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Die Geister, die sie riefen

Die wahre Ökumene von Nachwuchsmob und Altkadern bei der Buchvorstellung an der Volksbühne misslang: Michael Hardts und Antonio Negris gewaltiges Theoriewerk „Empire“ liegt auf Deutsch vor

von JAN ENGELMANN

In letzter Zeit erleben wir wieder häufiger, dass Heerscharen von Lesern ihr Bedürfnis nach Weltexegese auf ein einzelnes Buch projizieren, es vom bloßen Druckerzeugnis erheben zum Fetisch und unerlässlichen Begleiter in allen Lebenslagen. Natürlich ist dies kein neues Phänomen. Aber es ist schon auffällig, wie sehr etwa den deutschen Übersetzungen von Naomi Kleins „No Logo“ oder Giorgio Agambens „Homo Sacer“ entgegengefiebert wurde, weil man sich davon offenbar eine Art Nothilfe für neoliberale Lebensaspekte versprach. In beiden Fällen erwies sich diese Hoffnung als übereilt. Im ersteren Fall hatte man es mit einer fleißigen Studie zu tun, die zwar mit einigen Handlungsempfehlungen aufwartete, aber mangels neuer Thesen bemerkenswert unkontrovers blieb; im zweiten Fall überwältigte und lähmte der große theoretische Wurf, auch weil Agamben keinen Ausweg aus dem schwarzen Loch seiner Diagnose wies. Das allseits herbeigesehnte Großoeuvre der Nullerjahre muss wohl beides leisten: einen Standpunkt „mittendrin“, sozusagen eine Ethnographie des falschen Lebens – und die hoffnungsvolle Fernsicht von der Schulter des Riesen.

Die Programmpunkte für ein solches „hilfreiches“ Buch sind festgelegt und lassen nicht allzu viel Spielraum: die wachsende Ungleichheit im weltweiten Maßstab, die Fortdauer gewaltsamer Konflikte, das Versagen von dieser und jener Institution, die spektakuläre Bildbetäubung und die daraus resultierende Politikunlust – you name it. Schließlich, als Wichtigstes, weil oftmals geleugnetes Publikumsinteresse: die unstillbare Sehnsucht nach Gemeinschaft und Zusammenschluss. Verlangt wird ein quasiliturgischer Text, der Hoffnung auf Erlösung, und bitte nicht erst am Sanktnimmerleinstag, zu vermitteln vermag – Funktionen, die gemeinhin dem Genre des politischen Manifests zukommen. Doch wie altbacken das schon klingt – „Manifest“! Eine Ode an die Freiheit, angereichert mit Trompetenstößen? Nichts da. Hier spätestens klopfen die Stilpäpste vorsorglich auf die Finger. Pathosformeln werden misstrauisch beäugt im Vergnügungspark der absteigenden Dienstleistungshipster.

„Empire“, das soeben auf Deutsch erschienene Buch von Michael Hardt und Antonio Negri, muss fast unter der Last einer solchen lebensästhetischen wie lebenspraktischen Erwartungshaltung zusammenbrechen. Leider hatte die Erstrezeption vor zwei Jahren einen Ton angeschlagen, der etwas erwarten ließ, was dieses Buch nicht sein will, nicht sein kann. Die zumeist prominenten Rezensenten priesen es wahlweise als neues Kommunistisches Manifest oder als Maulstopfer für halbirre Cultural-Studies-Greenhorns und selbstzufriedene Think-Tank-Tröten, die schon das Ende der Ideologien gekommen sahen. Doch ganz so flamboyant liest sich der Stoff nicht, aus dem die Träume sind.

Dies ergibt sich schon aus der Anlage des Buches. Abgesehen vom ersten und letzten Großkapitel, die in knapper Form die veränderte Form politischer Herrschaft und die Ausgangslage für ein gemeinschaftliches „Dagegen-Sein“ umreißen, bleiben drei Viertel des Textes für die gründliche Neulektüre der gesamten abendländischen Ideengeschichte reserviert. Unter Aufbietung einer imposanten Denkerriege, die von Aristoteles bis zu Wittgenstein reicht, geht es Hardt/Negri zum einen darum, den prekären ontologischen Status der „neuen Weltordnung“ zu erklären. Bedurfte Herrschaft bis ins 20. Jahrhundert hinein immer noch einer göttlichen beziehungsweise weltanschaulichen Vermittlungsinstanz sowie fester Grenzen, so befindet sie sich heute überall und nirgends, am „Nicht-Ort“ der Macht. Die imperiale Souveränität stellt eine supranationale Matrix dar, auf der privilegierte Staaten, Wirtschaftsunternehmen und Nichtregierungsorganisationen an verschiedenen Punkten angeordnet sind. Das Empire – und darin liegt für Hardt/Negri seine bislang verkannte Eigenart – kann immer nur mit den ihm zur Verfügung stehenden Machtmitteln (Gewalt, Geld, Kommunikation) auf die Ansprüche der vielgestaltigen „Menge“ (Multitude), des spontanen und kollektiven Handlungssubjekts in der Postmoderne, reagieren. Eine hervorbringende, konstituierende Macht – als Möglichkeit, potencia, im ursprünglichen Wortverständnis – ist ihm nicht gegeben. Festgelegt auf seine Rolle als Parasit der Ideen und Kreationen, kann sich das Empire nur darauf beschränken, die durch das Kapital miterzeugten Ströme und Migrationen zu moderieren, zu teilen und abzusondern.

Was sich für Hardt/Negri zweitens verändert hat, ist das dominierende Machtparadigma. So durchziehe die „Biopower“ längst alle Lebensbereiche und wirke direkt auf die Köpfe und Körper. Doch im Unterschied zu denjenigen, die hier nur die repressiven Aspekte betonen, sehen die beiden genau darin eine Chance. Denn nun würden konsequenterweise die Human Ressources zu den eigentlichen Agenturen in den sozialen Auseinandersetzungen. Je mehr beispielsweise bei McDonald’s gemäß dem Firmenslogan „service with a smile“ in Beziehungsmanagement und sprachliche Fertigkeiten investiert werde, desto eher stiegen die Chancen, dass sich aus dieser sozialen Interaktion auch alternative Wünsche und Protest gegen Hungerlöhne artikuliere. Die Pointe der Globalisierung liegt demzufolge darin, dass die Geister des flexiblen Kapitalismus, einmal aus der Flasche entlassen, ihren Schöpfer selbst zu deckeln versuchen.

Man sollte dies eine Dialektik nennen, die vor allem eines ablehnt: „verfluchte Dialektik“. Denn für Negri/Hardt hat die ständige Aufrechnung von Widersprüchen immer wieder zu Irrwegen geführt: Die national agierende Arbeiterschaft begünstigte den Staat als Disziplinierungsinstrument, die Negritude nahm das Rassendenken billigend in Kauf, die Radikalökologen redeten einem bornierten Lokalismus das Wort. Das einzige gangbare, nicht ausschließende Gegenprojekt besteht nach Meinung der beiden darin, sich seiner eigenen Subjektivität zu versichern und der Forderung nach Weltbürgerschaft und garantiertem Grundeinkommen kollektiven Ausdruck zu verleihen.

So weit, so moderat. Doch wie ist eine neue Politik denkbar, die Vorstellungen von „leadership“ und Mandat komplett ablehnt und stattdessen eine abstrakte Vielheit zum entscheidenden Akteur erhebt? Michael Hardt, den die ständigen Bitten nach „konkreten“ Auslegungen seiner theoretischen Konzepte kaum noch zu irritieren scheinen, gibt im Gespräch zu bedenken: „Wir beobachten gegenwärtig überall eine Krise der Repräsentation, denken wir nur an die letzten US-Wahlen oder jene Länder, wo nicht einmal freie Wahlen stattfinden. Korruption ist kein abnormaler Zustand, sondern die Regel. Die Formen demokratischer Repräsentation, die im Nationalstaat entwickelt wurden, haben immer schlecht funktioniert. Insofern gibt es keinerlei Grund zur Annahme, wieso sie in einem globalen Rahmen funktionieren sollten. Also muss Demokratie auf konzeptueller und auf institutioneller Ebene verändert werden, wie das seit der antiken Polis ja schon in mehrfacher Hinsicht geschehen ist. Viele Debatten in Porto Alegre waren von der Einsicht geprägt, dass sehr wohl mit demokratischen Strukturen experimentiert werden kann, ohne dass dies Wohlstand oder Hochtechnologie voraussetzt.“

Ist „Empire“ also eine Demokratietheorie, die sich nur der Aufmerksamkeit willen mit rhetorischen Brandsätzen bewaffnet? Nein, denn es geht Hardt/Negri in sehr redlicher Absicht darum, erst einmal jenen Begriffsschutt abzutragen, der ein Neudenken der Einheit von Arbeit, Leben und Politik verhindert hat. Das Theorie-Design greift dafür tief in die Werkzeugkiste der großen Meisterdenker; von Machiavelli und Marx übernimmt es die Sensibilität für geschichtliche Transformationsprozesse; von Spinoza die Idee der Multitude; von Hannah Arendt die Emphase des Freiraums bei der Konstitution des Politischen; von Foucault die Häutungen der Macht und den Wandel der modernen Regulierungstechniken; von Deleuze die Feier rhizomatischer Strukturen und die Skizze der Kontrollgesellschaft; von Carl Schmitt beziehungsweise Agamben die beunruhigende Erkenntnis, dass staatliche Souveränität untrennbar mit Ausnahmezuständen verbunden ist und sich Krieg und Frieden mittlerweile nicht mehr sinnvoll voneinander unterscheiden lassen.

Diese Mixtur verdankt sich nicht zuletzt den intellektuellen Biografien der Autoren: Der Philosoph Negri schöpft reichlich aus den Quellen des Renaissancehumanismus und deutschen Idealismus, gleichzeitig wurde er entscheidend durch seine Erfahrungen in der italienischen Arbeiterbewegung geprägt; der Literaturwissenschaftler Hardt greift, beeinflusst durch die Theoriemoden in Seattle und Paris, wo er studierte, eher auf poststrukturalistische Argumentationsfiguren zurück. Gefragt, wie die Zusammenarbeit der beiden sich denn konkret gestalte, antwortet er: „Dadurch, dass ich Tonis Teile auch übersetze, ergibt sich ein Moment der Öffnung und die Möglichkeit zur Modifikation. Wenn man in dieser engen, tatsächlich kollektiven Weise zusammenschreibt, spricht durch einen selbst immer auch die Stimme des Anderen, vom ersten Satz an. Das passt übrigens auch gut zu der von Marx entwickelten Idee der Massenintellektualität, die im Buch einen breiten Raum einnimmt. Denken kann als eine soziale Tätigkeit begriffen werden, welche der einsamen Vorstellung von Originalität und Genie vollkommen zuwiderläuft.“

Mit dieser Arbeitsweise reihen sich Hardt/Negri selbstbewusst in die Ahnengalerie der Theorieproduktionspaare ein: Marx/Engels, Adorno/Horkheimer und Deleuze/Guattari. Doch ein wichtiges Vorläuferpaar, das wie ein fernes Echo ihres Wortlautes klingt, benennen sie nicht. Gemeint sind die deutschen theory twins Oskar Negt und Alexander Kluge, die über dreißig Jahre Bausteine für eine Theorie der lebendigen, selbstverwertenden Arbeit aufgehäuft haben. In „Öffentlichkeit und Erfahrung“ (1972) brachten sie mit heißem Atem zu Papier: „In Wahrheit ist die Phantasie ein spezifisches Produktionsmittel, das für einen Arbeitsvorgang gebraucht wird, den das kapitalistische Verwertungsinteresse nicht ins Auge fasst: die Veränderung der Beziehungen der Menschen untereinander, zur Natur und die Wiederaneignung der in der Geschichte gebundenen toten Arbeit der Menschen.“ Diese unablässige Suche nach neuen Intensitäten, um die alten Maßverhältnisse des Politischen durcheinander zu rütteln, bestimmt auch den Denkgestus von Hardt/Negri, der für manche Menschen euphorisierend, für andere eher enervierend sein dürfte: „Das Empire behauptet, Herr dieser Welt zu sein, weil es sie zerstören kann. Was für eine Illusion! In Wahrheit nämlich sind wir die Herren dieser Welt, weil unser Begehren und unsere Arbeit sie fortwährend erschaffen.“

Solche Sätze sind es, die den exotischen Reiz von „Empire“ ausmachen, weil sie aus einer anderen Epoche, aus den Prophezeiungen der Altvorderen zu stammen scheinen. Entsprechend groß war der Andrang der Theoriekonsumentengemeinde Berlin-Mitte am Mittwoch, als Michael Hardt zusammen mit Thomas Atzert das Buch an der Volksbühne vorstellte. Es schien eine schöne Fügung zu sein, einen Text, der unermüdlich die Vorzüge der Enträumlichung preist, ausgerechnet in dieser Kathedrale des spätkapitalistischen Resignationsglücks zu diskutieren. Allein, die Ökumene von Nachwuchsmob und Altkadern misslang, weil die fortgesetzten Störungen einer verstrahlten Aktivistin, die auf langatmiges Theorie-Blabla keine Lust hatte, ebendies unmöglich machten. Mit einem Zwischenruf brachte sie jedoch die Gefühlslage der Menge, die sich an diesem Abend partout nicht konstituieren wollte, treffend auf den Punkt: „Wir sind überfordert!“

Michael Hardt/Antonio Negri: „Empire. Die neue Weltordnung“. Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn. Campus Verlag 2002, 461 Seiten, 34, 90 Euro.

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