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In aller Bescheidenheit

Neureicher Protz ist den Loskutows so fremd wie Sowjet-Nostalgie. Obwohl sie sich eine Datscha mit Pool leisten

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Eiskristalle überziehen die glasierten Ziegel im Treppenhaus. Die Innengestaltung des Hochhauses im Moskauer Innenstadtbezirk Sokolowski stammt noch aus der Zeit des real existierenden Sozialismus. Dima hat hier seine Jugend verbracht. Kopfschüttelnd zeigt der 27-jährige Jurist auf Rohrstümpfe, die aus dem Boden ragen: „abmontiert“. Hier verliefen früher einmal Heizungsrohre für das Treppenhaus, die Verwaltung ließ sie abschrauben. Minus 18 Grad zeigt das Thermometer draußen, beißend fährt der Wind aus dem Fahrstuhlschacht. Heizöl ist in Russland wie alles teurer geworden.

Hinter der dicken Wohnungstür ist es bullig warm. Ludmila und Oleg Loskutow, Dimas Eltern, regulieren die Wärme wie eh und je: durch Öffnen und Schließen der Fenster. Seit zwanzig Jahren leben sie in der Dreizimmerwohnung. „Eine Ewigkeit, fast zehn Jahre, haben wir damals für diese Wohnung gekämpft“, sagt Ludmila. Die 50-Jährige hat Haare auf den Zähnen und ihren Haushalt mit Mann und zwei erwachsenen Söhnen fest im Griff. Oleg ist für Ideen und Geldverdienen zuständig, der Rest fällt in Ludmilas Kompetenzbereich.

Die Arbeitsteilung funktioniert. Die Loskutows gehören zu denen, die den Zusammenbruch des alten Regimes zu nutzen wussten. „Bis 1990 habe ich in der Stadtverwaltung als Ingenieur gearbeitet“, erzählt Oleg. Danach habe er sich selbständig gemacht, übernimmt Ludmila die weitere Erzählung. Oleg ist das gewöhnt, er sinkt zurück in seinen schweren Sessel. Heute hat die Familie ein Straßenbauunternehmen, das im Sommer vierzig, im Winter fünfzehn Angestellte beschäftigt. Damit die Winterperiode nicht ungenutzt verstreicht, haben sie vor einem Jahr mit Landschaftsbau begonnen. Mit Schaufel, Spitzhacke, dem älteren Sohn und drei Kollegen fingen sie 1990 an. Größter Auftraggeber ist seither die Stadt. Mit Privatleuten, bekennt Loskutow, arbeite er nicht so gern zusammen. Gerade die „neuen Russen“, die ihre Latifundien asphaltieren lassen, seien ziemlich kapriziös: „Ich spüre sofort, wer Ärger machen oder nicht zahlen wird.“

Sind die erfolgreichen Loskutows etwa keine „neuen Russen“? Nein. Was sie besitzen, hätten sie mit eigenen Händen aus dem Nichts geschaffen. Sie haben weder spekuliert noch manipuliert wie die meisten Superreichen. „Ich war ein kleiner Angestellter und meine Frau eine schlecht bezahlte Handelsfachfrau. Wir hatten in der sowjetischen Hierarchie weder Kontakte noch Zugang zu den später privatisierten Fleischtöpfen.“ Nostalgie ist den Loskutows fremd. Dass sich heute alles über Geld regeln lässt, sinniert Ludmila, sei natürlich nicht schön. Kein wirkliches Bedauern, eher ein moralischer Reflex.

Wohnung, Wagen, Wochenendhaus seien bescheidene Errungenschaften, meint das Ehepaar, das sich nicht fotografieren lassen will. Ihr Anwesen vor Moskau kann sich aber sehen lassen, 500 Quadratmeter Wohnfläche mit Swimmingpool, Fitnessraum und Sauna. Die Loskutows tragen ihren Wohlstand nicht zur Schau. Vielmehr vermitteln sie den Eindruck spartanischer Protestanten, die sich alles vom Mund absparen. Ludmila kauft Lebensmittel auf den billigeren Märkten. Wie zum Beweis öffnet sie den halb leeren Kühlschrank. Wenn Oleg nicht arbeitet, schlüpft er in einen blauen Trainingsanzug, und auch Ludmila putzt sich nicht heraus.

Sparen? „Um Gottes willen“, stöhnt Ludmila. 1998 zahlten die Loskutows erstmals einen großen Betrag bei der Bank ein; sie wollten Dima später eine eigene Wohnung kaufen. Das war Mitte August. Am nächsten Tag brach die Rubelkrise aus. „Mit Müh und Not haben wir einen Teil des Geldes zurückbekommen“, erzählt Loskutow. Ein bisschen Schadenfreude schwingt mit. Diese kleinen Torheiten seiner Frau, scheint es, erhalten das familiäre Gleichgewicht.

Geld bei einer Bank anzulegen ist seither tabu. Auch für ihr Unternehmen haben sie nie Kredite aufgenommen. Ihre Devise: „Was wir haben, wird investiert und verreist.“ Bis zur Krise fuhr die Familie mindestens viermal im Jahr ins Ausland. Auf den Spuren des neuen russischen Mittelstandes, dem sie sich zurechnen und der je nach politischer Couleur der Wirtschaftsexperten gar nicht existiert oder gleich ein Fünftel der Bevölkerung umfasst. Von Thailand bis zu den Kanaren, von Finnland bis Kenia waren sie unterwegs.

„Zweimal bis zu meinem 40. Geburtstag durfte ich ins Auslands reisen“, erzählt Ludmila, die während der Sowjetzeit auch Gewerkschaftsfunktionärin war. Eine Gängelung, die ihr im Rückblick beinah unwirklich erscheint. Die Loskutows bedauern nur eins: den Zerfall der Sowjetunion. Das hätte sich anders regeln lassen, glauben sie, nur wie? Und noch etwas: Der alte Freundeskreis ist zerfallen. Soziale Unterschiede und Neid haben die Bande gesprengt.

Mit verhaltener Hoffnung begegnen die Loskutows der Zukunft, ohne ein Gefühl von besonderer Sicherheit: Am nationalen Grundmisstrauen hat auch Präsident Wladimir Putin nichts ändern können. „Erst mal abwarten, was er aus dem Land macht“, sagt Ludmila, geht zum Fenster und reguliert den Wärmebedarf. „Wir sind auf alles vorbereitet . . .“

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