Blicke, die noch mal verletzen

aus Paris DOROTHEA HAHN

„Ist das Ihre Schrift?“, fragt der Vorsitzende Richter. „Ja“, antwortet der Angeklagte. „Ist das ein Rezept zum Bomben basteln?“ – „Ja.“ – „Woher haben Sie das Rezept?“ – „Hat mir jemand diktiert.“ – „Wer?“ – „Sag ich nicht. Er ist nicht in diesem Saal.“ – „Wollten Sie eine Bombe basteln?“ – „Nein.“ – „Lassen Sie sich öfter Dinge diktieren, die Sie nicht brauchen?“ – „Weiß nicht.“

Der Vorsitzende Richter Jean-Pierre Getti spricht Französisch. Der Angeklagte, der 34 Jahre alte Algerier Smaïn Aït Ali Belkacem, braucht keine Übersetzung, um zu verstehen. Aber seine Antworten gibt er auf Arabisch. Der schwere Körper des kleinen Mannes mit dichtem schwarzen Vollbart gerät dabei in wogende Bewegungen. Seine Hände zeichnen Figuren in die Luft. Er schreit beinahe ins Mikrofon. So hastig, als wollte er seine eigenen Worte überholen.

In der französischen Übersetzung bleibt wenig von dem Redefluss übrig. Der Angeklagte erklärt nichts. Er trägt nicht zum Verständnis bei. Er bestreitet alles. Auch seine eigenen Geständnisse vor der Polizei und vor den Untersuchungsrichtern. Und die detaillierte Beschreibung seines eigenen Bombenattentats in der Pariser Metrostation Musée d’Orsay, die sein inzwischen entlassener früherer Verteidiger im Jahr 2000 an die Presse gegeben hat.

Der zweite Mann auf der Anklagebank grinst zufrieden. Boualem Bensaïd hat früher Algerien bei Karatewettkämpfen vertreten. Davon sind dem 35-Jährigen Muskelpakete an Armen und Oberkörper geblieben. Nach seiner Verhaftung im November 1995 hat Bensaïd die Verantwortung für alle islamistischen Attentate des vorausgegangenen Sommers in Frankreich übernommen. Vor der französischen Polizei bezeichnete er sich als Chef der drei Gruppen, die in Lyon, Paris und Lille Bomben bauten. Der mit ihm aus Algerien angereiste Belkacem erzählte, dass die Führung der „bewaffneten islamistischen Gruppen“ (GIA) sie im Frühjahr 1995 für den Frankreicheinsatz auswählte, da sie im Guerrillakampf erprobte „Moudjahids“ waren. Sie sollten den Terror von Algerien nach Frankreich tragen. „Ihr habt freie Hand“, lautete der Auftrag der GIA.

Seit Anfang Oktober stehen die beiden Moudjahids vor einem Spezial-Schwurgericht in Paris. Weil es um Terrorismus geht, sitzen vorn am Richterpult sieben Berufsrichter und keine Laien. Die beiden Männer auf der Anklagebank müssen sich wegen drei Bombenattentaten im Sommer und Herbst 1995 in der Pariser Metro verantworten. Bilanz: 8 Tote und über 200 Verletzte.

Im Sommer 1995 herrschte in Frankreich Bombenpanik. Wer in eine Metro stieg, warf zuerst einen prüfenden Blick unter die Sitzbänke. Die Behörden verriegelten Papierkörbe und Gepäckaufbewahrungen. Vor Synagogen und Schulen wurden Sperrgitter installiert. Und die Fahndung nach einem als Bombenleger verdächtigen jungen Mann beschäftigte tagelang das ganze Land. Als Khaled Kelkal am 29. September auf einer Landstraße bei Lyon tödlich von Polizeikugeln getroffen wurde, war das Fernsehen live dabei.

Sieben Jahre danach interessiert sich die französische Öffentlichkeit kaum noch für jene Attentate aus der Frühzeit des bewaffneten Islamismus im Westen. Auf den harten Holzbänken für Zuschauer im Schwurgericht sind die Opfer unter sich. Verletzte, verwaiste und verwitwete Menschen, die eine Bombe zusammengebracht hat. Fast alle fahren im Taxi zu den Gerichtsverhandlungen, weil sie sich bis heute nicht in Metro und Busse trauen. Fast alle haben Beruhigungsmittel dabei. Viele sind durch mikroskopische Verletzungen im Gehörgang schwerhörig geworden. Einige humpeln täglich an Krücken die Treppe zum Gerichtssaal hinauf.

Die Uhr der toten Tochter

Manche leben seit Jahren auf die Konfrontation mit den Angeklagten hin. Sie haben gehört, dass die Angeklagten „selbstgefällig“ sind und „verlogen“. Sie hoffen trotzdem auf den Ansatz einer Erklärung. Auf ein Zeichen von Reue.

„Warum ist meine Tochter gestorben?“, fragt Annick Brocheriou, als sie am elften Verhandlungstag zwei Meter vor Bensaïd und Belkacem steht. Seit dem Attentat vom 25. Juli 1995 in der Station Saint-Michel trägt sie die Armbanduhr der 26-jährigen Véronique, die in Waggon Nummer sechs der RER-B auf der Bank saß, unter der die Bombe explodierte.

„Ich bin Moslem und ich verstehe nicht“, sagt der Polizist Richard Girier-Dufournier, dessen Tochter Sandrine, 24, auf dem Heimweg von der Bombe getötet wurde: „Der Islam tötet nicht.“ Auch Roland Froment spricht zu den Angeklagten von Religion: „Glauben Sie wirklich, dass Sie so vor Gott treten dürfen: mit Händen an denen das Blut unschuldiger Opfer klebt?“ Sein Sohn Pierre-Henri starb vier Monate nach dem Saint-Michel-Attentat an seinen Verletzungen – eine Woche bevor er zum zweiten Mal Vater wurde. „Nichts ist mehr wie zuvor“, fasst Josyane Loiseau ihr Leben nach dem Attentat zusammen, „die Angst ist jetzt immer da.“ Sie musste ein Jahr im Krankenhaus verbringen, bevor sie wieder gehen lernte.

An dem Angeklagten Bensaïd prallt alles ab. Er schaut weiter ins Leere. Grinst sogar. „Warum Ihre Tochter gestorben ist, muss Ihnen die Justiz sagen. Nicht ich“, blafft er Annick Brocheriou an. „Gehen Sie in eine Moschee, da wird man Ihnen schon erklären, warum“, rät er einer jungen Frau, die schwer verletzt überlebte. Der Vorsitzende Richter insistiert: „Warum all das im Jahr 1995?“ Der Angeklagte wird laut: „Das ist die Folge eines Krieges in Algerien. Die 250.000 Toten können nicht hierher zum Weinen kommen.“ Im Saal sind kleine Schreie zu hören. Der Vorsitzende Richter schmeißt Bensaïd raus. Für fünf Minuten. Der andere Angeklagte, Belkacem, dessen schwerer Körper häufig stundenlang zusammensackt, der oft döst, als ginge ihn sein eigener Prozess nichts an, kämpft mit den Tränen, während die Opfer sprechen. Er vermeidet den Blickkontakt.

Der Gerichtspsychiater hat beiden Angeklagten „normale Intelligenz“ bescheinigt, und „wenig Abstraktionsvermögen“. Politische Erklärungen oder auch nur Auskünfte über ihre Motive gibt es von ihnen nicht. Selbst Allah bringen sie nur zur Sprache, wenn sie eine Gebetspause am Nachmittag verlangen oder sich weigern, vor dem Gericht aufzustehen. „Als Moslem erkenne ich einzig die Justiz Allahs an“, sagt Belkacem. Der Vorsitzende Richter gewährt ihnen die Gebetspausen. Und zwingt sie, vor dem Gericht aufzustehen.

Seit einem Anwältewechsel haben Bensaïd und Belkacem ihre Verteidigungsstrategie radikal geändert. Sie antworten jetzt nur noch auf Vorwürfe, wegen derer sie bereits in getrennten Verfahren verurteilt worden sind. Belkacem hat 1999 zehn Jahre wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung bekommen. Bensaïd ebenfalls. Zusätzlich ist Bensaïd für das misslungene Attentat auf den Hochgeschwindigkeitszug Paris–Lyon verurteilt, bei dem seine Fingerabdrücke zusammen mit denen von Khaled Kelkal auf der Bombe gefunden wurden. Was die bereits gerichtlich beurteilten Verbrechen betrifft, haben die beiden Angeklagten nichts mehr zu verlieren.

Die Klagen der Angeklagten

Auf alle anderen Fragen antworten sie mit Fragen: „Wo sind die materiellen Beweise?“ Mit Unflätigkeiten: „Machen Sie Ihre Arbeit anständig.“ Oder mit der Behauptung: „Das hat die Polizei erfunden.“ Bensaïd, der im Gegensatz zu seinem Mitangeklagten vor Gericht Französisch sprich, erklärt seine eigenen Falschaussagen mit polizeilichen Misshandlungen. „Sie drücken mit den Händen auf den Kopf“, sagt er dem Vorsitzenden Richter und fuchtelt mit den Händen an seinen Ohren herum, „irgendwann sagst du alles, was sie hören wollen.“ – „Den musste man nicht schlecht behandeln, um Auskünfte zu kriegen“, sagt ein Polizist über Bensaïd.

Der Richter hört sich die Klage des Angeklagten und seine Drohung mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof immer wieder geduldig an. Er lässt zwei Ärzte kommen und die blauen Flecken beschreiben, die sie nach der Verhaftung in Bensaïds Gesicht gesehen haben. Er fragt den Angeklagten bei jedem neuen Polizisten, der in den Zeugenstand tritt, ob er es war. Aber Bensaïd bleibt bei seinem generellen Foltervorwurf. Er erkennt niemanden. Nicht einmal den Polizisten, mit dem er sich bei seiner Verhaftung nach beider Aussagen hart geprügelt hat.

Das Gericht verfügt über Telefonmitschnitte, die von Attentaten handeln. Es hat eine Monatskarte, die zeigt, dass Belkacem wenige Minuten vor der Explosion in der Metrostation Orsay ausgestiegen ist. Es hat Notizbücher, in denen die Ausgaben und die aus London kommenden Einnahmen der Gruppe akribisch aufgelistet sind. Es hat Aufzeichnungen von Bensaïd, die laut einer Grafologin einen minutengenauen Zeitplan für das Attentat an der Station Saint-Michel darstellen. Und es verfügt über sämtliche nötigen Zutaten zum Bombenbau. Sie wurden bei den Verhaftungen in den Wohnungen der Angeklagten gefunden: von Schwarzpulver, Schwefel, Insektenvernichtungsmittel und Zucker bis hin zu scharfkantigen Schrauben. Bei Belkacem war auch eine angebohrte Gasflasche dabei sowie ein Wecker, auf dem schon der Zeitzünder für das nächste Attentat installiert war. Die Bombe sollte einen Wochenmarkt in Lille treffen.

Aber ein definitiver Beweis für die direkte Beteilgung der beiden Männer an den drei Attentaten, um die es jetzt in Paris geht, fehlt. In dieser Woche hat der zentrale Zeuge der Anklage einen Rückzieher gemacht. Nasreddine Slimani kommt aus dem Umfeld der Angeklagten. 1999 wurde er zusammen mit ihnen wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Seine französischen Papiere dienten den beiden Algeriern als Fälschungsgrundlage. Vor den Ermittlern beschuldigte Slimani jedoch den Algerier Bensaïd mehrfach als Bombenleger von Saint-Michel.

Slimani ein „Verräter“ der Moudjahid? Der 31-Jährige betritt den Saal des Schwurgerichtes. Beide Angeklagte setzen ein breites Lächeln auf. Slimani erwidert es nicht. Dann widerruft er seine Aussage. Begründung: „Ich bin gefoltert worden.“ Der in Lyon aufgewachsene Mann lehnt es ab, bei der weiteren Suche nach den Attentätern zu helfen. „Ich glaube nicht mehr an die Justiz“, sagt er dem Vorsitzenden Richter.