Der Himmel und die Differenz

Die Gedanken beginnen sich aufzulösen: Der französische Philosoph und Sinologe François Jullien versucht, das abendländische Konzept der Vernunft mit einem Umweg über China zu erneuern. In einem gerade erschienenen Interviewband erläutert er seine Methode der „Dekonstruktion von außen“

von MATTHIAS ECHTERNHAGEN

Vorn im Bild sind mit dünnen Strichen Bäume, Gestrüpp und ein Pavillon angedeutet. Sie gehen über in den großen See der Bildmitte, der sich bis auf eine felsige Anhöhe erstreckt. Oder handelt es sich bereits um Wolken? Das letzte obere Drittel wird vom Himmel ausgefüllt; eine expansive Fläche, die chinesische Schriftzeichen besetzen.

Ni Zan, der Maler dieses auf das Jahr 1372 datierten Bildes, hat sein ganzes Leben dieselbe chinesische Landschaft gemalt. Eine frühere Version zeigt die Dinge noch in relativ enger Verbundenheit. Die Striche sind kräftiger und dichter. Wenn auch nur schemenhaft, so ist vor dem Pavillon noch eine menschliche Gestalt erkennbar. Mit den Jahren bleichen die dargestellten Dinge aus und lösen sich aus ihrem Umfeld.

Ni Zans Bilderserie zeigt das Verschwinden als lang gedehnten Prozess, der in für sich betrachteten Einzelaufnahmen nicht erkennbar wird. Darin sieht der französische Philosoph und Sinologe François Jullien ein grundlegendes Konzept der geistigen Kultur Chinas ausgedrückt: den unsichtbar wirkenden Fluss der Realität als Anfang und Ende alles Seienden.

Auf den Feldern Philosophie, Kunst, Politik, Kriegs- und Verhandlungsstrategie hat Jullien Ausdrucksformen eines Denkens untersucht, das sich von der europäischen Vernunft wesentlich unterscheidet. Erstmals benennt Jullien nun – in der lockeren Form eines Interviewbandes mit dem Titel „Der Umweg über China. Ein Ortswechsel des Denkens“ – neben biografischen Details die Antriebsfaktoren und Ziele seiner Forschungsarbeit.

1972 beginnt Jullien an der Pariser Eliteschule École normale supérieur sein Studium. Seit Mitte der Sechzigerjahre hält Jacques Derrida dort Seminare ab, neben ihm der Psychoanalytiker Jacques Lacan. Die inzwischen kanonischen Werke von Lacan (die „Schriften“) und Derrida („Die Grammatologie“, „Die Schrift und die Differenz“) erscheinen wie Foucaults ebenso einflussreiches Buch „Die Ordnung der Dinge“ 1966 und 1967.

Währenddessen ziehen im Rahmen der chinesischen Kulturrevolution die Roten Garden Maos gegen verkrustete Strukturen in Partei und Gesellschaft zu Felde. Maos Ideen gelangen auch in das Pariser Studentenmilieu. Es kam zu einer Reihe organisierter Freundschaftsreisen. 1974 fährt auch Jullien auf einer dieser Reisen mit. Die nächsten Jahre verbringt er mit individuellen Studienaufenthalten in Peking, Hongkong und den Metropolen Japans. Es war Jullien zufolge keine Begeisterung für Mao, die ihn nach China trieb. Sein Ziel war nichts Geringeres als die Erneuerung der Vernunft. Ein kühler Blick auf sie, so seine Hypothese, ließe sich erst über den Umweg einer anderen Kultur einüben: „Dekonstruktion von außen“.

Eines der vielen Rätsel, auf die Jullien während seiner Studienzeit stößt, ist die biografisch-fiktionale Geschichte von Tao Yuanming aus dem 4. bis 5. Jahrhundert. Der Dichter besitzt eine saitenlose Zither, auf der er jedesmal spielt, „wenn er ein Gefühl der Fülle empfindet“. Verklausuliert wie der Maler Ni Zan deutet Yuanming mit diesem Bild auf das zentrale Konzept der im Fluss befindlichen Realität hin.

Jeder Diskurs, sei er ästhetisch oder nicht, ist dem Weisen hinderlich auf dem Weg zur Angleichung an die Realität und Nutzung ihres Potenzials. Yuanming ist diesen Weg schon weit gegangen. Um im Bild des Dichters zu bleiben: den Reichtum des Flusses hier in Form aller möglichen Tonkombinationen und Harmonien schöpft Yuanming gerade dadurch voll aus, dass er den Anschlag auch nur eines einzigen Tones vermeidet.

Yuanmings Bild ist nur ein Element in dem großen Fundus von Verweisen auf den Fluss, der jeder direkten Bezugnahme entgeht. Jullien untersucht, wie seit Entstehen der philosophischen Systeme des Konfuzianismus und Daoismus im 5. Jahrhundert v. Chr. dieser Fundus stetig gewachsen ist. Zu einem seiner kräftigsten Leitmotive ist der Himmel aufgestiegen. Die Bedeutung des Himmels ist – anders als im Transzendenz suchenden Westen – vollkommen irdisch. Seine banal gegebene Fläche weist sehr diskret auf den Fluss des Realen hin – jenes so natürliche und omnipräsente Substrat, das in dem Gerede der Welt kaum noch wahrgenommen wird. Erst nach langem Lernen realisiert der Weise den Himmel, sprich: den unvermeidlichen Lauf der Dinge, das Älterwerden und Vergehen alles Seienden.

Nachdem Jullien reich an Erkenntnissen nach Frankreich zurückkehrt ist, gründet er Anfang der Achtzigerjahre die wissenschaftliche Fachzeitschrift Extrême-Orient – Extrême-Occident („Ferner Osten – Ferner Westen“). Er wird Professor für ostasiatische Sprachen und Kulturen an der Universität Paris VII und ist nebenbei als Wirtschaftsberater von französischen Unternehmen mit Projekten in China tätig.

Managern, die regelmäßig an der indirekten Verhandlungsstrategie ihrer chinesischen Partner scheitern, vermittelt Jullien die Basics: dass es in China kein Subjekt der Tat gibt wie in der Denktradition Europas, und der Weise eher austarierend als eingreifend den Weg („tao“) des realen Flusses herauslesen möchte. Und dass ein Vertrag in China nicht einfach ein Vertrag ist, sondern Teil eines Prozesses – der sich im Fluss befindet.

Seine wissenschaftliche Arbeit spricht währenddessen von Hoffnungen. In einem Vorwort schreibt er: „Wer in den Tiefenschichten dieses Essays zu lesen versteht, wird in ihm eine Streitschrift gegen Fluchten oder Kompensationen aller Art sowie gegen jene Flut von Irrationalismen sehen, die unserer Zukunft bedrohlich werden können.“

Es ist die Globalisierung, die Jullien in scharfen Worten kritisiert. Längst hat sie auch China erreicht. Jullien erkennt in ihr eine „weltweite Ideologie des lauen Konsenses“ und einen „Einheitsbrei“ von cultural studies und Pidgin-Englisch.

François Jullien: „Der Umweg überChina. Ein Ortswechsel des Denkens“.Aus dem Französischen von Mira Köller. Merve, Berlin 2002. 160 S., 13,60 €