: Jenseits der Hochkultur
Viele akademische Disziplinen widmen sich inzwischen dem Phänomen, dass die klassische Bildungskultur für die meisten Menschen kaum mehr zählt. Es sind verzweifelte Versuche, dem Bedeutungsverlust der klassischen Bildung und ihrer Träger etwas entgegenzusetzen
von KASPAR MAASE
Jede universitäre Disziplin, die sich mit Bildern und Worten befasst, will heutzutage Kulturwissenschaft sein – also eine Disziplin, die sich kultureller Angelegenheiten jenseits des hochkulturellen Kanons annimmt. Die Germanisten wenden sich also Filmen und Werbetexten zu, Theaterwissenschaftler Seifenopern und politischen Inszenierungen, Kunsthistoriker dem Bild als solchem von der Höhlenzeichnung bis zum Bildschirmschoner.
Neue Welten gilt es in den Blick zu nehmen. Die Ahnung, dass die dreihundertelfte Dissertation zu Thomas Mann nicht mehr unbedingt das liefert, was die Gesellschaft wissen muss, ist selbst an akademischen Plätzen weit verbreitet. Mit anderen Worten: Kulturwissenschaften kümmern sich um populäre Welten, mithin um jene Kultur, die abseits des klassischen Bildungs- und Wahrnehmungskanons – von Goethe über Beethoven bis eben zu Thomas Mann – lebt.
Jens Jessen hat sich kürzlich dieser akademische Verwirrung öffentlich angenommen. Die Wendung zur Populärkultur, schreibt er in der Zeit vom 26. September, und der Verzicht auf Arroganz gegenüber ihren Nutzern, richte sich gegen die Legitimität gesellschaftskritischen Denkens. Wer Massenkünste und -lüste „mit allem interpretatorischen Scharfsinn und analytischen Ernst“ untersuche, der übe den Kotau vor dem Fetisch von Mehrheitsentscheidungen – wo doch geistige Tradition und Rangordnung überhaupt nicht demokratisch verhandelbar seien.
Wissenschaftliches Studium dessen, woran sich viele im Alltag erfreuen, kommt für ihn einer „Nobilitierung“ kapitalistischer Verdummungsware gleich – als sei es Aufgabe des Akademikers, Niederes zu verachten und Hohes zu adeln. So aber spricht eine selbst ernannte Geistesaristokratie, die ihre Werturteile dem historischen Wandel und den massendemokratischen Aushandlungsprozessen der Moderne entziehen will.
Jessen empfindet schon das Ernstnehmen des Geschmacks der Vielen als intellektuelle Selbsterniedrigung. Doch den Beweis, dass die neue Anerkennung der Massenkultur zugleich den Verzicht auf Kritik nach sich ziehe, könnte er schwerlich erbringen.
Was sie tatsächlich umtreibt, ist deren Erfahrung, dass sich moderne demokratisch-kapitalistische Gesellschaften ohne Beschäftigung mit Populärem nicht mehr deuten lassen. Die Jessens muss man fragen: Von welcher Position aus sprechen sie? Durch welche Deutungslinsen muss man die Welt betrachten, damit der Eindruck entsteht, die alles durchdringende, ja „herrschende“ populäre Kultur zermürbe die klassische Kultur?
Die Antwort: So stellen sich die Verhältnisse dar für jene, deren kulturelles Kapital auf Hochkulturkompetenz beruht, auf dem Gleichklang persönlichen Geschmacks mit dem Kanon westlicher Kunst und auf der professionellen Prägung durch begrifflich-analytisch ausgerichtete Arbeit.
Ein solcher Habitus schließt jedoch nicht aus, dass man sich bemüht, den eigenen Horizont zu relativieren und die Innensicht des Populären nachzuvollziehen. Jörg Lau, hat schon 1995, damals noch taz-Kulturredakteur, heute Kulturkorrespondent der Zeit aus Berlin, einen solchen Versuch im Merkur unternommen. Seine Diagnose: „Wenn wir heute den Fernseher einschalten, finden wir uns in einer Art Rummelplatzwelt wieder, die den Albträumen unserer Vorgänger nahe kommt. Bei einem solchen Fernsehabend kann man auf den Gedanken kommen: Das alles schert sich nicht um uns. Man fürchtet uns nicht mehr, ja man weiß womöglich nicht einmal mehr etwas von unserer Existenz. Mit dem Fernsehen haben die Massen ein Medium in der Hand, in dem sie uns permanent vorführen können, dass sie endgültig von uns Abschied genommen haben – und dass sie uns überhaupt nicht vermissen.“
Des Autors „Wir“ meint die kulturellen Eliten des Landes, die bildungsfundierten Profis in den Künsten und Kultureinrichtungen, in den Feuilletons und Hochschulen. Von ihnen und ihrer Welt hat sich der Rest der Gesellschaft definitiv abgekoppelt – nicht nur lebenspraktisch, sondern gerade mental, in Wahrnehmung und Wertung.
„Massenkultur“ gab es in jener Vergangenheit, als die nichtbürgerlichen Bewohner der Industriegesellschaft noch in einem gemeinsamen Raum mit den „gebildeten“, hochkulturorientierten Zeitgenossen lebten. Wer in dieser Welt von „der Kultur“ sprach, meinte – Arbeiter wie Bürger – selbstverständlich Hochkultur. Große Kunst und Philosophie bildeten den Maßstab für Geistig-Ästhetisches in der bürgerlichen, spätbürgerlichen, spätestbürgerlichen Gesellschaft – und Massenkultur war gedacht als deren unerstrebenswertes Gegenbild in jeder Hinsicht.
Das eine bedurfte der Folie des anderen, um sozial sichtbar zu werden. Erst vor dem Hintergrund des Groschenromans stiegen Goethe und Schiller zu voller Größe auf; nur im Vergleich mit „König Lear“ war der unüberbrückbare Abgrund zu erkennen, der Gangster- und Liebesdramen aus Hollywood von wahrer Kunst trennte.
Allein: Der gemeinsame Raum existiert heute nicht mehr; die Mehrheit der Deutschen ist aus diesem Wahrnehmungsfeld ausgewandert und hat die Menschen mit dem traditionellen Geistesgepäck zurückgelassen. Auf dem Bildschirm und im Feuilleton können die kulturellen Eliten den Emigranten noch hinterherschauen, mehr jedoch können sie nicht tun. Es wäre ein Euphemismus, wollte man weiterhin klagen über mangelnde Wertschätzung oder Missachtung des großen kulturellen Erbes – es kommt schlicht nicht mehr vor in der Neuen Welt der Auswanderer.
Das Austrocknen der Geisteswissenschaften an den Hochschulen und vor allem die Tatsache, dass daran außer den Betroffenen niemand ernstlich Anstoß nimmt, bringt die neue Situation langsam auch denen zu Bewusstsein, die ihre kulturelle Isolation bisher nicht zur Kenntnis nehmen mussten. Wechselseitig versuchen sie, einander die Gültigkeit des vertrauten Modells zu bestätigen – jenes Modells, in dem ihnen ein anerkannter, jedenfalls bedeutungsvoller Platz zukommt. Zahlenförmige Diagnosen sind stets prekär. Nur um Größenverhältnisse anzudeuten, sei formuliert: Gut 90 Prozent der Deutschen leben in einer geistigen Welt, in der Hochkultur irrelevant ist. Diese Welt ist keineswegs homogen; sie wird von vielen Unterscheidungen durchzogen – aber „Bildung“ zählt nicht zu den Maßstäben, die hier Ordnung erzeugen.
Was keineswegs bedeutet, dass diese Menschen nichts von dem kennten oder schätzten, was in der traditionellen Sicht der Dinge zum ehernen Bestand der Hochkultur zählt. Im Gegenteil: Mehr und mehr von ihnen finden Gefallen an Bildern von Picasso und Klee, an Musik von Mozart und Grieg, am Design von Breuer und Corbusier, an Geschichten von Shakespeare und Molière. Aber sie nehmen sie nicht als Hochkultur wahr, mit Ehrfurcht und Unterwerfung unter das Genie, sondern mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie die Harald-Schmidt-Show und eine Folge eines „Tatort“.
In der nachbürgerlichen Kultur ist nichts ausgeschlossen. Keinem Kanon muss Folge geleistet werden. Plato, das Alte Testament, Michelangelo, Kleist, Verdi, das Bauhaus und irgendwann auch „Finnegan’s Wake“ – das alles unterliegt den Spielregeln einer Populärkultur, die aus der Sicht der Produzenten wie der Nutzer „die Kultur“ ist.
Jeder ist sich selbst Spielverderber oder Lustbereiter: Es gibt Musikstücke, die anzuhören ich mir nur selten gestatte. Stete Wiederholung würde ihre Aura zerstören. Kein Schiedsgericht, und heißt es Hochkultur, kann einem diese Entscheidung abnehmen – die darüber, was einem bekommt, gleichgültig lässt oder gar langweilt. In der Alltagswelt erklingen solche Werke unterschiedslos inmitten all der Gebrauchsmusik, deren Lebensvoraussetzung Wiederholbarkeit und Wiederholung bilden.
So integriert zu werden in die nachbürgerliche Kultur stellt die einzige nichtmuseale Zukunft für die Hochkunst dar. Zur gemeinsamen Kultur der Ausgewanderten gibt es keine Alternative, kein Gegenbild, kein Außen. Eine Populärkultur, in der alles Platz hat, wenn es nur als schön und erregend, als Erlebnis und ästhetisches Genussmittel erfahrbar ist, hat den Status jenseits der Massenkultur erreicht.
Jenseits der Massenkultur heißt: Es gibt es kein Jenseits der Populärkultur mehr. Gewiss: Alle wissen, dass hierzulande Menschen leben, die gern öffentlich subventionierten Geist pflegen. Aber auf die Selbstwahrnehmung in der Popkultur hat das keinen Einfluss. Vorbei ist das Zeitalter, in dem mangelnde „Bildung“ von denen als Makel empfunden wurde, die mit anderen Werten und Erfahrungen aufwuchsen.
Man kann als Angehöriger der traditionellen Kultureliten dem Wandel mit Trotz und Dünkel begegnen oder sagen: Die Ära bürgerlicher Hegemonie ist passé, und das ist gut so – weil es ein Zeitalter gespaltener Kultur und vor allem ein Zeitalter der Ausgrenzung der Mehrheit war. Doch guter Wille ändert nichts daran, dass die klassisch Gebildeten unter sich geblieben sind, ja zurückgeblieben; in der neuen Kultur im Singular kommen sie nicht vor.
Hier geht es nicht primär darum, eine narzisstische Kränkung einzugestehen. Vielmehr um die Position akademischer Forschung und Lehre gegenüber der sieghaften Popkultur. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen im Zoo der Geisteswissenschaften verschlechtern sich; weit mehr Menschen sorgen sich um Pandabärennachwuchs als um die Zukunft von Germanisten, Kunsthistorikern, Volkskundlern.
Daher die Vermutung: Die angestrengten Bemühungen um Neuprofilierung der klassischen Geistes- und Kulturwissenschaften seit gut einem Jahrzehnt antworten auf die Konstellation „jenseits der Massenkultur“ (und damit auf das Auslaufen der Existenzgarantie für Hochkultur). Was immer auch vorgeschlagen wird an Modellen und Begriffsetiketten, an neuen Gegenstandsdefinitionen und erweiterten Zuständigkeiten – man sollte offen sagen, dass damit nicht nur uneigennützig, in Hingabe an die Sache, Erkenntnis produziert wird.
Hier reagieren Menschen auf einen Wandel, der sie professionell wie mit ihrem persönlichen Habitus ins Abseits befördert. Aber das kann kein Argument dagegen sein, sich gleichermaßen bescheiden wie kritisch auf die intellektuelle Herausforderung der Welt jenseits der Massenkultur einzulassen. Es wäre nicht das erste Mal, dass aus einer krisenhaften Konstellation neues, bedeutungsvolles Wissen entsteht.
KASPAR MAASE, Jahrgang 1946, Privatdozent am Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen, schrieb das Buch „Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970“ (Fischer TB, Frankfurt am Main 1997, 307 Seiten, 10,90 €)
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