichs. Ich zähle auf die Wachsamkeit aller, um sich ihm zu widersetzen.“ Die Regierung schuf auf Chiracs Geheiß einen interministeriellen Ausschuss zur Bekämpfung des Rassismus und Antisemitismus, der eine Aufklärungsschrift für Schüler ausarbeiten und außerdem die Medien beobachten soll. Im staatlichen TV-Sender France-3 trat vor einigen Tagen der Komiker Dieudonné auf und überrumpelte den perplexen Moderator mit Hitlergruß und „Heil Israel!“. Wer soll das lustig finden?