piwik no script img

„Innere Panzerung wäre die Idiotenlösung“

Statt Horrorszenarien weiterzuspinnen, sollte man das Gesprächsvakuum füllen: Klaus Theweleit, Autor von „Männerphantasien“ und „Buch der Könige“, über mediale Ruhigstellungen, das Loch in der amerikanischen Psyche und zu den Gründen, warum die Flugzeuge in die Tower flogen

Interview JÜRGEN REUSSund DIETER RÖSCHMANN

taz: Herr Theweleit, was wurde eigentlich genau getroffen, als die beiden Flugzeuge ins World Trade Center stürzten? Viele Zeitungen sprachen von einem Stich ins Herz Amerikas, einige davon, dass den USA der Kopf abgeschlagen worden sei.

Klaus Theweleit: Es war nicht nur der Kopf, es waren die Twins. „Twin Peaks“ von David Lynch, eine der erfolgreichsten Fernsehserien des letzten Jahrzehnts, bezog sich auf zwei Berge, um die die amerikanische Phantasie kreist. Die Twin Peaks, das waren die Brüste der vergewaltigten Tochter, die negative Phantasie von der Bedrohung und des Missbrauchs. Das positive Gegenstück dazu sind die Twin Towers, der doppelte Schwanz, der sich als mächtiges Symbol erhebt über die ganzen Widerlichkeiten und Gewalttätigkeiten der anderen, der negativ besetzten Twin-Peaks-Ebene. Die Twin Towers spiegeln die Rede von Amerikas Erfolg und Überlegenheit und Kühnheit, und jeder Mensch, der irgendwann einmal in New York war, hat sie gesehen, hat die Spitze erklommen mit einem dieser Tempofahrstühle und sich von oben aus das Panorama des Gebauten, der Stadt, der American Nature angesehen.

Der Anschlag auf diesen Doppelphallus war, banal gesagt, ein Tritt in die Eier, der auch auf den Kopf zielte. Insofern war dieser Anschlag bestens durchdacht: Es ging nicht nur darum, die symbolischen Zentren zu treffen, sondern auch die der ganz realen Macht.

Ist der reale Terrorakt nicht viel wichtiger als der symbolische?

Natürlich ist der Angriff auf das reale Machtzentrum wichtiger, denn den symbolischen haben die USA ja längst vorbereitet, im Kino der letzten zehn Jahre, mit seinem ungeheuren Aufwand an Katastrophenfilmen, wo ja all diese Gebäude bereits zum Einsturz gebracht wurden. Der Militärhaushalt der USA hat sich seit Reagan vor allem um die Phantasie einer Raketenabwehr nach außen gedreht. Von Bush wurde das wieder aufgenommen, und jetzt kommt darauf eine reale Antwort. Und zwar aus dem Inneren Amerikas.

Da ist man wahrscheinlich beim Kern dieser Geschichte, beim wirklich Realen: dass es Leute gibt, die kapiert haben, dass man diese Übermacht nur mit ihren eigenen Waffen von innen heraus angreifen kann, nämlich mit dem, was ihre zivilen Stärken sind, die man umfunktioniert in kriegerische, also aus Flugzeugen Raketen und Bomben macht. Das ist ein wirklicher Schock, hinter dem alles Symbolische zurücktritt.

Wie wird dieser Schock im Bild verarbeitet? In welcher Weise prägen die Bilder, die man auf dem Bildschirm sieht, den Psychohaushalt der Zuschauer?

Sie wirken so, als würden die Leute von den Emotionen, die sie im ersten Moment hatten, ganz schnell abgeschnitten und anfangen, das in eine Art Rede zu übersetzen. Diese Rede ist auf eine seltsame Weise vernünftig. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn man die Leserbriefe in den Zeitungen liest. Die Leute sagen: Der Feind ist der Hass selber, der Hass muss weg. Oder: Der wahre Horror ist das Spiel mit dem Grauen. Oder: Gewalt hinterlässt nur zwei Arten von Menschen – Opfer und zukünftige Opfer. Oder: Das nächste Ziel ist ein AKW. Das alles sind Reaktionen aus den ersten Stunden nach den Attentaten, die in meinem Kopf und in den Köpfen derer, mit denen ich geredet habe, aufgetaucht sind. Und das ist wirklich verrückt. Es denken sozusagen alle dasselbe in diesem Moment.

Das denkt sich wie zwanghaft, wie von alleine stellt sich das im eigenen Kopf her, und ich habe mich gefragt: Wer denkt das eigentlich? Denke ich das? Hat das irgendwas mit meinem Kopf zu tun, oder denkt das durch mich durch? Ist das etwas, das aus dem weltweiten Nachrichten- und Mediennetz kommt, von dem wir offenbar Teile sind, ohne es zu realisieren. Denken wir die Gedanken des Netzes? Hinterlässt der wirkliche Schrecken in den Körpern vielleicht überhaupt keine Spuren mehr? Selbst die Feuerwehrleute scheinen bereits Teil dieses Systems geworden zu sein, wenn sie in die Trümmer rennen und als Erstes eine amerikanische Flagge in den Schutt pflanzen. Damit sind sie der direkten Geschichte enthoben, der, dass der eine seinen Bruder sucht, der im 81. Stock war und vielleicht in den Trümmern liegt. Ähnlich die Jugendlichen, die zum Ort des Schreckens strömen und die medialen und die realen Bilder übersetzen in „We shall overcome“ und „Give peace a chance“ und Kerzen. Das genau sind Teile eines Spektrums von Reaktionen, die in kulturell vorcodierte Äußerungen übersetzt sind.

Beschleunigt die Erzählung von der Katastrophe, die die Medien zurzeit in ihren Bildern zusammenschneiden, einen Prozess der Abstumpfung?

Wenn man genug Katastrophenfilme gesehen und in seinen Bilderhaushalt eingespeichert hat, sie in Videogames selbst bedient oder durchgespielt hat, wirkt das natürlich abstumpfend, und zwar in der Weise, dass man sich mit der Möglichkeit von Katastrophen einrichtet. Man hat sie alle schon einmal gesehen, geträumt, gelesen, vorgeführt bekommen. Das Erschrecken vor den realen Bildern hält deswegen bestenfalls ein paar Tage an.

Verstärkt wird das nun dadurch, dass der Bildschirm einem seit einigen Tagen die immergleichen Sequenzen gewissermaßen auf die Netzhaut brennt. Jeder, der fernsieht, hat sie schon hundertfach gesehen. Sie sind geronnen zu einem Bild, das die Kinobilder jetzt schon weit übertrifft an Suggestion – und man ist süchtig danach, dass es wieder auftaucht. Der Horror im Kopf ist dabei fast beseitigt. Man muss sich fast zwingen, an die Opfer zu denken, das Bild hat sich von ihnen losgelöst und ist wie eine Pille für die Befriedigung eines Blicks, der sich einerseits solche Bilder der Zerstörung herbeisehnt, um sich an ihnen zu weiden, andererseits aber erschrickt, weil in ihnen der nackte Horror steckt. Beide Gefühle sind echt, sie schließen sich nicht aus. Diese Ambivalenz entsteht vor dem Fernseher, und man kann sich nicht gegen sie wehren: Der Genuss ist nicht abtrennbar vom Bild. Das konnte man schon bei den Bildern vom Golfkrieg feststellen. Wer vorm Fernseher sitzt, kann nicht anders, als die Bilder in dieser gemischten Affektivität zu erleben. Sie erklären allem, was man selbst vielleicht denken wollte, genau in der Weise den Krieg, als sie einem vorschreiben, was abzulaufen hat in einem. Das könnte man auch beschreiben als die Abschaffung des Subjekts.

Was denkt dieses abgeschaffte Subjekt vor den Bildern? Wird es hier für den Krieg mobilisiert?

Nicht direkt. Der Mediengebrauch führt eher in die Richtung einer allgemeinen Pazifizierung. Man ist es inzwischen gewohnt, viele Dinge nicht mehr selbst auszuagieren, sondern sie erledigen zu lassen. Man nimmt sie visuell auf und ist dadurch Teil der Aktion. Die Mehrheit der Bevölkerungen des Westens sind heute friedlicher als früher, es gibt weniger Leute, die denken, dass man in bestimmten Situationen mal draufhauen müsste.

Dass die Menschen lieber keinen Krieg wollen und scheinbar vernünftig reden, hat mit dieser medialen Bearbeitung zu tun. Was natürlich überhaupt nicht heißt, dass man von diesen pazifizierten Zuschauern wirklich eine Widerstandkraft erwarten kann, wenn es plötzlich heißt: Jetzt wird Krieg gemacht. Ich glaube, das würde in einer ähnlichen Weise pazifiziert hingenommen werden. Schon in Jugoslawien hat das ja funktioniert: Die meisten haben ihn hingenommen, aber nicht gejubelt: Ja, wir wollen Krieg! Das ist eine Form von Ruhigstellung.

Wird sich das in der momentanen Situation wiederholen? Oder besteht die Chance, dass sich die moderaten Stimmen, die zurzeit ja auch zu hören sind, gegen diese Ruhigstellung durchsetzen werden?

Im Anblick des Horrors mehren sich die Stimmen, die keine Vergeltung wollen, sondern andere Lösungen. Sie sagen: Wir müssen die Nahostpolitik überdenken. Der Anschlag war kein blindwütiger Akt, sondern ein geplanter. Und geplante Akte haben Vorläufer im Denken. Das passiert nicht ohne Grund. Der Anschlag hätte nicht stattgefunden, wenn die USA im Nahen Osten nicht dieses Vakuum hätten entstehen lassen. Wenn Bush versucht hätte, den Friedensprozess fortzusetzen. Aber Bush hat nichts nachgeschoben, er hat sich aus der Region völlig zurückgezogen. Doch wo man ein Vakuum lässt, strömt Gewalt ein, überlässt man Terroristen und Fanatikern die Szene.

An solchen Äußerungen sieht man, dass dieser Anschlag also durchaus vor dem Hintergrund eines Versagens der amerikanischen Politik diskutiert werden kann. Der Gewaltseite der Israelis wurde freie Hand gelassen. Auch dann noch, als sie ankündigten, mit der Liquidierung einzelner namentlich bekannter Terroristen zu beginnen. Jeder vernünftige Mensch hätte da sofort sagen müssen, dass den bekannten Zielpersonen im nächsten Moment zwanzig Unbekannte folgen werden. Und genau das ist eingetreten. Mit Selbstmordanschlägen auf Busse oder Pizzerien. Die Frage, die sich jetzt stellt, muss lauten: Wird der Anschlag auf die Twin Towers und das Pentagon den Westen dazu bewegen, seine Politik zu ändern? Werden die USA Israel jetzt dazu zwingen, die besiedelten Gebiete freizugeben, um dort einen palästinensischen Staat einzurichten? Wenn die Amerikaner nicht verrückt sind und glauben, sie könnten mit erhöhtem Bombenabwurf, irgendwo drauf, alles wieder ins Lot bringen, dann wird dieser Anschlag langfristig den Erfolg haben, dass das Israel-Palästina-Problem in dieser Weise entschärft wird.

Das aber setzt voraus, dass der Westen selbst erkennen würde, dass dieser Terroranschlag gar keine Kriegserklärung war und deswegen auch nicht mit kriegerischen Mitteln beantwortet werden kann. Ist das überhaupt denkbar?

Strike back ist von frühesten Besiedlungszeiten an ein amerikanisches Muss: Es muss zurückgeschlagen werden. Wenn das nicht passiert, dann bleibt ein ungeheures Loch in der Psyche dieses Landes. Entscheidend ist aber, was danach passiert. Wie wird Amerika die Situation langfristig verarbeiten? Werden in jedem Flugzeug Panzertüren vor die Cockpits geschraubt?

Ich denke, das wäre die Idiotenlösung: das ganze Land von innen zu panzern und zu glauben, damit ließe sich etwas in den Griff bekommen. Man wird jeden Araber, der in die Staaten einreisen will, zigfach filzen, abchecken, rastern, aber was soll der Blödsinn? Es werden sich Nichtaraber finden, Leute aus anderen Teilen der Welt, die Terroranschläge dieser Art ausführen. Das Personal, um solche Attentate zu verüben, ist unbegrenzt. Statt Horrorszenarien weiterzudenken, sollte man zu der Einsicht kommen, dass es Kräfte hinter diesem Anschlag gibt, die nicht völlig wahnsinnig sind, sondern dass es Gründe für ihr Handeln gibt. Deshalb muss man die Krisenherde entschärfen. Man muss weiter reden. Solange geredet wird, fallen keine Bomben. Wenn ein Gespräch scheitert, muss man das nächste anfangen. Und wenn man das nicht in Gang hält, dann entsteht genau das Vakuum, in das Gewalt strömt. Das ist ein Energiegesetz der Politik.

Vergrößert sich dieses Vakuum momentan nicht? Immerhin sprach Bundeskanzler Schröder von einem „Angriff auf die Zivilisation“.

Mit solchen Worten ist im Grunde genau der Kern des Konfliktes benannt, aus dem heraus solche Attentate verübt werden. Araber in Europa und Amerika berufen sich immer wieder auf die arabische Kultur, die immerhin ein paar tausend Jahre älter ist als die europäische und amerikanische. Doch was im arabischen Raum an Kultur und Zivilisation entstanden ist, will bei uns niemand mehr wirklich wissen. Weil das alles von der Rede vom islamischen Fundamentalismus verdrängt wird, mit dem der Islam mittlerweile identifiziert wird. Auch wenn reihenweise Muslime sagen: Wir haben damit nichts zu tun, wir sind friedfertige Leute und wollen keinen heiligen Krieg, wir sind zivilisiert. Das aber leugnet Schröders Rede vom Angriff auf die zivilisierte Welt. Das ist fundamentalistische westliche Kriegshetze. Und genau gegen diese Rede fliegen die Flugzeuge in die Towers.

Was als Antwort aus diesem Anschlag hätte folgen müssen, wäre das Gegenteil gewesen: Wir verbünden uns mit den zivilisierten Kräften der Welt, auch der arabischen, und wollen gemeinsam etwas gegen die Menschenverachtung der Leute tun, die Anschläge wie den auf das World Trade Center verüben. Nichts hätte Schröder daran gehindert, trotzdem, wie er sagt, fest an der Seite unserer amerikanischen Freunde zu stehen.

In diesem Punkt entlarvt sich die westliche Zivilisation: Heute beklagt sie den Angriff auf die zivilisierte Welt, und was tut diese am nächsten Tag? Sie liefert wieder eine Fuhre Waffen in eine Ecke der Welt, die sie für unzivilisiert erklärt. An der eigenen Zivilisiertheit ändert das nichts. Und wenn die Waffen alle verschossen sind – auf dem Balkan oder in Afghanistan –, kommt die zivilisierte Welt und gibt ihnen die nächste Ladung. Zivilisation bedeutet offenbar, andere sich untereinander bombardieren zu lassen und selbst an den Waffen zu verdienen.

Vom Westen wird Zivilisation gerne in Zusammenhang mit Vernunft gedacht, was seine Gegner zwangsläufig zu Protagonisten der Unvernunft, des Irren macht. Zeigt sich der Westen nicht selbst gerade von seiner irren Seite?

Sicher. Es ist nicht nur der Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei, der hier phantasiert wird, sondern auch gegen angeblich heillos krankhafte Teile der Dritten Welt, wie sie im Westen immer noch heißt, wobei es für jeden Araber selbstverständlich ist, dass er in der Ersten lebt. Vollkommen zu Recht. Was dabei gerne übersehen wird, ist, dass ausgerechnet jemand wie Bush die Wahlen nur mit den Stimmen aus dem Bible Belt gewinnen konnte: den Stimmen von fundamentalistischen Amerikanern, von religiösen Fanatikern, die all das wieder abschaffen wollen, was sich in Bill Clintons Amtszeit gelockert hat.

Ihre Gleichsetzung des Islam mit einem Fundamentalismus, der zum Selbstmordattentat führt, verweist direkt zurück ins Herz von Amerika. Dort gibt es genau denselben religiösen Wahn, aus dem heraus sie alles angreifen, was ihre Kultur lockern oder weltweit zu Entspannung führen könnte. Bush zeigt sich als Ausführender solcher Phantasien und wundert sich dann, wenn aus anderen Teilen der Welt diese religiös-bewaffneten Antworten zurückkommen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen