: Im Labyrinth der Wirklichkeiten
Der Stoff, aus dem die virtuellen Räume sind: Die Fans des umstrittenen Computerspiels Counterstrike basteln sich am Bildschirm neue Welten, deren Mosaiksteinchen sie der Realität entnehmen. Ästhetische Betrachtungen zu einem Phänomen
von TILMAN BAUMGÄRTEL
Man rennt. Man rennt und rennt durch einen dunklen Gang und dann durch ein halb geöffnetes Tor. Plötzlich steht man in der gleißenden Sonne. Man kneift die Augen zusammen. Der Sand scheint im Licht zu glitzern, über steilen Berggipfeln spannt sich ein tiefblauer Himmel voller dramatischer Wolkenformationen. Vor einem liegt eine Festungsanlage, die Architektur ist nur schwer zuzuordnen.
Die Wände sind aus großen Sandsteinquadern zusammengesetzt, die oben und unten von gemeißelten Ornamenten abgeschlossen werden. Sie werfen scharfe Schatten auf den Sandboden, in dem mit großen Steinplatten Wege angelegt sind. Sie führen durch mehrere verschachtelte Innenhöfe und Gänge, auf eine Empore und in verschiedene Keller. Ist das eine Berganlage in Nordafrika? Ein Tempel im Himalaja? Eine römische Ruine auf Sizilien oder ein Fort in New Mexico?
Es ist „de_dust“. „de_dust“ ist eine Map, eine Art Spielfeld im Computerspiel Counterstrike: das Szenario, im dem Terroristen und Counterterroristen sich gegenseitig jagen. Bei „de_dust“ versuchen die Terroristen, eine Bombe zu legen, ihre Gegner, sie daran zu hindern. In anderen Varianten des Spiels muss man Geiseln retten oder dafür sorgen, dass sie nicht gerettet werden. Zu Recht ist Counterstrike als ein „virtuelles Räuber-und-Gendarm-Spiel“ bezeichnet worden. Drei Jahre ist es alt, und bis heute ist es rund um den Globus das populärste Ballerspiel: In einer Szene, in der ein Game meist nach höchstens einem Jahr out ist, ein einzigartiges Phänomen.
Über Counterstrike wurde hierzulande in den letzten Monaten viel diskutiert. Das Computerspiel, das in Deutschland angeblich täglich eine halbe Million Menschen über das Internet gegeneinander spielen, ist in Verruf geraten, seit bei Robert Steinhäuser, dem Amokläufer von Erfurt, eine CD-ROM mit dem Spiel gefunden wurde. In den deutschen Medien brach daraufhin eine Debatte darüber los, ob Computerspiele wie Counterstrike Jugendliche gewalttätig machen können.
Teenies als Netzkünstler
Die Maps, auf denen Counterstrike basiert, sind in der Diskussion über das Spiel bisher kaum wahrgenommen worden. Dabei sind sie ein bemerkenswertes, kulturelles Phänomen, das man als Weiterführung des Konzepts des „postmodernen Pastiches“ betrachten kann, das in der Kunst und der Architektur der 80er- und 90er-Jahre eine wichtige Rolle gespielt hat. Außerdem hat sich um die Maps eine faszinierende Subkultur entwickelt, deren Angehörige immer neue Counterstrike-Landschaften entwickeln. Hunderte, wenn nicht tausende dieser Maps können von Spiel-Servern im Netz heruntergeladen werden. Die meisten von ihnen stammen von Teenagern.
Die offizielle Version von Counterstrike wird mit achtzehn verschiedenen Maps ausgeliefert. Bevor man eine Runde des Spiels beginnt, muss man sich erst einmal entscheiden, ob man durch ein Landhaus in einem Park inklusive Gartenteich hetzen will („cs_estate“), durch einen Hinterhof in einer amerikanischen Großstadt („de_vertigo“) oder durch einen Jumbojet („cs_747“). Dann geht es los.
Ältere Ballerspiele wie Doom, Quake oder Unreal spielten meist in unterirdischen Laboren, Höhlen oder in den Gemächern von Fantasy-Schlössern; die Gegner waren in der Regel Monster, Außerirdische oder andere unheimliche Kreaturen, die aus dem Dunkel finsterer Ecken, Röhren, Gänge oder Tunnels angriffslustig hervorgeschossen kamen. Die Ikonografie dieser Spiele bediente sich aus dem Fundus von Horror- und Science-Fiction-Filmen.
Counterstrike ist realistischer. Wenn es für dieses Spiel ein Kinovorbild gibt, dann sind es Agenten- und Actionfilme wie „Mission Impossible“. Counterstrike braucht keine Fantasy-Elemente mehr, die wegen ihrer größeren Abstraktion leichter mit dem Computer darzustellen sind – die Entwickler haben die Möglichkeiten der Software so weit ausgereizt, dass sie annähernd fotorealistische Spielszenarios entwerfen können.
Das ist umso erstaunlicher, wenn man weiß, dass Counterstrike eigentlich eine Weiterentwicklung des Ego-Shooters Half-Life ist. Diese „Modification“ wurde von zwei Fans, die damals noch in den USA aufs College gingen, in ihrer Freizeit aus dem Code des kommerziellen Spiels geschaffen. Half-Life spielt in einer halbdunklen, unterirdischen Forschungsanlage, in der man Monster aus einer anderen Dimension bekämpfen muss.
Der technische Fortschritt in der Computertechnologie und dem Erfindungsreichtum der Entwickler, die Half-Life zu Counterstrike umbauten, ist es zu verdanken, dass Counterstrike nun in Szenarios spielt, die nicht nur zu einem großen Teil en plein air gezeigt werden, sondern auch hell wie der lichte Tag sind. Bei anderen Computerspielen stehen Charaktere wie Duke Nukem oder Lara Croft im Mittelpunkt. Hier sind die Figuren hinter Gasmasken, Helmen oder Hasskappen versteckt. Die wahren Helden des Spiels sind seine Landschaften.
Digitale Volkskultur
Nicht nur am Spielcode von Counterstrike haben Schüler und Studenten herumgebastelt. Mit speziellen Programmen kann jeder, der genug Geduld für so eine aufwendige Arbeit hat, eigene Maps herstellen. So hat sich eine digitale Volkskultur entwickelt, und die selbst zusammengeschraubten Counterstrike-Landschaften sind oft besser als die mitgelieferten.
So kann man sich durch digitale 3-D-Versionen eines brasilianischen Ghettos ballern (im Hintergrund läuft leise HipHop auf Portugiesisch), durch Garagen in verschneiten Tundralandschaften, durch die ein eisiger Wind pfeift, durch die Kulisse des Spielberg-Films „Jurassic Park“ oder sogar über ein Monopoly-Brett. „Fun-Maps“ wie Letztere eignen sich zwar nicht zum längeren Spielen, werden aber bei den LAN-Partys, bei denen sich die Counterstrike-Fans zum Turnier treffen, gern mal in einer Pause gezockt.
All diese Maps sind aus hunderten von digitalen Mosaiksteinchen zusammengesetzt. Die Vorlagen werden zum Teil mit der Digitalkamera in der Nachbarschaft abfotografiert: Briefkästen, Klingelbretter, Straßenschilder oder Gullydeckel. Ein großer Teil der dreidimensionalen digitalen Collagen – nichts anderes sind die Maps – stammt aus dem endlosen Fundus des Internets, in dem die Mapper sich gotische Fensterbögen oder aztekische Ornamente zusammensuchen.
Der amerikanische Architekt Robert Venturi hatte 1972 in seinem programmatischen Buch „Learning from Las Vegas“ für eine Architektursprache plädiert, die die Zeichen und Symbolik der Trivial- und Massenkultur zum Ausgangspunkt nimmt. Zusammen mit Kollegen wie Charles Moore oder Robert Stern entwickelte er eine Architektur, die mit Zitaten und formalen Referenzen spielt und historische Vorbilder in einer spielerischen Pseudomimikry aufrief. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Fredric Jameson hat diese Methode des Pastiches, der Kombination von Anspielungen auf ganz verschiedene kulturelle und historische Bereiche, als typisch für die Postmoderne bezeichnet und als Vorgehensweise auch in der Literatur und dem Kino entdeckt.
Die Counterstrike-Mapper gehen über dieses Verfahren noch hinaus: Sie kombinieren disparate Elemente, jedoch nicht im collagierenden Stil der postmodernen Architektur, die noch die Unterschiedlichkeit ihrer Quellen betont, sondern indem sie sie zu einem neuen Kontext verbinden. Eine Holztür von einer Website über englische Landhäuser, die Kacheln der Mensatoilette, ein Giebel aus einem Buch über die Provence gescannt, ein Britney-Spears-Poster von der Website des Popstars, eine Bierflasche aus dem Supermarkt gegenüber – das ist der Stoff, aus dem die Counterstrike-Maps bestehen. Aus den disparaten, zusammengesuchten Elementen ist wieder ein in sich geschlossenes visuelles System geworden: eine neue Welt aus alten Teilen.
Homogener Kosmos
Die Einzelteile sind einer erstaunlich homogenen Ästhetik untergeordnet, die den Look der meisten Counterstrike-Maps prägt. Grelle Farben und Pop-Referenzen werden vermieden, stattdessen dominieren gedeckte Grau-, Blau- und Brauntöne und Szenarios, die von wirklichen Orten inspiriert worden sind.
Im Gegensatz zu dem Egoshooter-Klassiker Doom, der in seinen neuen Versionen immer stärker auf comichafte Bilder setzt, arbeiten sich die Counterstrike-Mapper an einem Bilderkosmos ab, der oft an den Fotorealismus in der Kunst der 70er-Jahre erinnert – wäre da nicht im Vordergrund die Waffe, die ins Bild hineinragt. Die nachgebauten Schulgebäude, die in der Vergangenheit immer wieder für Empörung gesorgt haben, fehlen dabei weitgehend.
Besonders gut gelungene Einrichtungsgegenstände aus ihrem Privatkosmos stellen die Mapper auf ihren Websites dem Rest der Gemeinde zur Verfügung. Diese „Prefabs“ können schlichte Palmen, ein Wasserturm oder eine Coladose sein, aber auch kompliziertere Modelle wie ein Gabelstapler oder ein Wasserfall. Zwar widerspricht es dem Ehrenkode der echten Mapper, Gestaltungselemente von anderen zu übernehmen. Trotzdem stehen in Maps, die so weit voneinander entfernte Orte wie eine McDonald’s-Filiale in Deutschland oder ein Büro in den USA zeigen, zuletzt die gleichen Colaautomaten.
Wer nach einer ausgedehnten Counterstrike-Session wieder auf die Straße tritt, sieht eine Welt, die sich in ihre Einzelteile auflöst. Jede Straßenlaterne, jede Zaunlatte wirkt wie ein Prefab, der Gipsputz Berliner Altbauten zerlegt sich in seine standardisierten Elemente, und hinter jedem Ziegel, jeder Kachel und jedem Pflasterstein steckt eigentlich eine .jpg-Datei, die über ein Gittermodel gelegt wurde. Und die Kisten, die sich da vor dem Lieferanteneingang des Supermarkts stapeln – stammen die nicht noch aus Half-Life?
Viele Dank an die „Mapper“, die bei der Recherche für diesen Artikel geholfen haben: Bruder D (http://www.bruderd.rockz.de), Flashgott (http://www.flashgott-maps.de), The Dönerking (http://www.thedoenerking.de), moco2k (http://www.moco2k.de)
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