: Eine Narbe bleibt
An Kunsthochschulen kann man ohne Abitur studieren, sofern man als „Hochbegabter“ zugelassen wird. Ein UdK-Absolvent ohne Hochschulreife blickt zurück auf seinen Weg
Nach bürgerlichen Kriterien kommt Tobias Kessler (Name von der Redaktion geändert) aus recht wilden Verhältnissen. Von den vier Sprösslingen der Eltern Kessler machte keines das Abitur. Ein Bruder von Tobias verließ die Schule zunächst sogar ohne Hauptschulabschluss. Und das in einem Akademiker-Haushalt, wo die Tradition von gediegener Bildung noch am lebendigsten ist.
Auch Tobias’ Bildungsweg war ziemlich steinig: Er wollte gern in den künstlerischen Bereich, verließ aber mitten in der 10. Klasse die Schule. Nach einer Lehre im elterlichen Betrieb ging er auf eine Schule für Erwachsene. Glücklich wurde er nicht, schon nach anderthalb Jahren verließ er die Penne erneut – zum zweiten Mal ohne Abi.
Gleichzeitig wuchs in dem jungen Mann, der heute 34 Jahre ist und gerade sein Studium der Visuellen Kommunikation beendet hat, der Hang zur Kunst. Er wollte an die damalige Hochschüle der Künste in Berlin. Doch ohne Abitur?
Tobias hatte Glück. Mit seinen Bewerbungsmappen wurde er 1994 als „Hochbegabter“ gleich zweimal an der HdK willkommen geheißen, in den Fächern Industriedesign und Visuelle Kommunikation.
Aus heutiger Sicht hätte er lieber Abitur gemacht. Nicht weil er Wissensdefizite verspürt („Es bleibt eh nicht allzu viel hängen, wie ich an meinen Freunden sehe“), sondern weil es zum Kanon des formalisierten Bildungsgangs immer noch dazu gehört. „Heute weiß ich, dass man an den Schulen längst nicht so tolle Sachen lernt, wie ich damals glaubte. Das beruhigt.“ Auch im Studium fehlte es an nichts, ein paar mehr Fremdsprachenkenntnisse hätte er gerne gehabt, aber darunter litten auch seine Kommilitonen mit Abitur.
17 Semester hat er bis zum Unidiplom gebraucht. Dass er den biografischen Klotz am Bein dennoch schleifen konnte, liegt an seiner intrinsischen Motivation. Ein Leben im gelernten Beruf als Keramiker konnte sich nicht vorstellen, das war zu wenig. Den „Schulversager“ trieb es vielmehr vom Handwerk in die Kunst. Er war schon an der Kunsthochschule als Gasthörer, als vom ordentlichen Studium noch keine Rede war, und beschäftigte sich intensiv mit Fotografie.
Ein letzte Narbe seiner Bildungsbiografie bricht auf, wenn er Bewerbungen schreibt – ein Eiertanz. Tobias umgeht die Schwierigkeiten im Lebenslauf und verweist auf seinen Hochschulabschluss, aufs Abitur geht er mit keinem Wort. „Ideal und zum Weiterempfehlen ist mein Bildungsweg vielleicht nicht, trotzdem habe ich genau das gemacht, was ich auch mit Abitur getan hätte.“ RICHARD ROMAN
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