nach gysis rücktritt: Macht, Moral und die Linke
Drei Politiker linker Parteien sind zurückgetreten: Rudolf Scharping, Cem Özdemir und Gregor Gysi. Gewiss, die Fälle liegen verschieden: Scharpings Rücktritt war überfällig. Özdemir erscheint heute als das zielsicher ausgesuchte erste Opfer der Bonusmeilen-Kampagne der Bild-Zeitung. Gysi dagegen ist an sich selbst gescheitert.
Kommentarvon STEFAN REINECKE
Scharping, Özdemir, Gysi – das sind drei verschiedene Fälle, die zusammen betrachtet ein Muster ergeben. Die Botschaft der drei Rücktritte lautet: Die deutsche Linke hat ein ungelöstes Problem mit Macht und Moral.
Zum Beispiel Gysi. Es ist egal, ob man den Rücktrittsbegründung des Sozialisten glaubt oder sie für einen Trick hält, um ein ungeliebtes Amt loszuwerden. Gysis Schritt zeigt zweierlei: Rot-Rot hat in Berlin – außer Sparen – einfach keine Idee. Wenn SPD-PDS eine florierende Koalition wäre, dann wäre er noch Senator – Bonusmeilen hin oder her.
Zweitens: Die moralische Ordnung der Arbeiterbewegung, in der das Individuum wenig, das Kollektiv viel und die gemeinsame Sache alles zählte, existiert nicht mehr. Für die SPD hat das Oskar Lafontaine demonstriert, für die PDS nun Gregor Gysi, der seiner eigenen Moral folgt und so seiner Partei schadet.
Und Scharping? Gewiss, der Fall lag anders. Gysi gibt das Amt leicht, zu leicht auf. Scharping klammerte sich an seinen Posten bis zuletzt in verzweifelter Egomanie. Doch es gibt Gemeinsames: Denn auch Scharping, der treue Parteisoldat, der die Welt der Public Relations und Polit-Inszenierung entdeckte und dort unterging, zeigt die Auflösung des tradierten linken Moralkodexes.
Kurzum, die traditionelle, kollektivistische Parteimoral der Linken ist mit der Arbeiterbewegung untergegangen – übrig geblieben ist eine hohe, manchmal zu hohe individuelle Moral. Oder kann sich jemand vorstellen, dass Roland Koch wegen eines Kredits, wegen Bonusmeilen oder eines Buchhonorars zurücktreten würde? Eben.
Das Beispiel zeigt: Moralfragen sind auf tückische Art mit der Machtfrage verknüpft. Kann es sein, dass die linke Rücktrittsfreudigkeit ein Zeichen für mangelnden Machtwillen ist? Es gibt zumindest die Gefahr, dass sich diese Lesart durchsetzt. Wenn die Linke (wie Rot-Grün derzeit) gerade keine zündende Idee mehr hat, tritt sie zurück. Dies würde auf fatale Art das eingeschliffenen Vorurteil erhärten, dass die deutsche Rechte eine Art natürlichen Anspruch auf die Macht hat. Das ist, in Richtung 22. September, eine trübe Aussicht.
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