: Sozialhilfe für Millionäre
Die scheinbar so „überparteiliche“ Hartz-Kommission ist tatsächlich Partei – für die Wohlhabenden. Armut soll in Deutschland weiter unter den Armen umverteilt werden
Wer momentan nicht über die „Sintflut“ redet, der spricht über Peter Hartz. Er ist ein charmanter Mann, manche nennen ihn auch charismatisch, und im Hauptberuf arbeitet er als Personalchef bei VW. Man weiß inzwischen, dass er vor einer Woche 61 Jahre alt wurde, dass er Bedenkenträger nicht schätzt und dass er seine Arme ausbreitet, wenn er Gesprächspartner überzeugen will. Ja, man redet über Peter Hartz.
Und man spricht über seine Kommission. Dieses „überparteiliche“ Gremium überreichte gestern seine Reformvorschläge für den Arbeitsmarkt. Der Bundeskanzler stellte sich „hinter das Gesamtkonzept, das nicht zerredet werden darf“. Die Opposition höhnt, was soll sie sonst tun. Die CDU hat entdeckt und wiederholt es nun ständig, dass die Hartz-Vorschläge bereits das 53. arbeitsmarktpolitische Gutachten der rot-grünen Koalition seien. Andere kritisieren Einzelpunkte, etwa den „Job-Floater“: Wie soll der funktionieren? Peter Hartz gibt zu, dass es bisher nicht gelungen ist, dieses „Instrument aus dem Werkzeugkasten des internationalen Investmentbanking“ plausibel zu erklären. Was bei allen Streitereien schnell übersehen wird: Der Dissens ist auch Konsens.
Man ist sich einig, dass über Hartz geredet werden muss. Damit hat die Hartz-Kommission schon einen Zweck erfüllt. Denn Reden ist Handeln. Diese Politikstrategie hat als Erster Heiner Geißler mit einem Namen versehen. Damals, in den 70er-Jahren, als er noch CDU-Generalsekretär war, nannte er das „Begriffe besetzen“. Daraus haben viele geschlossen, entscheidend sei, wer wann wie welchen Ausdruck für sich okkupieren kann. Doch das ist ein Missverständnis. Genauso wichtig, vielleicht wichtiger ist: Was wird nicht diskutiert? Es gibt einen Verdrängungswettbewerb der Begriffe. Dominiert der eine, können sich andere nicht artikulieren.
Der Ausdruck, der in den Hartz-Debatten völlig fehlt und systematisch ausgeblendet wird, heißt ganz schlicht: Reichtum. Nie wird thematisiert, dass 10 Prozent der Deutschen knapp die Hälfte des gesamten Privatvermögens besitzen – während sich umgekehrt die Hälfte aller Deutschen mit nur 4,5 Prozent des Volksvermögens bescheiden müssen. Und es interessiert auch nicht, dass sich diese Schere ständig weiter öffnet. Dass die Reichen immer reicher werden.
Vermögen ist kein Thema, man konzentriert sich auf die Armut und debattiert: Zeitarbeit unter Tarif, Niedriglöhne oder ein neues „Arbeitslosengeld II“. Stets kreist der Diskurs um die unteren Schichten. Dabei wird unterstellt, dass der Arme nicht mehr arm sei, wenn er arbeiten könnte. Nichts ist ferner der Realität. Die Armut wird unter den Armen umverteilt. Wer jetzt schon Arbeit hat, aber wenig verdient – der wird bald erleben, dass sein Einkommen noch weiter sinken kann. Die Billigkonkurrenz der Niedriglöhner macht es möglich.
Die scheinbar so „überparteiliche“ Kommission ist Partei – für die Wohlhabenden. Die Absurditäten der Vermögensverteilung werden höchstens ungeplant zum Thema. Zwei Beispiele aus den letzten Tagen.
Nummer 1: Peter Hartz hatte zwischendurch die Idee, man könnte Investitionen im Osten finanzieren, indem Steuersünder eine Art Amnestie erhalten. Er wollte jene 300 Milliarden Euro nach Deutschland zurück locken, die momentan illegal im Ausland angelegt sind. 300 Milliarden Euro Schwarzgeld – das klingt zwar viel, ist aber auch abstrakt. Doch wird es plötzlich konkret, wenn man diese Zahl mit den Summen für die Sozialhilfe vergleicht. Insgesamt gaben die Kommunen im Jahr 2000 netto 8,7 Milliarden Euro für die „Hilfe zum Lebensunterhalt“ aus. Das ist nur etwa ein Drittel der Summe, die der Fiskus kurzfristig bei den Steuersündern eintreiben könnte, wie die Deutsche Steuergewerkschaft schätzt.
Inzwischen ist man von der Amnestie wieder abgekommen. Das Argument wirkt plausibel: Es sei ungerecht, illegale Vermögenstransfers zu belohnen. Die ehrlichen Steuerzahler müssten sich ja für dumm verkauft fühlen. Also setzt man lieber auf die europäische Harmonisierung und auf das bürokratische Schneckentempo, versucht Druck vor auszuüben, vor allem auf die Schweiz. Das ist ehrenwert. Aber es bleibt erstaunlich, dass der Schmuggel von Reichtum so wenig empört. Würde sich die geballte Wut der Gesellschaft gegen geheime Konten in der Schweiz wenden, dann gäbe es diese illegalen Vermögen vielleicht nicht mehr. Gezielte Konsumentenboykotte gegen alle Schweizer Firmen könnten die eidgenössischen Banken zur Transparenz zwingen. Aber so eine Idee wird noch nicht einmal diskutiert. Man redet über Hartz, Arbeitslose und erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger.
Zweites Beispiel: Vor drei Tagen wurde die Erbschaftssteuer plötzlich Thema. Der Bundesfinanzhof hat das Verfassungsgericht angerufen. Es erschien den Richtern ungerecht, dass vererbtes Geldvermögen höher versteuert werden muss als etwa nachgelassene Immobilien oder Betriebsvermögen. Dies verstoße gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung der Bürger. Das Urteil wird mindestens ein Jahr auf sich warten lassen.
Der Vorgang ist in zweifacher Hinsicht typisch: Nicht die Gesellschaft verlangt eine Reform der Erbschaftssteuer, sondern ein Gericht. Und es geht auch gar nicht um allgemeine Gerechtigkeit, sondern nur um die Gerechtigkeit zwischen Erben. Es ist weiterhin kein Thema, dass die Erbschaftssteuer insgesamt viel zu niedrig angesetzt ist. Das gilt besonders für große Vermögen.
Experten schätzen, dass in den nächsten zehn Jahren etwa 2.500 Milliarden Euro vererbt werden. Rund die Hälfte davon geht an die Reichsten, etwa 10 Prozent der Bevölkerung. Zahlen müssen sie dafür fast nichts.
Wer die richtigen Eltern hatte, darf kassieren, ohne irgendetwas zu leisten – das ist Sozialhilfe auf allerhöchstem Niveau. Zumal sich diese soziale Hilfe keineswegs in Sachwerten erschöpft. Wer Vermögen hat, ist meist auch sehr gut ausgebildet, hat allerbeste Beziehungen. In Deutschland wird zwar gern von „Leistungseliten“ gesprochen. Doch sieht man sich die Familien der Führungskräfte an, dann wird klar: Wir leben in einem Land der Herkunftseliten.
Deutschland ist eine Klassengesellschaft. Aber darüber redet man nicht. Die Sozialhilfe für 8 Millionen Reiche ist kein Thema. Aber man beschäftigt viele tausend Beamte, um die Hilfen für die Ärmsten auf den Cent genau zu berechnen.
Die einen sprechen über Hartz, die anderen über die „Sintflut“. Das ist übrigens kein Gegensatz – sondern das gleiche Thema. Denn die Wassermassen erinnern uns daran, dass es ökologische Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums gibt. Wachstum war bisher ein beliebtes Mittel, um die Ungerechtigkeiten ein bisschen auszugleichen. Man verteilte nicht die Substanz, sondern ein wenig vom Überschuss. Werden diese knapper, stellt sich die Verteilungsfrage neu. Vielleicht fällt dann auf, wie viel ungerechten Reichtum es gibt. Dann wird es nicht mehr möglich sein, nur über die Armen zu reden. ULRIKE HERRMANN
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