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Das Feuer im Kopf

Über die Gedächtnisfeieram 11. September will ernicht sprechen. Ihm grautvor diesem Tag

aus New York KIRSTEN GRIESHABER

Eigentlich ist Mike Lennon schon seit vier Jahren im Ruhestand. Beim Löschen eines Großbrandes im Jahr 1998 kam er den Flammen zu nah, verletzte sich am Kopf und ist seitdem auf dem rechten Ohr taub. Als Feuerwehrmann war er nicht mehr zu gebrauchen. Eigentlich.

Doch als Lennon an diesem Nachmittag das Time Café in Downtown Manhattan betritt, trägt er seine dunkelblaue Feuerwehruniform. Die Jacke glänzt speckig und spannt leicht über dem Bauch, doch die vier gelben Buchstaben auf dem linken Ärmel leuchten wie eh und je, für jedermann sichtbar: FDNY – Fire Department New York. Noch bevor er sich vorstellt, erklärt er mit Nachdruck: „Ich bin wieder im Dienst. Seit dem 11. September.“

Fast ein Jahr nach dem Anschlag auf das World Trade Center ist der Alltag nach Manhattan zurückgekehrt. Die Gäste im Time Café auf der Lafayette Street trinken Eistee, genießen die spätsommerlichen Temperaturen und überlegen, ob sie am Wochenende im Central Park picknicken sollen. Am 11. September 2001 wurde auch das Time Café evakuiert, das gesamte Stadtviertel war wochenlang gesperrt. Mittlerweile sind die Geschäfte wieder geöffnet, aus den Straßencafés dringt Musik.

Für Mike Lennon ist immer noch alles anders. Erschöpft stützt er sich mit seinen Armen auf dem Tisch ab, die breiten Schultern hängen müde über dem massigen Körper. Er ist 47 Jahre alt, aber er sieht älter aus. Er kommt direkt zum Thema: „Die New Yorker Feuerwehr hat 343 Mann verloren, an einem einzigen Tag. Früher, da haben wir von einer Tragödie gesprochen, wenn in einem Jahr mehr als fünf Männer beim Einsatz tödlich verunglückt sind.“ Lennon rückt näher, beugt sich über den Tisch, seine Augenlider sind rot. „Ich bin auf einer Mission“, flüstert er viel zu laut, so, dass sich die Leute am Nebentisch schon umdrehen. Er merkt das gar nicht, seine Stimme wird noch etwas eindringlicher: „Ich muss meinen Kollegen ein Denkmal setzen. Sie sind die wahren Helden des 11. September.“

Lennon fängt an zu erzählen. Von seinem Dokumentarfilm „Brüder … auf heiligem Boden“ und darüber, dass er an chronischem Schlafdefizit leidet, weil er Tag und Nacht mit seiner Videokamera unterwegs ist. Um die Aufräumarbeiten an Ground Zero festzuhalten. Um die Trauergottesdienste für seine verstorbenen Kollegen zu filmen. Um die Angehörigen der Opfer zu interviewen. Um einen Fernsehsender zu finden, der sein Werk kaufen und der Öffentlichkeit zeigen will. Die Liste scheint endlos lang zu sein.

Aber mittendrin unterbricht Mike Lennon auf einmal seinen eigenen Redefluss. Minutenlang starrt er ins Leere, dann fängt er an zu zittern, reibt sich die Augen. Über das stoppelige Gesicht laufen Tränen. „Das Schlimmste war der Gestank an Ground Zero“, erzählt er. „Es roch so erbärmlich nach verwesenden Leichen, das werde ich niemals vergessen können.“

Gedankensprung. Mike Lennon erzählt vom 11. September. Die Luft ist klar an diesem Tag und die ersten Blätter der Ahornbäume färben sich rot. Draußen in Sea Cliff, einem Vorort auf Long Island, macht er sich auf den Weg, um seine vier Kinder in die Schule zu bringen. Seit seinem Unfall vor vier Jahren ist er Hausmann, „Mr. Mom“ wie er sich selbst nennt. Sein Frau Gwynne ist Lehrerin. Sie ist schon längst bei der Arbeit, als die Nachbarin ihn zum Fernseher ruft. Live, gemeinsam mit dem Rest der Welt, sieht er das zweite Flugzeug einschlagen, sieht die Menschen aus den Fenstern des World Trade Centers springen. Als der Südturm einstürzt, holt er die alte Uniform aus dem Schrank, setzt sich ins Auto und fährt runter nach Manhattan. Er weiß, dass sie ihn nun wieder als Feuerwehrmann brauchen. Schließlich hat er 13 Jahre lang für das Fire Department in Manhattan gearbeitet.

Zwei Wochen sucht Mike Lennon in den Trümmern nach Überlebenden, aber er findet nur Tote. „Ich habe geschuftet wie ein Tier. Irgendwann ging es mir nur noch darum, so viele Leichenteile wie möglich zu finden. Ich war besessen.“ Seine Familie macht sich Sorgen um ihn und auch der Feuerwehrkapitän legt ihm nahe, nicht mehr an den Aufräumarbeiten teilzunehmen. Dann ist er wieder arbeitslos.

Aber untätig zu Hause sitzen kann er nicht. Er kriegt den 11. September nicht mehr aus seinem Kopf. Er will die Tragödie für seine Kinder und Enkel festhalten. Sie sollen nicht vergessen, wie sich die Welt an jenem Dienstagmorgen vor einem Jahr veränderte. So beginnt er, seine Kollegen bei der Arbeit auf Ground Zero zu filmen. Auch hinter der Kamera behält der Exfeuerwehrmann meist seine Uniform an.

„Nach meiner Frühpensionierung habe ich ein paar Kurse für Dokumentarfilmer belegt“, erklärt er, „aber eigentlich habe ich die Leidenschaft von meinem Vater geerbt.“ Sein Vater war als US- Soldat im Zweiten Weltkrieg an der Befreiung der Konzentrationslager beteiligt. Das Ereignis hat er auf Hunderten von Fotos festgehalten. Bilder von Gaskammern, Leichenbergen und Verbrennungsöfen. Bilder von Überlebenden und ihren amerikanischen Rettern. Mike Lennon ist mit diesen Bildern aufgewachsen.

Verlegen kratzt sich der selbst berufene Filmemacher am Kinn. Seine Konzentrationsschwäche mache ihm heute wirklich zu schaffen, entschuldigt er sich und bestellt erneut Kaffee und einen Salat. Eigentlich will er von seiner Dokumentation erzählen, aber immer wieder drängen sich andere Gedanken in den Vordergrund. Hilflos reibt er sich mit seinen großen Händen die Augen. Da sind sie wieder, seine 15 Freunde und Kollegen. Gemeinsam rennen sie ins brennende World Trade Center. Wieder und wieder sieht er die Szene vor seinem inneren Auge ablaufen und kann das Drehbuch nicht ändern. Wenigstens hat er ihre Beerdigungen gefilmt. „Sie waren Helden“, wiederholt er. „Ich hätte alles getan, um ihr Leben zu retten“, sagt er. Aber jetzt kann er sie nur in seinem Film vorübergehend auferstehen lassen.

Als er im Fernsehen den Südturm einstürzen sah, holte er die alte Uniformaus dem Schrank

Der Schmerz und die Erinnerung an seine verlorenen Kollegen treiben ihn in die Arbeit. Ebenso die Besessenheit, seinen Teil zur Mythenbildung um die furchtlosen Feuerwehrhelden beizutragen. Aus 30 Stunden Rohmaterial hat er eine 53-minütige Dokumentation zusammengeschnitten. Er hat einen Kredit über 30.000 Dollar aufgenommen, um sein Projekt zu finanzieren. „Meine Freunde denken, ich wäre verrückt“, sagt er. Was seine Umwelt von ihm hält, interessiert ihn aber schon lange nicht mehr. Es gibt Wichtigeres, zum Beispiel den Film.

Vor einigen Wochen ist er sogar sechs Kilometer durch die Hafenbucht seines Heimatorts Sea Cliff geschwommen, um Spenden für „Brüder… auf heiligem Boden“ zu sammeln. 11.000 Dollar sind dabei zusammengekommen. „Ich bin stolz auf meinen Film“, sagt er, so als müsse er sich und sein Werk gegen den Rest der Welt verteidigen. Es fehle nur noch die Vertonung, dann sei der Film perfekt. Ein Käufer werde sich garantiert finden, behauptet er: „Qualität setzt sich immer durch.“ Vom Erlös seines Films möchte Mike Lennon eine Stiftung für Feuerwehrmänner gründen. Er will ihnen kostenlos therapeutische Behandlung anbieten. Viele Männer, die am 11. September im Einsatz waren, leiden unter Depressionen, denken, sie hätten den Tod ihrer Kollegen verhindern können.

Mike Lennon sagt, nur wenige der Helfer hätten Rachegelüste. Er selbst wirkt gespalten, als das Thema auf Mohammed Atta und seine Komplizen kommt. Grübelnd streut er zu viel Salz über seinen Salat, runzelt die Stirn und sagt dann unerwartet aggressiv: „Wenn Bin Laden jetzt hier ins Café hereinkäme, dann würde ich ihn eigenhändig umbringen.“ Abschwächend, als sei er über den Ausbruch selbst erschrocken, fügt er hinzu: „Auch ein Jahr danach stehe ich immer noch zu sehr unter Schock, um wirklich etwas für die Terroristen zu empfinden. Ich verstehe einfach nur nicht, wie sie das tun konnten.“

Nervös blickt Mike Lennon auf seine Uhr, eigentlich sind Dienstschluss und Feierabend Ausdrücke, die er nicht mehr benutzt. „Seit dem Anschlag habe ich jeden Tag gearbeitet“, erklärt er und packt seine Sachen zusammen. Zum ersten Mal wird er sich am kommenden 11. September einige Stunden freinehmen, um an der Gedächtnisveranstaltung der Stadt New York teilzunehmen. Doch darüber will er nicht reden, vor diesem Tag graut es ihm. Vermutlich, weil dann die Erinnerungen so stark sein werden. Er muss jetzt gehen, die Arbeit am Film wartet.

Sorgfältig knöpft er seine Uniform zu, zieht die Jackenenden glatt und streicht sich über den linken Ärmel. Unter den vier gelben Buchstaben FDNY ist das offizielle Abzeichen der Feuerwehr zu sehen. Vor dem blauen Hintergrund erkennt man die Skyline von Manhattan. Roten Flammen umzüngeln die Stadt. Nur die Zwillingstürme ragen stolz aus dem Feuer heraus. Als seien sie unverletzbar.

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