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„Der Kreml ging auf unsere Bedingungen ein“

Ludmila Alexejewa, Grande Dame der russischen Menschenrechtsbewegung, über ihre neue Stärke im Streit mit Präsident Putin

taz: In einem waren sich Russlands Elite und westliche Beobachter vorher einig: Es gibt keine zivile Gesellschaft in Russland. Jetzt findet in Moskau ein „Bürgerforum“ statt, an dem 4.500 Aktivisten aus NGOs aus dem ganzen Land teilnehmen.

Ludmila Alexejewa: Vor 25 Jahren gab es nur eine nichstaatliche Organisation, das war unsere Helsinki-Gruppe mit elf Mitgliedern. Heute sind 350.000 NGOs registriert, von denen 70.000 regelmäßige Arbeit leisten. Der tertiäre Sektor versorgt jährlich etwa 20 Millionen Bürger mit kostenlosen Dienstleistungen, für die der Staat sonst einige Milliarden Dollar zahlen müsste. Da es in unserer Geschichte keine Ansätze einer Zivilgesellschaft gegeben hat, halte ich das, was wir in zehn Jahren erreicht haben, nicht nur für einen Erfolg, sondern für einen ungeheuren Schritt nach vorn.

Vor allem Menschenrechtsorganisationen, die noch aus dissidentischen Zirkeln der Sowjetzeit stammen, galten als Grundpfeiler der Zivilgesellschaft. Hat sich in der Zwischenzeit etwas bewegt ?

Die Zusammensetzung hat sich verändert. Immer mehr Organisationen befassen sich mit Problemen, die die unmittelbare Lebenswelt betreffen. Verbraucherschutzorganisationen, Selbsthilfegruppen und Rechtsberatungseinrichtungen schießen aus dem Boden. Der Bürger wendet sich bei Konflikten immer häufiger an Gerichte, und eben nicht nur in privaten Streitigkeiten, sondern auch bei Auseinandersetzungen mit dem Staat .

Sie standen anfangs dem Gedanken eines Bürgerforums, das vom Kreml initiiert wird, skeptisch gegenüber. Jetzt hielten Sie vom gleichen Podium wie Putin eine Rede.

Der Anstoß für diese Versammlung ging vom Petersburger Dialog aus, einer deutsch-russischen Initiative. Dort fragten die Deutschen, wo die NGOs in der russischen Delegation abgeblieben seien. Der Kreml organisierte daraufhin ein Treffen mit Vorsitzenden der Philatelisten, Datschenbesitzer und Sportvereine – eine Alibiveranstaltung. Es war ein Versuch der Macht, eine gesellschaftliche Vertikale zu errichten, die neben der Bürokratie eine Stütze Putins hätte werden sollen. Wir haben protestiert, aber nicht zu hoffen gewagt, im Kreml erhört zu werden. Ehrlich gesagt, als man uns zu Gesprächen einlud, wollten wir nichts anderes, als dass der Kreml offiziell auf unser Mitwirken verzichtet. Doch siehe da, der Kreml ging auf unsere Bedingungen ein und war bereit, die Veranstaltung in „Bürgerforum“ umzubenennen. Das ist wichtig, denn wir lehnen Wahlen von Delegierten zu einer zivilen Kammer ab, weil ein derart legitimiertes Organ dem Grundgedanken der Zivilgesellschaft widerspricht. Da der Kreml alle Einwände gelten ließ, konnten wir keinen Rückzieher mehr machen. Von den 120 regionalen Helsinki-Komitees sprachen sich daher 118 für eine Teilnahme aus. Nur das Sacharow-Institut mit Jelena Bonner und Lew Ponomarow von der russischen Bewegung für Menschenrechte blieb bei einem kategorischen Njet.

Wie soll der Dialog zwischen NGOs und Staat auf dem Forum organisiert werden ?

25 bis 30 Arbeitsgruppen wurden eingerichtet, an denen auch Vertreter der Exekutive teilnehmen. Wenn es einigen Bürgerinitiativen gelingt, die Kooperation mit dem Staat zu verstärken, wäre das schon ein erfreuliches Ergebnis. Unsere Effektivität hängt wesentlich von der Kooperationsbereitschaft der Bürokratie ab. Die ohnehin schwierige Zusammenarbeit hat seit Putins Amtsübernahme noch mehr gelitten. Die Vorstellung allerdings, mit Bürokraten, die den Geist der Breschnewzeit versprühen, über Voraussetzungen gemeinsamen Handelns zu reden – nun ja, das erfordert schon einige Fantasie.

Wie kam die Zahl von 4.500 Delegierten zustande?

Auch wir haben uns gewundert, warum so viele Delegierte vertreten sein sollten. Die Antwort der Organisatoren war ganz einfach. Der Kreml-Palast, in dem das Forum stattfindet, hat so viele Sitzplätze. Ja, wenn man Bürokraten die Durchführung anvertraut, öffnen sich immer wieder erstaunliche Horizonte . . .

Nach den Terroranschlägen in New York ist es dem Kreml gelungen, sich in die antiterroristische Phalanx einzureihen und den Kaukasuskrieg als eine Maßnahme darzustellen, die das gleiche Ziel verfolgt wie die USA in Afghanistan . . .

Die Amerikaner behaupten, sie bombardieren nur militärische Objekte und Lager der Terroristen. Trotzdem treffen sie Zivilbevölkerung, was ich auch nicht entschuldigen möchte. In Tschetschenien werden aber ganz bewusst zivile Ziele angegriffen. Dörfer werden mit Flächenbombardements überzogen, weil sich dort angeblich Terroristen verschanzt haben. Seit zwei Jahren wird Krieg geführt, und erst ein Terrorist wurde ausgeschaltet. Aber wie viele unschuldige Menschen wurden getötet! Tausende! Ich habe keine Ahnung, was in Afghanistan genau passiert, aber der Krieg in Tschetschenien ist keine Anti-Terror-Maßnahme und darf nicht im gleichen Atemzug genannt werden.

Warum sind in der Menschenrechtsbewegung keine Muslime vertreten?

Ich muss gestehen, vor dem 11. September darüber nie nachgedacht zu haben. Ihre Welt und unsere haben keine Berührungspunkte. Wir kennen weder die Leute, ihre Probleme, wie sie organisiert sind noch womit sie sich beschäftigen. Das ist erschreckend und auch gefährlich.

INTERVIE: KLAUS-HELGE DONATH

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