: Ende des Konsums
Meinhard Miegel befasst sich mit den Problemen der alternden Gesellschaft, ohne neue Konzepte zu finden
Die Zukunft macht uns alle wieder jung. Dann nämlich, wenn in vier Jahrzehnten ein Fünfzigjähriger nicht mehr als alt gilt, sondern gerade mal das Durchschnittsalter repräsentiert. Durch das Altern der Gesellschaft erleben wir eine Veränderung, für die es „in der Geschichte der Menschheit keine Parallele“ gibt, erklärt der Sozialforscher Meinhard Miegel in seinem neuen Buch über die „deformierte Gesellschaft“.
Die Alterung wird Konsum, Lebensformen und Werte unaufhaltsam verändern, ob wir wollen oder nicht. Denn schon 2040 werden 40 Prozent der Deutschen älter als 59 Jahre sein.
Die Idee, dass sich in einer alternden Gesellschaft die Menschen innerlich „verjüngen“ könnten, um den biologischen Tatsachen zu begegnen, ist dabei laut Miegel lebensfremd. Auch wenn sich die Älteren in Zukunft noch jugendlicher und lebenszugewandter verhielten als die Älteren heute, werde sich der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel verlangsamen. „Die Bereitschaft, Neues anzunehmen und auszuprobieren, wird in breiten Bevölkerungsschichten abebben.“
Mit der Alterung verändert sich die Sinnstiftung unserer Gesellschaft, die bisher, so Miegel, auf zwei Säulen ruhte: Konsum und Familie. Mit dem Konsum sieht es künftig mau aus. Die Werbung kann ja schon heute kein für Alte typisches Konsumverhalten aufspüren. Denn: Wer eine „Konsumbiografie“ hinter sich hat, der weiß, dass ein neues Auto oder neue Kleidung und Kosmetik das Leben nicht so stark verändern oder gar verbessern, wie man das in jungen Jahren noch glaubt. Im Alter fehle dem Konsum die „ursprüngliche Strahlkraft“, so Miegel. Auch die Reiselust, oft als wichtige Ausgabenquelle der Senioren gepriesen, dürfte nicht in dem Maße steigen, wie viele Anbieter hoffen. Der Mensch wird im Alter weniger flexibel, das Bedürfnis nach Ruhe und Muße nimmt zu. Schon allein aus biologischen Gründen wird sich also eine kleine Kulturrevolution ereignen – auch für die Familie. Immer mehr Kinderlose werden alt. Die Folge: Viele Ältere werden künftig auch keine Enkel haben, um die sie sich kümmern könnten. Das Bedürfnis nach Geborgenheit und Zugehörigkeit nimmt allerdings im Alter zu.
Weniger der Konsum, wohl aber die Sozialkontakte stellen daher künftig eine wichtige Glücksressource für die Menschen da. Diese Kontakte lassen sich aber weder durch die Familie noch durch eine flexible Arbeitswelt befriedigen. Eine wichtige Frage wird also sein, wie sich künftig Beziehungssysteme gestalten. Wollen die Menschen ihre Sozialbedürfnisse in Zukunft nicht in erster Linie über Ärzte, Masseure oder Psychotherapeuten decken, müssen sie in ihre mitmenschlichen Kontakte mehr Zeit investieren.
Der Vorstellung, durch Einwanderung den Altersaufbau der Bevölkerung drastisch zu verändern, erteilt Miegel dabei eine Absage. Denn die Zuwanderung von Qualifizierten sei ein egoistischer Akt zu Lasten der weniger entwickelten Gesellschaften. Auf Zuwanderer zu setzen, um die eigenen Bevölkerungsprobleme zu lösen, ist daher „Ausdruck kolonialen Denkens und Handelns, heute vielleicht sogar in dessen perfidester Form“.
Am faszinierendsten in Miegels neuem Essay sind seine Überlegungen zu den demografischen Veränderungen. Seine Rezepte, wie man diesen begegnen könnte, laufen jedoch auf den üblichen Ruf nach Sozialstaatsreformen hinaus: mehr Investitionen in Wissen und Bildung, keine Angst vor Eliten, mehr privates Kapital in Arbeitnehmerhand, Förderung mittelständischer Unternehmer.
Der Sozialstaat solle umgebaut werden, die Menschen müssten eine „Erstverantwortung“ für ihr Einkommen und ihre Gesundheit tragen. Die Gesellschaft solle nur eine Art Grundsicherung für die Schwachen übernehmen, die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld verkürzen und die Arbeitslosenhilfe abbauen.
Miegel, ehemals Leiter der Hauptabteilung Politik der Bundesgeschäftsstelle der CDU, schreckt dabei vor der üblichen Ideologisierung nicht zurück, etwa mit Sätzen wie: „An der Spitze der Sozialstaatsreformen steht die psychische Befähigung der Bevölkerung zu Eigenverantwortung und sozialer Mündigkeit.“ So bleibt der Essay am Ende doch vor allem ein Sampler der schon bekannten Miegel’schen Sozialstaatsideen. Interessanter wäre es gewesen, die kulturellen Veränderungen, die eine alternde, verlangsamte Gesellschaft mit sich bringt, noch weiter gedanklich durchzuspielen.
BARBARA DRIBBUSCH
Meinhard Miegel: „Die deformierte Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen“. Propyläen, Berlin/München 2002, 300 S., 22 €
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