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Zu viele Söhne

„Die Zeit ist nicht auf unserer Seite“: Demografische Analysen werfen ein ungewohntes Licht auf den 11. September und seine Folgen

von GUNNAR HEINSOHN

Als US-Präsident George Bush wenige Tage nach den Angriffen auf New York und Washington von einem Terrorkrieg auf „Jahre hinaus“ sprach und Richard Myers, Vorsitzender der Oberkommandierenden aller US-Streitkräfte, sogar „unser ganzes Leben lang“ dafür veranschlagte, blieb der für diese enorme Kampfzeit unterstellte Hauptgrund meist unbenannt. Regierungsnahe Autoren hingegen bezeichnen ihn gern salopp als youth bulge. Dieser Slang meint das Vorkragen der Gruppe der 15- bis 29-Jährigen auf den demografischen „Bäumen“ oder Pyramiden, mit denen die Altersverteilung einer Nation abgebildet wird.

So verweist Samuel Huntington seit seinem 1996 erschienenen „Clash of Civilizations“ immer wieder darauf, dass die islamischen Länder – bei derzeit 500 Millionen Kindern unter fünfzehn – mit 150 Millionen Söhnen im Überschuss gesehen werden müssen, die in den kommenden anderthalb Jahrzehnten ihr bestes Kampfalter (15 bis 29) erreichen. Und schon unter den jetzt 15- bis 29-Jährigen seien hundert Millionen ohne zumutbare Perspektive. Die USA hingegen, als mächtigstes und auch geburtenfreudigstes Land des Westens, haben heute – bei 280 Millionen Einwohnern – gerade dreißig Millionen Söhne unter fünfzehn Jahren, von denen in Zukunft niemand entbehrt werden könne – schon gar nicht beim Kämpfen.

Das angelsächsische Denken greift relativ unbekümmert zum demografischen Argument. Seit dem National Security Study Memorandum von 1974 über „Auswirkungen des weltweiten Bevölkerungswachstums auf die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Interessen in Übersee“ bildet es eine feste Linie amerikanischer Strategie. Im deutschsprachigen Raum hingegen überwiegt Skepsis oder gar die Unkenntnis solcher Analysen.

Für eine differenzierte Mittlerposition gilt erst einmal, dass junge Männer nicht an sich eine tödliche Gefahr darstellen. Nicht um eine stürmische Jugend insgesamt, sondern um potenzielle Krieger aus Ländern mit dem Zusatzproblem eines youth bulge geht es in der strategischen Analyse. Gewiss sind, verglichen mit jungen Frauen, die jungen Männer auch in ansonsten stabilen Nationen mit über neunzig Prozent der Gewalttaten eindeutig das aggressivere Geschlecht. Aber unter den Jungen selbst sind die Gewaltgetriebenen und dafür nach höheren Rechtfertigungen Suchenden doch nur eine Minderheit von weniger als zehn Prozent.

Eine Nation mit absolut sehr vielen jungen Männern bedeutet nicht automatisch Gefahr für Minderheiten im eigenen Land oder gar für andere Nationen mit weniger jungen Männern. Ein Gebiet nähert sich – in der Terminologie der Völkermordfrühwarnung – erst dann dem dauerhaft zu beobachtenden red-alert-Bereich, wenn die Zahl der neu hinzukommenden jungen Männer über mehrere Generationen hinweg deutlich höher liegt als die Zunahme der für sie noch akzeptablen Lebenspositionen. Diese haben nichts mit absoluter Armut zu tun. Hungernde spielen bei Emigration und Aggression eine zu vernachlässigende Rolle.

Wenn lediglich eine Generation von Vätern zwei oder mehr Jungen in die Welt setzt, diese selbst dann aber nur noch einen Sohn bekommen, ergibt sich noch keine bedrohliche Situation, sondern lediglich ein Babyboom. Die westliche Studentenbewegung der sechziger- und siebziger Jahre stammte aus einem solchen demografischen Einmalereignis. Das Gewaltpotenzial dieser Generation hat sich nicht zuletzt deshalb schnell eindämmen lassen, weil ihrer großen Mehrheit erträgliche Karrieren angeboten wurden.

Der keineswegs erste, aber erstmals gut belegte youth bulge baut sich an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert in Europa auf. Er ist Ergebnis der Todesstrafen auf Geburtenkontrolle zur „Repöplierung“ nach dem Bevölkerungsabsturz von siebzig auf vierzig Millionen in den Pestepidemien seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Am besten statistisch nachvollziehbar, aber typisch für ganz Westeuropa ist die nun explosionsartige Entwicklung brisanter youth bulges für einige Grafschaften Englands. Im Zeitraum von 1416 bis 1440 hinterlassen dort hundert Väter lediglich 82 Söhne. Im Zeitraum 1491 bis 1505 hingegen folgen auf hundert Väter 202 Söhne. Ein Jahr vor der ersten Ausfahrt des Kolumbus (1492) haben England und die übrigen Länder Europas doppelt so viele Söhne zur Verfügung wie wegsterbende Väter Positionen frei machen. Und dabei handelt es sich eben nicht um einen einmaligen Babyboom, sondern um das Resultat einer dann über vier Jahrhunderte eisern durchgehaltenen Bevölkerungspolitik, an deren Ende der kleine Kontinent um 1900 mit vierhundert Millionen Einwohnern über ein Viertel der Menschheit beherbergt. Heute ist der Anteil längst wieder unter zehn Prozent gesunken. Im gleichen Jahrhundert hat die islamische Bevölkerung von 160 Millionen (1900) auf 1,2 Milliarden (2001) zugenommen und dabei ihren Weltanteil von zehn auf zwanzig Prozent verdoppelt.

China als auch damals volkreichstes Land der Erde hat im Jahr 1500 mehr Söhne als Europa, aber es hält durch Geburtenkontrolle das Verhältnis zwischen Wegsterbenden und Nachwachsenden stabil. Europa tut das glatte Gegenteil. Seine Söhne erobern zwischen 1500 und 1700 – mit Restgebieten bis 1900 – sehr schnell über die Hälfte der Welt. Mit Methoden, die seit der UNO-Völkermordkonvention von 1948 als genozidal definiert sind, dezimieren und kolonisieren sie die einheimischen Bevölkerungen in den gewaltigen Territorien, die heute Angloamerika, Lateinamerika, Russisch-Asien, Australien und Neuseeland sowie Burisch-Afrika heißen. Der weltweite Siegeszug der europäischen Medizin und Fortpflanzungsmoral (globale Durchsetzung des Kindestötungsverbots gegen 1900) hat auch in den übrigen Gebieten der Erde dazu beigetragen, dass die Weltbevölkerung von 500 Millionen im Jahr 1500 auf 6,2 Milliarden im Jahr 2002 angestiegen ist.

Der Begriff „Kolonisation“ erweist sich bei genauem Hinsehen fast durchweg als Euphemismus für eine Mixtur aus Ansiedlung und Tötung. Das gilt auch für das erste vorchristliche Jahrtausend, als Griechen, Phönizier und Römer ihre überzähligen Söhne – die gesunden wurden meist großgezogen, während bereits das Aufziehen eines einzigen Mädchens der Sitte Genüge tat – für die Kolonisation ausstatten. Die Siedler haben – nach Raub der Töchter – die Stämme um das Mittelmeer sehr schnell unterworfen oder eliminiert und stoßen dann in großen Kriegen direkt aufeinander. Die von den Alten zu Recht gerühmte Pax Romana setzt erst ein, als im Jahr 146 v. Chr. mit der Schleifung und Ausmordung von Korinth (50.000 Tote bei 120.000 Einwohnern) und Karthago (150.000 Tote von 250.000 Einwohnern) die größten Städte der Griechen und Phönizier ausgelöscht sind.

So megablutig und riesenhaft selbst im Vergleich zur Antike die Umwandlung der Welt ab 1500 heute anmutet, so darf doch nicht vergessen werden, dass es gerade fünfzig Millionen Söhne und Töchter Europas waren, die sie als „Auswanderer“ zwischen 1500 und 1900 exekutiert haben. So viele könnte das heutige Indien mit seinen bald 350 Millionen Kindern unter fünfzehn Jahren an einem einzigen Tag zur Verfügung stellen und hätte – bei siebenhundert Millionen Einwohnern über fünfzehn Jahren – immer noch mit einem youth bulge fertig zu werden.

Die Verzwölffachung der Weltbevölkerung seit 1500 hat in der Gegenwart ganz unstrittig zu mehr und massiveren youth bulges als je zuvor in der Geschichte geführt. Sie liegen überall dort vor, wo, wenn man eine Faustformel gebrauchen will, auf sechs Einwohner zwei oder mehr Kinder unter fünfzehn Jahren kommen. Mit Indien, der islamischen Welt, Schwarzafrika (siebenhundert Millionen Einwohner) sowie weiteren Staaten Asiens und Lateinamerika geht es um Gebiete mit etwa 3,5 Milliarden Menschen. Wo auf vier Einwohner ein Kind kommt – wie in China mit 320 Millionen Kindern bei 1.280 Millionen Einwohnern –, ergibt sich tendenziell eine demografische Säule beziehungsweise eine stabile Bevölkerung. Wo, wie in Westeuropa, auf sechs bis sieben Einwohner nur noch ein Kind kommt, werden die über Fünfzigjährigen zur Bevölkerungsmehrheit, so dass man von einem Bevölkerungspilz bzw. von Schrumpfung spricht.

Längst gibt es in zahllosen youth-bulge-Ländern Massenkriminalität, Innenterror, Abschlachtung ganzer Dörfer, Bürgerkrieg, Völkermord, Staatszusammenbrüche, Boat- und Truckflüchtlinge, Außenterror und Krieg. Es konnte deshalb nicht ausbleiben, dass die Strategen der Terrorbekämpfung sie in den Blick genommen haben. Und es kann nicht überraschen, dass sich das Hauptaugenmerk erst einmal auf Gebiete mit vergleichsweise hoher Bildung (Islam, Lateinamerika) richtet. Junge Akademiker, die langwierige schulische Ausleseprozesse überstanden haben, verlangen anspruchsvollere Positionen als diejenigen, die schon in früher Kindheit auf die unteren Ränge des Bildungssystems oder gar das Analphabetentum fixiert worden sind.

Unter den Überschüssigen sind es also die qualifizierten jungen Männer, die das Talent und – wichtiger noch – das Nervenkostüm für den Aufbau schlagkräftiger Bewegungen mitbringen. Auch die Sucht nach Geltung, auf die es ein Menschenrecht doch nicht geben kann, ist bei ihnen am stärksten ausgeprägt. Gewiss können Religionen und Ideologien, die sich besonders gut als Rechtfertigung einer Heilssicht des Tötens eignen, für zusätzliche Sprengkraft sorgen. Erst einmal jedoch müssen diejenigen, die für eine Sache tötungs- und todeswillig gemacht werden sollen, vorhanden und überdies ohne attraktive Alternative sein.

Bedrohliche Auswirkungen der aktuellen youth bulges werden häufig als ebenso zwangsläufig hingestellt wie die der frühen Neuzeit, sie sind es aber nicht. Jedermann weiß, dass kleine Territorien mit klaren Eigentumsverhältnissen und entsprechend innovativen Geldwirtschaften selbst langfristig wachsende Bevölkerungen ökologisch passabel versorgen können. Hochtechnologieländer wie Hongkong, Südkorea und Taiwan sind hierzu immer wieder präsentierte, weil auch mit viel westlicher Anleitung zustande gekommene Beispiele. Das schlagendste Vorbild liefert allerdings Westeuropa selbst, das seine Bevölkerung zwischen 1500 und 1950, als fünfzig Millionen „auswanderten“, verzehnfacht hat.

Allerdings ist dies eine Betrachtung aus dem Nachhinein, die dem Kolonisten von 1520 oder 1750 nicht zugänglich sein konnte. Im Moment seines Erwachsenwerdens – und mit den Brüdern neben sich – war er in Europa abkömmlich. Der mögliche Kampf gegen Eingeborene schien ihm leichter als die Erhebung gegen seinen hochgerüsteten Fürsten. Dennoch ist es gerade die Sicht aus dem Nachhinein, die Zuversicht vermitteln kann, dass eine brisante demografische Lage nicht automatisch in Massentötungen enden muss.

Um solche und vorstellbar ähnliche Lösungen wissen die Sicherheitsstrategen. Sie schließen sie auch für die Zukunft keineswegs aus. Allerdings rechnen sie nicht fest darauf, dass erforderliche Reformen rechtzeitig und in ausreichend vielen youth-bulge-Nationen durchgeführt werden. Und selbst jedem Pessimismus Abholde müssen einräumen, dass noch niemand vorgemacht hat, wie quasi auf einen Schlag und auf friedliche Weise eine drittel Milliarde junger Männer aus der Misere in ein passables Leben zu transferieren ist. Allerdings wird darüber auch kaum öffentlich nachgedacht. Stattdessen gibt es die hinter vorgehaltener Hand geäußerte Überzeugung, dass die Massenvernichtungswaffen des Westens schon dafür sorgen werden, dass ihm selbst die europäische youth-bulge-Lösung der Jahre 1500 bis 1900 erspart bleibt.

Diese Kombination aus öffentlicher Tabuisierung und privaten Genozidfantasien mag dazu beitragen, dass die westlichen Militärführer sich mit ihrem „Si vis pacem, para bellum“ – Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor – erst einmal auf bedrohliche oder gar schlimmste Szenarien einstellen. Und in der Tat: Wie sollen – einmal an der Macht – die 60 Millionen Kinder Amerikas auch nur die dann erwachsenen 61 Millionen Kinder Pakistans (145 Millionen Einwohner) befrieden, reformieren oder gar versorgen? Insofern hört sich ein General in seinen Fünfzigern doch recht optimistisch an, wenn er ein Ende des Terrorkrieges noch zu seinen Lebzeiten für möglich hält. Am 29. Januar 2002 allerdings klang sein Präsident schon deutlich besorgter: „Unser Krieg gegen den Terror hat gut begonnen, aber er hat gerade erst angefangen. […] Wir werden umsichtig handeln. Aber die Zeit ist nicht auf unserer Seite.“ Am 6. Februar 2002 erläuterte – wiederum vor dem amerikanischen Kongress – CIA-Direktor George Tenet diese Sorge: „Armut und politische Instabilität im Mittleren Osten und im Subsaharagebiet haben für die Rekrutierer von Terroristen einen überaus fruchtbaren Boden bereitet. In den kommenden zwei Jahrzehnten werden diese Regionen die größten Bevölkerungen an Jugendlichen haben, unter denen die Wahrscheinlichkeit, Terrorist zu werden, am höchsten ist.“

GUNNAR HEINSOHN lehrt am Raphael-Lemkin-Institut für Xenophobie- und Genozidforschung der Universität Bremen. Er ist – unter anderem – Autor des „Lexikons der Völkermorde“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1998, 469 Seiten, 9,90 Euro

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