: Absurd verzerrte Proportionen zwischen Birkengehölz
■ Individualistischer Funktionalismus in Estland. Eine Architektur-Schau in der Freien Akademie der Künste
„Schmerz ist das Privileg der Erwählten“, schrieb 1976 der estnische Lyriker Artur Alliksaar. Und gespürt haben es die Esten immer während der 50-jährigen Sowjet-Okkupation: Dass sie Teil Europas sind, dass ihre Sprache der finnischen näher steht als der russischen und dass sie, sobald möglich, auch politisch zu Europa gehören wollen. Und sie haben es fast geschafft: Die Inflation ist seit 1992 von 1000 auf 4,1 Prozent gesunken, der Handel mit Russland seit 1991 von 80 auf zehn Prozent gesunken, der mit Westeuropa um 80 Prozent gestiegen. Deshalb haben die Esten gute Chancen, 2004 zu den ersten EU-Osterweiterungs-Beitrittskandidaten zu gehören.
Durch die „Singende Revolution“ war das östlichste baltische Land zu Perestrojka-Zeiten in die Schlagzeilen geraten. 1991 errang der Staat, zum zweiten Mal seit 1918, die Souveränität und setzt seitdem legal fort, was zu Sowjet-Zeiten nur eingeschränkt möglich war: die Suche nach Ausdrucksmitteln nationaler Identität und neu gewonnener Unabhängigkeit.
Die architektonische Facette dieses Wandlungsprozesses ist derzeit in der Freien Akademie der Künste zu sehen. Der Titel der Schau: Baustelle: Estland – Zehn Jahre Bauen im wieder unabhängigen Estland. Ein Motto, das wörtlich zu nehmen ist, denn eine einheitliche Stadtplanung existiert dort derzeit nicht. Zu kompliziert sind die Besitzverhältnisse, da viel ehemals enteignetes Land zurückgegeben werden muss. Ein Prozess, der nur parzellenweise gelingt und kontinuierliche, großflächige Planung verhindert.
An die Stelle zentraler Städteplaner sind daher – und diesen Pluralismus zeigt die Schau – seit 1991 etliche Architekturbüros getreten, die sich westlichen Strömungen anzunähern suchen, ohne zu kopieren: Funktionalistisch wirken die meisten der jüngeren Bauten aus Tallinn, Pärnu und Tartu – ein Gestaltungsprinzip, das schon der US-amerikanische Architekt Louis Sullivan um die Jahrhundertwende als „demokratisch“ bezeichnete. Für seinen Zeitgenossen, den Niederländer Hendrik Petrus Berlage, war Funktionalismus gar Ausdruck einer „moralisch-politischen Revolution“, da in den unhierarchischen Bauten die Gleichheit aller Menschen verwirklicht werde.
Als Symbol erstarkenden Selbstbewusstseins betrachtet der Kunstkritiker Leonhard Lapin den aktuellen individualistischen Funktionalismus Estlands – und als Symbol ehemals verbotener staatlicher Unabhängigkeit. Und nicht zufällig ähneln die estnischen architektonischen Formen der 90er Jahre denen der derzeit wegweisenden finnischen Architekten Sakari Aartelo und Esa Piironens: In die nordeuropäische Tradition klarer Formen ordnen sich moderne estnische Bauten ein. Ziel ist dabei nicht nur die Erschaffung gleichberechtigter Räume, sondern auch der fließende Übergang der Wohn- und Arbeitsebenen. Die Farben Schwarz und Weiß beherrschen viele Bauten, deren kubische Formen die strengen Gestaltungsprinzipien der seit den 30er Jahren in Estland rezipierten Stilrichtung spiegeln.
Und doch proben die jungen estnischen Architekten den Ausbruch: Dezent werden etwa die Proportionen verschoben: Ein Quäntchen zu weit nach links gezogen ist die Einfahrt eines Tallinner Einfamilienhauses von Emil Urbel und Taso Mähar. Einen Hauch zu niedrig wirkt das schmale horizontale Fensterband darüber. Irritierend schmal ist auch das vertikale Fenster eines anderen Wohnhauses, dessen weiße Mauern die Farbe der umgebenden Birkenstämme potenzieren. Das Licht wollen die jungen estnischen Architekten einfangen, die Weiß zudem als Zeichen des fürsorglichen Umgangs mit der Natur deuten. Und sie ziehen, jedenfalls optisch, die Gesetze der Statik in Zweifel – wie bei jenem Tallinner Haus, das auf seiner linken Ecke zu balancieren scheint.
Der Fassade des weißen Hochhauses von Andres Siim und Kristel Ausing wiederum wurde in absurder Höhe ein schwarzer Balkonkäfig vorgeblendet, der stetig zu stürzen droht. Eine Gratwanderung zwischen wegweisender und eitel manirierter Architektur, die für die schwierige Suche nach neuen Ausdrucksformen steht. Und für die Selbstbesinnung einer Nation, die bald wird entscheiden müssen, welche Rolle sie im baltischen und europäischen Kontext spielen will. Auch hierfür steht das architektonische Spiel mit Perspektive und Proportion. Petra Schellen
Baustelle: Estland. Freie Akademie der Künste, Klosterwall 23; Di–So 11–18 Uhr; bis 7. April
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen