piwik no script img

Die Vertreter der Vertreter

Die Theatermacher Stefan Kaegi, Bernd Ernst, Helgard Haug und Daniel Wetzel wollen eine ganze Bundestagssitzung nachstellen. Doch Wolfgang Thierse fürchtet Kratzer an der Würde seines Hauses

von FLORIAN MALZACHER

Herr Weingarten ist ein seriöser pensionierter Herr mit weißem Bart und dunklem Jackett. Er könnte sich vorstellen, Friedrich Merz zu vertreten; er schätzt dessen „angriffslustige Art“. Frau Kunze ist Sekretärin und hat ein Faible für Rita Süssmuth, die sie schon immer bewundert hat. Herr Müller, 81 Jahre alt, fühlt sich Michael Glos verbunden, Andreas Salz, deutlich jüngerer Politikstudent, interessiert sich sehr für den grünen Abgeordneten Christian Simmert, der wie er den Wehrdienst verweigert hat. Und die pensionierte Geschichtslehrerin Gisela Schütte hat sich die Ministerin Bulmahn ausgesucht.

Andere werden eher von Gegensätzen angezogen, wie der Psychologe Dr. Kleinemas, der ebenfalls Friedrich Merz auserwählt hat, allerdings gerade weil ihn „der Kontrast reizt zur eigenen Wertvorstellung und Meinung“. Pragmatischer denkt der Autohändler Walter Drühe und hat sich für den MdB Klaus Riegert entschieden „wegen optischer Ähnlichkeit und ähnlichem Alter“.

Sie alle wollen mitwirken bei „Deutschland 2“, einem Projekt der Theaterregisseure Bernd Ernst, Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel beim Festival „Theater der Welt“ für das 666 Bürger stellvertretend für die 666 Abgeordneten des Bundestages gesucht werden. Am 27. Juni sollen sie eine Sitzung des Parlaments im alten Bundestagsgebäude in Bonn nachstellen, zeitgleich zur Sitzung in Berlin. Wie Simultandolmetscher werden die Paten die kompletten Reden ihrer Schützlinge wiedergeben.

Die Künstler, allesamt Absolventen des Gießener Studiengangs für Angewandte Theaterwissenschaft, an dem unter anderem der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels unterrichtet, wollen „das Repräsentationsverhältnis von Politik verkehren“. Und stellen so eine Grundfrage des Theaters wie auch der Demokratie: Wie funktioniert, was bewirkt Repräsentation? Was bedeutet es, für einen anderen zu stehen? In diesem Fall: Was passiert, wenn das Volk die Volksvertreter vertritt?

Mit Laientheater hat das für sie, die zu den interessantesten Außenseitern des deutschen Theaters gehören, gar nichts zu tun. Im Gegenteil interessiert sie gerade die Expertenschaft, nicht die eines Schauspielers zwar, aber die der eigenen Biografie. „Es geht uns darum, den seriösen Versuch unterschiedlichster Menschen öffentlich zu machen, das gesprochene parlamentarische Wort mitzusprechen, und nicht darum, Politiker nachzuspielen.“ Wer eine ihrer Arbeiten, ob am Berliner Prater („Apparat Berlin“), am Frankfurter Mousonturm („Kreuzworträtsel Boxenstopp“), beim Münchener Spielartfestival (die Audiotour „System Kirchner“) oder den „Meerschweinchenkongress“ am Tanzquartier Wien gesehen hat, weiß sehr genau, dass solche Überlegungen keine Rechtfertigungsversuche sind. In oft komplexen Anordnungen suchen sie konsequent nach neuen Möglichkeiten der Repräsentation auf dem Theater jenseits eines angestaubten „Als ob“.

Und erzeugen so spielerisch und humorvoll fesselnde Momente von, ja, Schönheit und Kraft, wie man sie im handwerksfixierten Sprechtheater selten noch findet.

Und auch in „Deutschland 2“ geht es nicht um billige Effekte oder spaßiges Spektakel. „Wir glauben, dass der Akt der Vertretung eines Abgeordneten durch einen Wähler ein solidarisches Identifikationsmoment mit sich bringt, fern jeder billigen Distanznahme durch Imitation wie in Comedy-Shows.“

Dass ihr Projekt vorübergehend nun doch zum Polit-Event geworden ist, liegt nicht an ihnen, sondern am Bundestagspräsidenten. Wolfgang Thierse hat, mittels seines Vetorechtes für die Belegung des alten Plenarsaals, die dortige Aufführung untersagt: „Durch den speziellen Programmablauf des Projektes werden das Ansehen und die Würde des Deutschen Bundestages beeinträchtigt.“ Und das, obwohl er den Künstlern, die sich seit mehr als einem halben Jahr um ein Gespräch bemühen, nie Gelegenheit gegeben hat, ihre Arbeit einmal selbst vorzustellen.

Kein Wunder, dass Teilnehmer sich diese Ablehnung nur als Missverständnis erklären können und die Presse in der Region eher erbost reagiert. Zustimmung zum Veto haben bislang fast nur die Welt und FAZ-Kritiker Gerhard Stadelmeier geäußert. Unverhohlen neidet er, für den die Gießener Schule ohnehin die „größte Unglücksschmiede des deutschen Theaters“ ist, Thierse die Möglichkeit, verbieten zu können, was nicht ins eigene ästhetische Konzept passt. Und auch der „Theaterkanal“, der die Debatte live übertragen soll zum Hin-und-her-Schalten zwischen Deutschland 1 und Deutschland 2 scheint nun einen Rückzieher zu erwägen.

Stattfinden jedoch soll das Projekt auf jeden Fall, zur Not im Bonner Opernhaus. Mit dabei ist am 27. Juni jedenfalls auch Hans Hattendorf, der sich schon vor dem ganzen Trubel entschlossen hatte, bewundernd die Patenschaft für Herrn Thierse zu übernehmen. Zum ersten Mal wählen gegangen ist der 81-Jährige 1949 bei der Wahl zum 1. Deutschen Bundestag.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen