: Glücksfall Anarchie
Bisher galt es als ausgemacht, dass es über die Evakuierung aus Moskau kein Bildmaterial gibt. Doch hier sind erstmals Fotos zu sehen: in der Ausstellung „Moskau im Krieg“ im Museum Berlin-Karlshorst
Ein Moskauer Mädchen namens Jewgenija schrieb 1945 einen Brief an ihren Vater, an die Front des Zweiten Weltkrieges. Auf den Umschlag klebte sie Papiermäuschen. Dieser Tage liegt er im Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst mitten auf dem Tisch, in einem Zimmerchen, das Jewgenijas gewesen sein könnte. Die Einrichtung stammt original aus dem Moskau jener Zeit: ein schüsselartiger Lautsprecher ohne Radio, ein Benzinkocher, ein Kanonenöfchen und ein selbst gefertigtes Bilderbuch mit Ausschnitten aus US-Zeitschriften. Das Rundfunkeinheitsprogramm wurde den Bürgern der sowjetischen Hauptstadt nämlich damals per Telefonnetz geliefert. Aber im Rahmen der humanitären Hilfe, die die USA dem Alliierten leisteten, drangen auch Elemente der US-Kultur in den Alltag.
Der Anlass für die Ausstellung „Moskau im Krieg“ im Museum Berlin-Karlshorst ist das 60-jährige Jubiläum der Schlacht um Moskau, die im Spätherbst 1941 tobte. Der Name der Stadt Moskau spielt in den Erinnerungen deutscher Zeitgenossen vor allem im Zusammenhang mit dem Vorstoß der Heeresgruppe Mitte eine Rolle. Die hatte sich im Oktober/November 1941 der damaligen Viermillionenstadt bis auf 30 Kilometer genähert. Durch den sowjetischen Gegenangriff wurde sie aber in einer blutigen Winterschlacht mehr als 100 Kilometer zurückgeworfen.
Die Leiden der deutschen Soldaten während dieses Feldzuges sind legendär. In Karlshorst soll nun gezeigt werden, wie jene den Angriff empfanden, auf die er gerichtet war. Die Hauptstadt der Sowjetunion stand damals nicht einfach vor der Perspektive, eine fremde Besatzungsmacht zu erhalten, sondern Hitlers Befehl zielte darauf ab, Moskau dem Erdboden gleichzumachen, seine Einwohner auszurotten.
Nach Abwehr dieser Attacke kehrte Moskau nicht mehr zur Normalität zurück. Seine Leistungen als Zentrum der politischen Macht, der Wissenschaft und Kultur und als industrieller Schwerpunkt sollten erhalten bleiben, während im Laufe des Krieges 25 Millionen Sowjetbürger ums Leben kamen, darunter 350.000 Moskauer. Großbetriebe, Behörden, ja sogar die wichtigsten Theater- und Opernensembles wurden evakuiert. Die Ausstellung kontrastiert nicht nur das Schicksal der Individuen mit der großen Politik, sie versucht das kulturelle und wirtschaftliche Leben der Stadt in jenen Jahren zu vergegenwärtigen.
Bisher galt es als ausgemacht, dass es über die Evakuierung aus Moskau kein Bildmaterial gibt. Doch hier hängen erstmals Fotos von der Verladung industrieller Anlagen. „Die Fotografen hatten Anweisung, alles nicht veröffentlichte Material zu vernichten“, sagt der Leiter des Karlshorster Museums, Dr. Peter Jahn: „aber nicht alle haben sich daran gehalten. So spielt russische Anarchie von damals uns heute in die Hände.“
Bei der Aufgabe, einen Eindruck von der damaligen Nahrungsmittelknappheit zu vermitteln, sei er dagegen an die Grenzen dessen gestoßen, was eine Ausstellung zu leisten vermöge, meint Jahn: „Natürlich zeigen wir ein paar Lebensmittelkarten, aber wen beeindrucken die schon? Wir haben fieberhaft nach Fotos von Lebensmittelschlangen gesucht. Nichts! Bis wir dahinter kamen, dass es damals gar keine Schlangen gab. Die Rationen für jeden Bürger wurden ihm laufend im Laden um die Ecke ausgehändigt“. Einen weiteren, nicht mehr sichtbar zu machenden Aspekt der damaligen Situation erwähnte bei der Eröffnung der Generaldirektor des Moskauer Staatlichen Historischen Museums, Alexander Schkurko. Dieser weltgewandte Herr hat mit Material und Mitarbeitern bei der gegenwärtigen Ausstellung kräftig mitgeholfen und erlebte den Krieg in der sowjetischen Hauptstadt als Kind: „Ich kann Ihnen versichern“, sagte er, „all diese Bilder zeigen die Moskauer immer noch optimistischer, als sie damals eigentlich waren.“
BARBARA KERNECK
Bis 17. Februar, Zwieseler Straße 4. Di–So 10–18 Uhr. Der Katalog zur Ausstellung (erschienen im Espresso -Verlag) kostet dort 10,23 € (20 DM), im Buchhandel 18,41 € (36 DM)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen