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Was ist daran so komisch?

Damals, im siebten Kreis der Hölle: Der britische Schriftsteller Martin Amis und der Journalist Christopher Hitchens streiten über kommunistische Vergangenheitsbewältigung – und über die Frage, ob man trotz 20 Millionen Opfern über Stalin lachen darf

Private Gefühle spielen in Amis’ Stalin-Buch eine entscheidende Rolle

von CHRISTIAN SEMLER

„I told you so, you fucking fools.“ Das war 1990 der Vorschlag das Historikers Robert Conquest, als ihn sein Verleger fragte, ob er der bearbeiteten Neuauflage seines Buches „The Great Terror“, das von Stalins Herrschaft in den Dreißigerjahren handelte, nicht einen neuen Namen geben wolle. Die „fucking fools“, damit waren all die Linken in der westlichen Welt gemeint, die vor den Massenmorden in der Stalin’schen Sowjetunion die Augen verschlossen, wenn sie sie nicht sogar im Namen der historischen Notwendigkeit gebilligt hatten.

Robert Conquest war auch der Erfinder der „United front against bullshit“, die die Einheits- und Volksfrontpolitik samt ihren gutgläubigen Anhängern verspottete. Zu Conquests Freundeskreis gehörten der Romancier und Poet Kingsley Amis, der von 1941 bis 1956, dem Jahr des Ungarnaufstands, Mitglied der englischen Kommunistischen Partei war. Und dazu gehörte auch Kingsley Amis’ Sohn, der Romancier Martin Amis, sowie dessen engster Freund, der Journalist Christopher Hitchens.

Diese beiden Freunde haben nun fast zeitgleich Arbeiten veröffentlicht, die sich dieser mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion überwunden geglaubten Epoche zuwenden. Hitchens schreibt über George Orwell – und Amis über „Koba the Dread“. (Der Titel von Amis’ Buch spielt auf den Decknamen Stalins vor 1914 ebenso an wie auf Iwan den Schrecklichen, Stalins spätes, selbst gewähltes Vorbild.)

Beide Werke beziehen sich auf Robert Conquest, den Freund und Lehrer, aber beide könnten in Ausgangspunkt, Methode und Ergebnis unterschiedlicher nicht sein. Hitchens verteidigt mit Orwells Engagement und schriftstellerischer Arbeit die Möglichkeit einer konsistenten Kritik am Totalitarismus von einer linken Position aus. Für ihn steht der Autor von „1984“ in der Tradition von Victor Serge und Boris Souvarine, die schon in den Dreißigerjahren mit dem sowjetischen Realsozialismus brachen, sich aber den kritischen Blick auf die Welt des Kapitalismus nicht abhandeln ließen. Orwell hat in Hitchens’ Interpretation den Glauben an eine Welt der Gerechtigkeit hinter sich gelassen. Aber hindert Skepsis an der politisch-emanzipatorischen Aktion?

Hitchens ruft noch einmal das Jahr der Hoffnung 1989 zum Zeugen dafür auf, dass sich intellektuelle Skeptiker wie Václav Havel sehr wohl mit einer Arbeiterschaft verbinden können, die wider alles Erwarten – und im Zentrum Europas! – sich anschickt, Revolution zu machen. Ja diese Skeptiker wurden sogar für kurze Zeit zu organischen Intellektuellen dieser Revolution.

In einigen glänzenden Passagen seines Werkes rechnet Hitchens mit dem Unverständnis wie den Verleumdungen der Parteikommunisten gegen den Einzelkämpfer Orwell ab. Auch Amis bezieht eine Verteidigungsposition. Er konstatiert ein nach wie vor schreiendes Missverhältnis, wenn es um die Opfer der Stalin’schen Verbrechen und die des Nazi-Faschismus geht.

Die Schlüsselszene seines Buchs schildert, wie sein Freund Hitchens anlässlich einer Debatte in der Londoner Conway Hall dem Publikum versichert, er sei mit dem Versammlungsraum allzu vertraut, schließlich habe er hier viele Abende mit vielen alten Genossen verbracht. Eine Anspielung auf Hitchens’ trotzkistische Vergangenheit, die das Publikum mit zugeneigtem Lachen quittierte. Auch Amis lacht mit. Und wurmt sich nachträglich. Er stellt ein Gedankenexperiment an: Hätte er auch gelacht, wenn ein anderer Hitchens an die frühere Kameradschaft der Schwarzhemden erinnert hätte?

Amis beschließt, gegen dieses „zweierlei Maß“ ein Buch zu schreiben, in dessen Zentrum „Koba the Dread“ steht, das aber zudem gegenüber seinem Freund Hitchens den Nachweis erbringen will, Lenin wie Trotzki seien keinen Deut besser als der Großtyrann gewesen. Zu diesem Behuf montiert er, in ironischer Anlehnung an den „Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU(B)“ Zitate aus so ziemlich allen bedeutenden Werken der sowjetischen Lagerliteratur plus Äußerungen der Machthaber wie Gedanken ihrer Opfer.

Es wäre nun ziemlich billig, wollte man gegenüber diesem Pandämonium des Schreckens einwenden, es versammle nur Wohlbekanntes und sei bar jedes neuen Erkentnisgewinns. Der Vorwurf trifft sachlich nicht zu. So birgt die Präsentation des Briefwechsels zwischen Vladimir Nabokov und dem englischen „fellow-traveller“ Edmund Wilson ein erschreckend gut gelungenes Lehrstück. Die Linke, so lernen wir, kann und will nicht verstehen, dass auch ein Vertreter der im Zarenreich herrschenden Klasse zu genauen Einsichten in den Mechanismus der sowjetischen Machtausübung in der Lage ist. Sie will von ihrem Lieblingsexperiment nicht lassen, das aber leider an lebenden Versuchspersonen durchgeführt wird (hierzu der klassische Witz, nach dem es sich beim Marxismus-Leninismus um keine Wissenschaft handeln kann, denn diese würde Experimente zuerst an Mäusen durchführen).

Womit wir beim Untertitel von Amis’ Buch angelangt wären: „Laughter and the twenty Million“. Amis untersucht die Frage, warum wir über den Nazismus „nach Auschwitz“ nicht lachen können, wohl aber über den Bolschewismus, und dies nicht nur in seiner letzten, der Stagnation verfallenen Phase. Er umkreist das Gelächter bis in den siebten Kreis der Hölle, wo die Gefangenen des Gulag bei der täglichen Prawda-Pflichtvorlesung in nicht enden wollendes Lachen ausbrechen, als sie über Stalins Beschwerde bei der UNO zu den Haftbedingungen der griechischen Kommunisten hören.

Auch Stalin macht Witze, allerdings nie auf seine Kosten. Wie Amis bemerkt, neigt der Oberschematiker nicht nur zu Zynismen – so als er einen Jugendlichen, der seinen Vater denunzierte, von seinen Verwandten anschließend getötet und von der Sowjetmacht zum Helden stilisiert wurde, beiseite sprechend, als „kleinen Schweinehund“ bezeichnete. Er neigt auch zu absurdem Witz, zum Beispiel mit der Bemerkung nach dem deutschen Überfall „Ach ja, zusammen mit den Deutschen wären wir unbesiegbar gewesen.“ Amis hat es hier vor allem das „Ach ja“ angetan.

Gelehrte Ausführungen über das Lachen, die Amis zweifellos aus dem Ärmel hätte schütteln können, bleiben uns erspart. Dennoch hätten wir von ihm beispielsweise gern etwas über den großen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin erfahren, der in der Verbannung, im fernen Mordwinien, das befreiende, tolldreiste Lachen der unterdrückten Sowjetmenschen in gelehrten Untersuchungen über Rabelais und den Karneval versteckte. Letzlich bleiben wir unbelehrt angesichts der Frage, was es eigentlich an den Massenmorden der Stalin’schen Epoche zu lachen gibt. Ist es nicht die Hohlheit des gigantischen Anspruchs, den „neuen Menschen“ zu schaffen, die Differenz zwischen hehren Absichten und Mitteln, zwischen Phrase und Realität? So in der klassischen Sentenz: „Im Kapitalismus wird der Mensch durch den Menschen ausgebeutet, im Sozialismus ist es umgekehrt.“

Das verbrecherische Projekt der Nazis kannte keinen Unterschied zwischen Wort und Tat. In einer subtilen Passage zum Thema „what’s worse?“ – Nazismus oder Bolschewismus – beschreibt Amis die Scham, die ihn angesichts des Massenmords an den Juden bedrückt. Was können Menschen Menschen antun, vor dieser Frage vergeht ihm das Lachen. Aber das ist ein Gefühl und kein Beweis, zitiert Amis seinen Lehrer Conquest.

Emotionen, auch und vor allem solche privater, familiärer Natur, spielen in Amis’ Stalin-Buch eine entscheidende Rolle. Ein zweischneidiges Unternehmen. Denn so überzeugend er berichtet, wie sehr ihn zeit seines Lebens das kommunistische Engagement seines Vaters, die Doppelmoral seiner Freunde angesichts der Stalin’schen Verbrechen umgetrieben haben: Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, er nutze die Leidensgeschichte der Millionen für seinen eigenen emotionalen Haushalt. Er privatisiere sie, wie Christopher Hitchens ihm in einer bemerkenswerten Rezension des Buches vorgeworfen hat.

Hitchens beklagt auch die anklägerische Pose. Er bestreitet unter anderem Amis’ These, dass alle Linken gegen den Vietnamkrieg der USA, aber kaum jemand gegen die sowjetische Okkupation der Tschechoslowakei demonstriert habe. Als einer, der 1968 sowohl vor der Londoner Botschaft der USA am Grosvener Square als auch vor der tschechischen Militärmission in Berlin-Dahlem demonstriert hat, möchte der Rezensent Hitchens gegenüber Amis gerne Recht geben. (Wenngleich ihn angesichts der westlichen, zumal der westlich linken Haltung zum tschetschenischen Vernichtungsfeldzug Putins wieder Zweifel anfallen.)

Was am meisten an Amis’ Buch stört, ist aber nicht sein moralischer Triumphalismus, sondern die Sturheit, mit der er an „Koba the Dread“ klebt, ohne sich einen Deut um die Frage zu kümmern, warum so viele Menschen in der Sowjetunion der Dreißigerjahre dem Terror und den elenden Lebensbedingungen zum Trotz dem Stalin’schen System anhingen. Waren es, in der Sowjetunion wie innerhalb der westlichen kommunistischen Linken, alles geblendete, moralisch und intellektuell defekte Individuen, die ihrem Traum vom „neuen Menschen“ ihre Urteilskraft, ja ihre Individualität opferten?

Nur mit zwei abfälligen Sätzen geht Amis auf die sozialhistorische Schule von Getty bis Rittersporn ein, die sich seit vielen Jahren müht, ein realistisches Bild der Sowjetunion der Dreißiger- und Vierzigerjahre zu zeichnen. Können wir tatsächlich, wie Robert Conquest in „The Great Terror“ und wie Amis in „Koba the Dread“. die gewaltige soziale Mobilität innerhalb der Stalin’schen Epoche ausblenden, uns niemals die Frage vorlegen, wer im Prozess der Industrialisierung die Gewinner, wer die Verlierer waren? Können wir vom Terror sprechen, ohne dessen Nutznießer zu benennen, von den massenhaft auf den Weg gebrachten und begünstigten Karrieren in allen gesellschaftlichen Bereichen? Ist es nicht notwendig, über die großen literarischen Werke wie Nadeschda Mandelstams „Jahrhundert der Wölfe“ hinaus sich den überlieferten Tagebüchern der Namenlosen zuzuwenden?

Das sind Fragen, mit denen sich nicht zuletzt die ehemaligen Maoisten, mit ihrem notorisch gespaltenen, doppelzüngigen Verhältnis zum „Genossen Stalin“, herumschlagen – nach der berühmten Stalin-Bewertung der chinesischen Genossen aus den Sechzigerjahren: 70 Prozent positiv, 30 Prozent negativ, oder vielleicht doch umgekehrt? Aber das sind natürlich keine Fragen für Martin Amis.

Martin Amis: „Koba the Dread. Laughter and the Twenty Millions“. Miramax, New York 2002, 306 S., 24,95 $Christopher Hitchens, „Orwell’sVictory“. Penguin, London 2002, 150 S., 9,99 £Ders: „Why Orwell Matters“. Basic Books, London 2002, 208 S., 16,99 £

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