: Gemeinschaftsfremd
Die Stigmatisierung der so genannten Arbeitsscheuen hat eine lange Tradition und wurde schon von den Nazis perfekt institutionalisiert. Einige Anmerkungen zur Wiederkehr eines perfiden Musters
von PETER FUCHS
Neuerdings wird es wieder gesellschaftsfähig, die Arbeitslosen unseres Landes mit fatalen Unterscheidungen zu überziehen, zum Beispiel mit der des faulenzenden Arbeitslosen im Gegensatz zum ehrlich echten, wirklich wirklichen, kreuzunglücklichen, aber arbeitswilligen Arbeitslosen. Schon im Mittelalter war dies ein probates Schema. Es gab (so die Konstruktion) ehrliche Arme und unehrliche Arme. Bei den ehrlich Armen war Unterstützung möglich, etwa in der Form von gottgefälligen Almosen, aber auch von Amts wegen wie in Florenz oder London, wo der Arme nach Nachweis seiner echten Armut (via Fragebogen) und mit Hilfe einer Art Ausweises Ernährung und Kleidung erhalten konnte; den unehrlichen Armen (bei Juden, Rothaarigen, Buckligen, Schäfern, Zigeunern etc.) blieb nur das Leben auf der Straße und in den Wäldern.
Wir haben heute in den entwickelten Regionen der Weltgesellschaft keine Vagantenheere mehr, aber es ist dennoch erstaunlich, dass diese Unterscheidung zwischen echt arm und unecht arm sich halten konnte. Besonders erstaunlich ist es, dass sie in die Unterscheidung von berufstätig/arbeitslos einkopiert wird, und zwar in die rechte Seite dieses Begriffspaares hinein, nicht etwa in die der Berufstätigen, die sich ja auch bei einiger Fantasie unterscheiden ließen nach echt berufstätigen, wirklich arbeitenden Leuten und solchen, die nicht echt arbeiten und dennoch irgendwie unterstützungsfrei leben bzw. als scheinbar Arbeitende in ihrer Funktionslosigkeit nicht auffallen. Oder etwa nach Leuten, die weder arbeiten noch unterstützt werden müssen, weil sie einfach sinnlos (in jedem erdenklichen Sinn dieses Wortes) reich sind.
Dieses Schema hängt unmittelbar zusammen mit der Umstellung des Gesellschaftssystems von einer ständischen (stratifizierten) Ordnung auf den Typ funktionaler Differenzierung. Was immer das im Einzelnen bedeuten mag, sie führte jedenfalls dazu, dass bezahlte Arbeit mehr und mehr zu einem Modus der Generalinklusion der Bevölkerung wird.
Genau in diesem Kontext wird es notwendig, diejenigen zu identifizieren, die sich diesem Modus nicht fügen. Sie werden von den Tagen der Mordbrennerakten an über die Gauner- und Diebslisten des 18. Jahrhunderts datenförmig erfasst. In diesen Akten und Listen, die im Zuge der Verrechtlichung nach den Bauernkriegen notwendig werden, wird die „Entartung“ von Personen unter anderem deutlich an Arbeitsscheuheit geknüpft, ein Merkmal, das der vagabunditas, dem Pack auf den Straßen, schlechthin zugeschrieben wird.
Dieses Muster wird (immer in der Form von Verdatung und Veraktung) besonders durch den preußischen Staat durchgehalten und erreicht das Dritte Reich, in dem es zur Konstruktion der asozialen (und eben deswegen eliminierbaren) Person eingesetzt wird. Ich zitiere weniges für vieles:
„Gemeinschaftsfremd ist [. . .], wer aus Arbeitsscheu oder Liederlichkeit ein nichtsnutzes, unwirtschaftliches oder ungeordnetes Leben führt und dadurch andere oder die Allgemeinheit belastet und gefährdet [. . .] oder eine Neigung zur [. . .] Arbeitsbummelei [. . .] betätigt.“ (Gesetz über die Behandlung Gemeinschaftsfremder, 1944)
„Gemeinschaftsunfähig ist also, wer [. . .] arbeitsscheu ist (trotz Arbeitsfähigkeit schmarotzend von sozialen Einrichtungen lebt, Rentenjäger, Versicherungsschmarotzer usw. ist) [. . .], wer den Unterhalt für sich und seine Kinder laufend öffentlichen oder privaten Wohlfahrtseinrichtungen [. . .] aufzubürden sucht; hierunter sind auch solche Familien zu rechnen, die ihre Kinder offensichtlich als Einnahmequellen betrachten und sich deswegen für berechtigt halten, einer geregelten Arbeit aus dem Wege zu gehen [. . .]“ (Merkblatt, herausgegeben vom Rassenpolitischen Amt der Gauleitung Niederdonau).
In den einschlägigen „Forschungen“ des Dritten Reiches wird als hervorragender asozialer Typ der Arbeitsscheue genannt. Das sind die dauernd Arbeitslosen, für die Arbeitslosig keit eine eigene Karriere (ein Beruf) ist, das sind diejenigen, die jede Arbeit als belastend und unzumutbar empfinden, und das sind diejenigen, die ihre Arbeit bewusst schlampig ausführen, um entlassen zu werden, damit sie Unterstützung erhalten. Entscheidend ist, dass unsägliche „Wissenschaftler“ wie Alfred Dubitscher die Ursache der Arbeitslosigkeit selbst in Ursachen suchen, „die in der Persönlichkeit der Betroffenen“ angelegt sind.
Am Ende des Dritten Reiches (als es auf Grund des Krieges keine Arbeitslosen mehr gab) war Arbeitslosigkeit schließlich identisch mit Arbeitsscheuheit. Schon damals waren die Arbeitsämter aufgefordert, zu kontrollieren, vor allem aber die identifizierten Arbeitsscheuen zur weiteren Behandlung an die erbbiologischen Ämter zu delegieren. Arbeitsscheue durften bis unter das Existenzminimum gepfändet werden; wer dann bettelte, machte sich strafbar. Erste Konzentrationslager für Bettler gab es ab 1933.
Dennoch hat diese soziale Plausibilität die Zeitmarke 1945 überdauert – an Stammtischen sowieso, aber offenbar auch in Verlautbarungen führender Politiker, denen es wohl weniger um Systemprobleme geht als darum, individuelle Schuldzuweisungen erneut möglich zu machen. Schändlicherweise, wie man sagen müsste, in der Form einer Stigmatisierung, die wie jede Stigmatisierung Beifall findet, jedenfalls den Beifall derjenigen, die sich auf der richtigen Seite des Schemas befinden.
Ich bin, glaube ich, als Systemtheoretiker politischer Korrektheit nicht sonderlich verdächtig. Aber mir kocht das Blut, wenn ich höre, wie das abgründige Schema der Arbeitsscheuheit erneut und bedenkenlos aufgegriffen und mit einer massenmedialen Chuzpe inszeniert wird, die ihresgleichen sucht. Ihr kann nicht einmal die Unterkomplexität Sauerländer Leitkulturen unterstellt werden. Sie ist perfider und gefährlicher. Sie ruft die Geister, die heraufzubeschwören offenbar das Spiel neuer Zauberlehrlinge ist, das sie nicht beherrschen. Sie sollten sich schämen – inniglich – und dann für lange schweigen.
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