piwik no script img

Analyse ohne Grenzen

Der 11. September nur Simulation? In seiner Reihe „Lesarten des Terrors“ lädt das Literaturhaus Jean Baudrillard ins Audimax  ■ Von Stefanie Richter

–Wer war nochmal Baudrillard? – Das ist der, der gesagt hat, dass der Golfkrieg und das Jahr 2000 nicht stattgefunden haben. – Ach so, der! Und der kommt jetzt nach Hamburg? – Ja, er hält einen Vortrag über den 11. September. – Wieso? Hat der etwa auch nicht stattgefunden?

Ja und nein: Jean Baudrillards „Simulationstheorie“ besagt, dass in der Mediengesellschaft, in der wir leben, das wirkliche Ereignis und seine mediale Vermittlung ununterscheidbar geworden sind, Ereignisse mithin ohne Vermittlung gar nicht existent. Den Anschlag auf das World Trade Center deutet Baudrillard als „globales symbolisches Ereignis“, weil die Twin Towers die „definitive Ordnung“ der Globalisierung verkörperten.

Mit seinem Aufsatz „Der Geist des Terrorismus“ hat Baudrillard im letzten Herbst eine heftige Feuilleton-Debatte losgetreten. Plötzlich hieß es überall, die Ereignisse vom 11. September würden einen endgültigen „Einbruch der Wirklichkeit“ markieren. Folglich wurden postmoderne Theorien wie Baudrillards Analyse der Simulation nicht mehr nur belächelt, sondern als zynisch verurteilt.

Auch Diedrich Diederichsen wusste schon im Oktober in der taz: Postmoderne hin oder her, das World Trade Center, das habe es auf jeden Fall gegeben. Schließlich seien bei seiner Zerstörung echte Menschen umgekommen. Und das beweise, dass die Doppeltürme mehr als nur ein Symbol gewesen seien. Deshalb, so Diederichsen, dürfte der „beliebte Baudrillardismus“ ja wohl endgültig widerlegt sein.

Trotz alledem hat sich das Literaturhaus Hamburg nicht beirren lassen und Baudrillard eingeladen, im Rahmen der Reihe „Lesarten des Terrors“ einen Vortrag zum Thema zu halten. Wie aber ist das ungestillte öffentliche Interesse an Baudrillard zu erklären? Ist es die Faszination an der Provokation? Oder ist es der Wunsch, der Denker möge endlich seine unglaublichen Thesen zurücknehmen?

Tatsächlich führte der Spiegel zu Beginn des Jahres ein Interview mit dem Philosophen, und forderte ihn bereits in der ersten Frage auf, seine Analyse des 11. Septembers zu widerrufen. Hierbei ging es allerdings weniger um Baudrillards Bezeichnung der Ereignisse als rein symbolische, sondern um die Frage nach ihren Ursachen. Dem Pariser Philosophen wird nämlich obendrein vorgeworfen, er mache die Amerikaner selbst für die Terror-Attentate verantwortlich.

In Wirklichkeit ist Baudrillards Analyse wesentlich differenzierter: Er sagt, wir befänden uns im 4. Weltkrieg. Anders als in den vorigen Kriegen gebe es aber keine klaren Freund-Feind-Grenzen mehr. Es sei vielmehr der Kampf eines Systems mit sich selbst. Dieses System sei die so genannte Globalisierung. Ihr Ziel: die Herausbildung einer einzigen, globalen Weltordnung. Aber da es gegen jede endgültige Macht oder Ordnung eine „universelle Allergie“ gebe, müssten die „Antikörper revoltieren“. So schaffe die Globalisierung „durch ihre schrankenlose Ausdehnung die Bedingungen für ihre eigene Zerstörung“.

Mit anderen Worten: Die Amerikaner sind nicht „selbst Schuld“ an den Attentaten. Der Krieg findet ja auch nicht zwischen Amerika und einem äußeren Feind statt, sondern innerhalb des Systems der Globalisierung. Wie soll die globalisierte Welt aber auf den Terror reagieren? „Das Böse“, sagt Baudrillard, lasse sich überhaupt nicht erfolgreich bekämpfen. Anders als in Hollywood-Filmen könne das Gute das Böse niemals besiegen, denn: „Das Böse wird im selben Maße stärker wie das Gute.“ Also selbst wenn die Verheißungen der Globalisierung – Menschenrechte, Demokratie und Wohlstand für alle – nicht nur Reklame seien, bliebe der Widerstand gegen sie allemal unausweichlich.

Was also tun? Die Globalisierung abschaffen? Alle Bemühungen um eine bessere, gerechtere Welt einstellen? Im Umkehrschluss womöglich das Gute bekämpfen, um das Böse zu verringern? Aber vielleicht haben wir ja Glück, und die Globalisierung hat in Wirklichkeit nie stattgefunden.

heute, 20 Uhr, Audimax, Von-Melle-Park 4

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen