: Endlich mehr rauchen!
Ein Lob des Nikotins nebst einer Widerlegung der grassierenden Antiraucherpropaganda – neun Gründe, sich eine anzustecken
von DETLEF KUHLBRODT
„Siehst du die Gräber dort unten im Tal / das sind die Raucher von Reval / siehst du die Gräber an den anderen Orten / das sind die Raucher von den anderen Sorten.“
1 „Rauchen lässt sich nicht entbehren, wenn man nichts zum Küssen hat“, schrieb Sigmund Freud 1885 in einem Brief an seine Verlobte Martha Bernays. Die Onanie galt dem ununterbrochen rauchenden Vater der Psychoanalyse als Urbild der Sucht, das Rauchen hinwieder als Masturbationsersatz. Mit der Bauernregel „3.000 Schuss und dann Schluss“ wurden früher Jungs dazu gebracht, ängstlich die Akte der Selbstbeschmutzung zu zählen. Einer anderen Regel zufolge werden einem pro Zigarette zehn Minuten Lebenszeit abgezogen.
Nachgerechnet, wirkt das ganz okay. Mittlerweile sind etwa 146.000 Zigaretten ins Land gegangen. Das müsste auf etwa 24.333 Stunden und 20 Minuten bzw. etwa 1.014 Tage LebenszeitStrafabzug hinauslaufen und hat etwa 10.000 Euro gekostet. Vermutlich werden’s noch einmal so viel, bloß teurer. Das wird eventuell zu einer Lebensverkürzung von etwa sechs Jahren führen.
Andere Faktoren spielen aber auch eine Rolle. Die Lebenserwartung im obersten Einkommensviertel ist zum Beispiel um zehn Jahre höher als im untersten. Negatives Denken kostet auch noch ein paar Jahre, die man wieder reinholt über Sport. Komisch eigentlich, dass es noch kein Computerspiel gibt, mit dem man den Wettbewerb ums längere Leben simulieren könnte. Als säkulare Zielvorgabe hat das lange Leben längst das gute Leben überholt. Es sollte jedenfalls noch einmal gesagt werden, dass die Einteilung der Menschen in Männer und Frauen sowie die individualisierte Klassengesellschaft härtere Killerdrogen sind als Nikotin. Von Umweltgiften, Tabletten, Alkohol, Lärm, Stress, Workaholism gar nicht zu reden. Die Ärztin meinte eh, es sei alles okay.
„Die Postbotin steckt sich im Gehen mit lässiger Bewegung eine Zigarette ins Gesicht, schwungvoll schiebt sie ihren Wagen vor sich her und raucht.
Gestern genauso: selbe Stelle, gleiche Zeit; kleines Ritual des Arbeitstags.“ (Rainald Goetz; „Das Jahrzehnt der schönen Frauen“)
2 „Wer küsst schon gerne Aschenbecher?“, hieß es früher in der Antiraucherpropaganda, und man dachte natürlich sofort, wie doof es sein müsste, Nichtraucher zu küssen. Nicht alle Nichtraucher sind Streber, aber alle Streber sind Nichtraucher, und Sex ohne Rauchen ist sowieso ein völliges Unding. Die Gegenpropaganda behauptet: „Smoking affects the size of your penis“ und dass Nichtraucher mehr Spaß am Sex hätten.
„Spaß“ – wenn ich das schon höre; außerdem ist es ichsüchtig, wahnhaft und doof, sich ohne besonderen Grund um den eigenen Körper zu sorgen. Als er noch klein war, stürmte mein kleiner Bruder zum Beispiel oft ins Zimmer, wenn wir rauchend da herumhingen. Er rief empört „Selbstmörder, Selbstmörder!“. In den USA hat man es trotz aller raucherdiskriminierenden Strebergesetze nicht geschafft, die Raucherquote unter 30 Prozent zu drücken. Inzwischen gilt dort auch nicht mehr die Nikotinsucht, sondern die Fettleibigkeit mit Millionen Toten als Gesundheitsfeind Nummer eins.
Besonders das so genannte Passivrauchen gilt aber immer noch als Malum. Der Rauch, der so gedankenverloren von der Glut nach oben steigt, sei noch giftiger als der, den Filterzigarettenraucher durch den Filter saugen, heißt es. Ohne Filter ist eh besser, und am meisten über das Passivrauchen empören sich, so mein Eindruck, NichtraucherInnen aus der Mittel- und Oberschicht, die in naturnahen Gegenden Süddeutschlands wohnen, oder halt Renegaten, die gerade mit dem Rauchen aufgehört haben.
Das schlechte Gewissen der Raucher ist ohnehin ein Kapitel für sich. Unter den 62 Prozent der Bevölkerung, die die zunächst angepeilte und dann wieder halb zurückgenommene krasse Erhöhung der Tabaksteuer guthießen, werden viele Raucher gewesen sein, die sich schämen, dass sie rauchen. Es ist ja oft ein Trauerspiel des schlechten Gewissens, rauchende Bekannte mit Familie zu besuchen. Der Rauchplatz vor der Haustür oder auf dem Balkon ist immer furchtbar ungemütlich und der Aschenbecher oft nur ein versifftes Ding aus Ton, halbvoll mit regenwasserdurchweichten Kippen. So als würden sie sowieso übermorgen damit aufhören. Was sie nicht tun. Und dafür müssen sie sich bestrafen.
3 Unter Rauchern ist es interessanter als unter Nichtrauchern. Das ist immer so. In der Schule, an der Uni, in der Fortbildungsmaßnahme, auf Kongressen oder wenn man in einer Gruppe wegfährt; immer ist es netter dort, wo geraucht wird. Das liegt daran, dass die Rauchergruppe meist kleiner ist als die Nichtrauchergruppe, und außerdem liegt es am Kommunikativen. Zigaretten anzubieten, nach Feuer zu fragen und diese Dinge sind ja ganz entscheidend. Sich gegenseitig Kaugummi anzubieten mag ganz schön sein, wenn alle gerade auf Chemiedrogen sind, aber normalerweise, also wirklich: „Lass uns mal zusammen ein Kaugummi kauen!“
Als niedrigschwellige, zu nichts verpflichtende Gabe ist die Zigarette unübertroffen. Man fragt einen anderen nach einer Zigarette oder gibt eine, guckt sich kurz an, steht für einen Moment wortlos nebeneinander und entfernt sich dann wieder. Das ist schön. Während andere Gaben immer etwas plump wirken – weil es länger dauert, sie zu verzehren und weil sie teurer, also auch verpflichtender sind; wenn jemand einem anderen beispielsweise ein Getränk kauft. Prima in bestimmten Situationen. In anderen nicht. Aber eine Zigarette, das geht immer.
Nichtraucher nerven. Nicht, dass man nun unbedingt hätte rauchen müssen, aber diese hysterisch leicht zu hohen Stimmen, mit denen meist Frauen an der Uni einen rauchfreien Seminarraum einklagten; das klang immer ganz fürchterlich. War gewöhnlich auch das Einzige, was die während ihrer ganzen Unizeit sagten. Das war ihr Bildungsprojekt.
Es gibt aber auch Nichtraucher, die es schön finden, wenn in ihrer Gegenwart geraucht wird. Vergessen sollte man auch nicht, dass eigentlich fast alle ernst zu nehmenden Intellektuellen der letzten hundert Jahre ständig geraucht haben. Bei den Vorlesungen des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan wurde zum Beispiel so viel geraucht, dass er sie schließlich einstellen musste.
4 Am besten schmecken die Zigaretten in der Nacht oder in Ländern mit ernst gemeinten Cafés, also Wien, Italien, Frankreich oder auch vor ein paar Jahren im Air-France-Flugzeug nach Bangkok. Zwei Stunden nach dem Start öffnete die „Smokers Corner“ ihre Türen – im Gang neben der Bordküche hingen dann zwei blaue Vorhänge, zwischen denen jeweils elf Personen auf einmal rauchen durften. Als Erste begann eine feingliedrige ältere Dame aus Dänemark mit einem Anflug leichter Nervosität, sehr elegant und weltgewandt zu rauchen. Das Flugpersonal rauchte gerne mit bis zum Morgen. Alle sahen gut aus, und rauchend hielten Franzosen sarkastische und feindselige Reden gegen den Kulturimperialismus der Amerikaner, die der ganzen Welt ihre Nichtraucherhysterie aufzwingen wollen.
Ich weiß nicht, ob wir über China flogen. Bis vor kurzem ging man in China jedenfalls davon aus, dass Rauchen nur den dekadenten Westlern schadet.
In Thailand war es sehr erfreulich, mit buddhistischen Mönchen Zigaretten zu rauchen. Die meisten buddhistischen Mönche rauchen. Man sitzt und raucht und lächelt höflich zuweilen. Manchmal kann eine Zigarette viel mehr sagen als tausend Wörter. Gern denke ich auch an Herrn Buchholz. Herr Buchholz war spastisch gelähmt, hatte MS, konnte kaum noch sprechen, vor allem aber war er ein sanfter, freundlicher Mann, der gerne rauchte. Aber allein ging das ja nicht mehr. So saßen wir oft in der Sonne und rauchten; ich führte die Zigarette an seine Lippen, in der anderen Hand hatte ich meine Zigarette; der Rauch verband uns miteinander; was soll so schlimm daran gewesen sein?
5 Obgleich oder weil die meisten Gewaltverbrechen und Verkehrsunfälle auf Alk verübt werden und die Todesursachenrate unter Alkoholikern auch nicht schlecht ist (40.000), meckert kaum jemand, und die Preise für Alk sind seit 20 Jahren stabil. Interessant auch, dass mittlerweile eher Zigaretten als illegalisierte Drogen angefeindet werden und dass es seit einigen Jahren unter Kiffern einen Trend zur Entkoppelung von Tabak und Haschgift gibt.
Der Anteil der Hascher, die nur noch pur rauchen, steigt. In einschlägigen Läden oder im Versandhandel werden mittlerweile so genannte Vaporizer vertrieben, die die Droge nicht mehr verbrennen, sondern mit einer geringeren Temperatur verdampfen. Das soll die Gesundheitsgefährdung sehr minimieren. Zur Zeit sind die Dinger aber noch sehr teuer.
Auch die einschlägigen Hanflegalisierungsorgane stehen auf Seiten der Tabakgegner. Vor 25 Jahren war das auch schon so. Die Überzeugung, dass die legalen Drogen Alkohol und Zigaretten letztlich „gefährlicher“ sind als Haschpilze und LSD, eint ja viele Drogenfreunde. Vielleicht kommt das auch daher, dass man quasi zum Ausgleich dafür, dass man sich etwas Verbotenes gestattet, etwas anderes verdammt. Bei Freunden in England durfte man Gras im Haus pur rauchen, aber Zigaretten nur draußen.
Die Entkoppelung von Cannabis und Tabak gefalle ihr überhaupt nicht, meinte Ka., eine Künstlerin Mitte dreißig, die nicht raucht, aber gerne kifft. Hasch pur zu rauchen erinnere sie eher ans Crackrauchen. Vor allem aber vermisst sie beim Purrauchen das sozial verbindende Element. Der Stoff verbrenne zu schnell, als dass man ihn in trauter Rauschgiftrunde gemütlich weitergeben könnte.
6Seitdem 1998 die Zigarettenmarke „American Spirit“ in Deutschland auf den Markt kam, hat sich dies und das verändert, zumindest in dem Verbrauchersegment, in dem man sich selbst bewegt. Vor allem unter Medienleuten, Künstlern, Schriftstellern und lesenden Kiffern war AS schnell populär. Die Zigarette, die ohne chemische Zusätze – Aromaverstärker, Brandbeschleuniger, Konservierungsstoffe etc. – auskommt, wurde in Bioläden verkauft, ist vermutlich auch nicht gesünder als andere, aber doch naturpur. Außerdem wurde sie bis vor kurzem noch von einer kleineren unabhängigen Firma hergestellt.
Mittlerweile wurde AS von Reynolds gekauft und viele sind auf die Lübecker Marke „Manitou“ umgestiegen. Die ist billiger und hat eine Internetseite mit Informationen über Manitou, Ganzheitlichkeit und solche Dinge. Intellektuell ist das alles zwar etwas dürftig, interessant aber, dass „West“ mit dem gleichen Ökokonzept und der Zigarette „New West“ 1993 gescheitert ist. Lustig ist zudem, dass man zunächst auf eine amerikanische Waffenfirma stößt, wenn man „American Spirit“ googelt. Dann kann man vor allem Diskussionsbeiträge in diversen Kifferforen lesen, in denen es darum geht, welche Tabaksorten sich am besten zum Jointdrehen eignen. Von AS wird mittlerweile vor allem wegen der Übernahme durch Reynolds abgeraten, „Manitou“ wird favorisiert.
„Unser Lebensmittelchemiker Dr. Heiko Kinder, der für die Tabakmischungen […] verantwortlich ist, weiß [zwar], welches besondere Aroma in den einzelnen Tabaken steckt und hat die Fähigkeit, sie so zu kombinieren, dass sie optimal harmonieren“ – er sieht aber trotzdem etwas spießig aus, was ihn andererseits aber vielleicht auch wieder ganz authentisch macht.
7 In einer Spiegel-Reportage über ein Berliner Sterbehospiz neulich rauchten alle Todgeweihten. Besonders schöne Rauchszenen gibt es in dem argentinischen Film „Aus heiterem Himmel“ von Diego Lerman, wo eine elegante alte Dame mit großer Eleganz raucht und sagt, besonders die „Mitternachtszigarette“ im Bett sei ihr heilig. Überhaupt rauchen alte Frauen am elegantesten. Das liegt an der Erfahrung. Der beste Raucherfilm in diesem Jahr kam von dem Hongkonger Regisseur Johnny To und heißt „PTU“. Der Held, ein Polizist, raucht ununterbrochen im äußersten Stress und sieht mit jeder Szene fertiger aus.
8 Früher gab es viele Sorten, die es heute nicht mehr gibt. „Gold Dollar“ zum Beispiel. Bei „Gold Dollar“ denke ich immer daran, dass Zigaretten bei der Entnazifizierung eine große Rolle spielten. Irgendwo in der Kleinstadt hatte es jedenfalls einen Automaten gegeben, in dem man lange Zeit noch „Gold Dollar“ ziehen konnte. Als die Nachkriegszigarette aus dem Automaten verschwand, war man ein bisschen traurig. Das Verschwinden der „Gold Dollar“-Zigaretten besagte, dass gerade der letzte „Gold Dollar“-Raucher gestorben war. Als Todesnachrichtsandeutung eines Verbrauchers berührte das Verschwinden der „Gold Dollar“-Zigaretten sehr.
9 „In Saint-Pierre-des-Ilfs stieg ein wundervolles Mädchen ein […] Darauf fragte sie von ihrem Platz aus: ,Meinen Sie, dass der Rauch Ihre Freunde stört?‘ und zündete sich eine Zigarette an. Auf der dritten Station stieg sie aus, indem sie gewandt vom Trittbrett sprang. […] Ich habe das schöne junge Mädchen mit der Zigarette niemals wieder getroffen oder erfahren, wer sie eigentlich war. […] Doch vergessen habe ich sie nicht. Oft noch, wenn ich an sie denke, fühle ich mich von irrem Verlangen erfasst.“ (Marcel Proust: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“)
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