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Die barfüßige Weltmacht

Um uns in Lateinamerika den Herausforderungen der Postmoderne zu stellen, müssen wir zuerst die der Moderne bewältigen. Unsere Politik, unsere Gesellschaft, unser Bildungswesen, all das ist noch nicht modern. Die Moderne ist auch heute noch der unerfüllte Traum unserer Republikgründer, die seinerzeit die Unabhängigkeit mit der Idee des Fortschritts verknüpften. Anders gesagt: Bevor wir uns im 21. Jahrhundert einrichten, sollten wir erst einmal im 20. Jahrhundert ankommen.

Unser Weltbild hat sich immer aus der Vergangenheit gespeist, in dem Maße, in dem wir um Modernisierung gerungen haben. In der Vergangenheit findet sich immer ein Hauch von Ruhm, aus der Vergangenheit lässt sich immer etwas lernen, und mit ihrer Hilfe, glaubten wir, lasse sich die Zukunft verbessern. Das Vergangene musste erst Gegenwart sein, um dann in Bildern zu gefrieren, die erloschen waren, aber unverwüstlich. Heute wird die Gegenwart vor unseren Augen zur Vergangenheit: auf den Fernsehbildschirmen. Entfernte Ereignisse gibt es nicht mehr. Unser tägliches Brot sind häusliche Epen von schnell vergänglichem Glanz, die kaum die Gegenwart ausfüllen. Wir sehen, aber wissen nicht mehr. Wir informieren uns, aber bilden uns nicht mehr. Wir berühren zunehmend die Oberfläche der Dinge, aber ihr Inneres bleibt uns verborgen.

Vielleicht haben wir uns noch nicht wirklich klargemacht, dass von den Bildschirmen und von den tonangebenden Informationstechnologien auch Macht erzeugt wird, eine Macht ohne klare Umrisse, die von keinem bestimmten Ort ausgeht, die aber unzählige Fäden eines feinen Netzes spinnt, das uns Tag für Tag einfängt. Die Globalisierung der Finanzen hat den Spielraum der einheimischen Ökonomien verkleinert und ersetzt auch die alten Machtgefüge lokaler Prägung; aber die verändernde Kraft, die von den Satelliten herunterstrahlt, kennt keinen Vergleich. Wenn überhaupt, erinnert sie uns an die Perfektion der Orwellschen Televisoren, durch die der Große Bruder alles überwacht. Letztlich ist es eine politische Macht: Niemand hat die, die uns von den Satelliten herab regieren, gewählt – aber wir gehorchen ihnen.

Aus den Kommunikationsnetzen heraus beeinflussen sie alles, erzeugen neue Verhaltensmuster und ein neues Verständnis von der Rolle des Individuums in der Gesellschaft, egal wie rückständig diese Gesellschaft ist, egal wie mangelhaft sie nach innen integriert ist, egal, ob dieser Gesellschaft auf globaler Ebene eine lediglich marginale Bedeutung zukommt. Die Instrumente der Postmoderne und ihre Macht zielen weniger auf Länder oder Gesellschaften, vielmehr auf Individuen. Und das bringt unsere Identität in Gefahr, die gemeinsame Suche nach ihr, dieses Unterfangen, das uns schon so lange beschäftigt, dass es selbst Teil unserer Identität geworden ist.

Für uns war diese Identitätssuche niemals ein einsames Abenteuer. In Lateinamerika haben wir Geschichte immer als Epos begriffen: Die Gesellschaft ist Handelnde und Bühne zugleich, der Held ragt aus ihr als Ausdruck eines kollektiven Gefühls heraus. Die Gefahr, die von der neuen Ära für unseren Geschichtsbegriff ausgeht, ist die Isolierung des Individuums, das in seiner Vereinzelung leichter beeinflussbar wird. Der Bürger verliert seinen unmittelbaren Bezugsrahmen, und zwar nicht bloß im Sinne seiner Gemeinschaft, sondern im Sinne von eigenen Werten und Überzeugungen, einer Geschichte, in der er sich verwurzelt sieht, des spezifischen Charakters eines nicht virtuellen, sondern realen Landes, das Teil eines realen Kontinents ist. Die Isolierung unserer Länder, Resultat der Geografie und chronischer Meinungsverschiedenheiten, sollte uns eigentlich genügen.

In diesen Tagen vollzieht sich das ungeheuerlichste kulturelle Phänomen der Menschheitsgeschichte, und wir stehen dem passiv gegenüber. Als wir uns nach der Unabhängigkeit unserer Länder an der bis heute nicht vollzogenen Modernisierung versuchten, waren wir ebenso wenig Herr über die Entwicklungsmodelle, die man uns vorschlug. Im Laufe der Geschichte haben wir den Fortschritt fleißig kopiert – zu seinen Quellen sind wir nie vorgedrungen.

Die Moderne wurde uns im 19. Jahrhundert in ihrer verlockendsten Ausstattung offeriert: gute Verfassungen, demokratische Regierungen, ein öffentliches Bildungswesen, das fortschrittsfähige Bürger heranzieht, integrierte Gesellschaften. Die Tracht war importiert, wir wollten sie nach unseren Maßen zurechtschneiden. Wenn wir aber genau hinsehen, haben wir unter diesen Kleidern immer die alte, ländliche Figur behalten, die sich nur allzu oft unter dem Faltenwurf abzeichnet: der Caudillo steht über den Institutionen, Autoritarismus geht vor Demokratie, die Gesellschaft ist gespalten. Und die Bildung – das ist der niederschmetterndste Aspekt unseres Scheiterns – ist Gesellschaftsmodellen treu geblieben, die längst ihre Effizienz eingebüßt haben.

Und obwohl wir noch nicht einmal modern geworden sind, übernehmen wir willfährig die Codes der Postmoderne und lassen uns mit dem Strom treiben. Wie früher besitzen wir auch jetzt weder die Fähigkeit, Technologie selbst zu entwickeln, noch sie in letzter Konsequenz zu meistern; aber auch beeinflussen können wir sie nicht, nicht einmal auf semantischer Ebene, denn die Cyber-Lawine erschafft sich ihre eigene Zeichenwelt und ihre eigenen semiotischen Tendenzen. Der Sprache bleibt gar nichts anderes übrig, als diese zu kopieren, so wie unsere kulturellen Systeme, in sich zerfallen und, verarmt, ihrerseits die technischen Instrumente und ihre Anwendung nachahmen.

Wir sind keine Produzenten von Technologie, was an und für sich schon ein fundamentaler Nachteil ist. Aber Technologien zu entwickeln, sie anzuwenden, sie zu übernehmen und den eigenen Bedürfnissen anzupassen ist schlicht unumgänglich, wenn wir der Ungleichheit unserer Entwicklung eine Ende bereiten wollen. Modernisierung bedeutet in Zeiten der Postmoderne, rasch die Anhäufung kultureller Anachronismen zu überwinden, die in unseren Gesellschaften unter dem Deckmantel der Gleichzeitigkeit zusammen- und überleben und Wirtschaft und Gesellschaft prägen. Dieser Aufholprozess lässt sich ohne die umfassende und gründliche Nutzung der technologischen Werkzeuge der Postmoderne gar nicht bewerkstelligen.

Die Ungleichheit der Entwicklung zu reduzieren verlangt in erster Linie, die Abgründe zwischen den verschiedenen Wirklichkeitssegmenten zu überbrücken, die in unseren Gesellschaften nebeneinander existieren – oft auch als geografisch isolierte Segmente, die nur in sporadischem und ungeordnetem Austausch miteinander stehen: soziale, wirtschaftliche und kulturelle Realitäten, die zu unterschiedlichen und teilweise längst vergangenen Epochen gehören. Brasilien und Mexiko bieten das beste Beispiel dieses Phänomens, das jedoch auf dem gesamten Kontinent seine Entsprechungen findet: von den Ethnien, die sich wie in der Steinzeit von Jagd und Fischerei ernähren, über den Ackerbau mit einfachsten Mitteln, wie er zur Zeit der Conquista vorherrschte, über Tauschökonomien in ländlichen Regionen, feudale Landpacht und die Hacienda-Kultur mit patriarchalem Einschlag bis hin zur urbanen Kultur industrieller Komplexe und großer Finanzzentren und schließlich zum Einsatz der neuen Medien in der Kommunikation, der unseren Nationen den Zugang zur globalisierten Welt ermöglicht – ohne dass diese Nationen selbst im Inneren gleichmäßig entwickelt wären. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen lässt den Schluss zu, dass die nebeneinander funktionierenden Wirtschaftsformen nicht in der Lage waren, sich in einem Modell nachhaltiger Entwicklung zu verzahnen; wir haben es aber auch mit einer kulturellen Zersplitterung zu tun, die auf lange Sicht verhindert, dass das Wirtschaftswachstum allein die kulturelle Rückständigkeit beheben kann, die ihrerseits ein bedeutsames Entwicklungshemmnis darstellt.

Wir waren nie besonders erfolgreich darin, die kulturellen Faktoren im Hinblick auf Entwicklung zu organisieren. Ebenso wenig ist es uns gelungen, wissenschaftliche Kenntnisse zur Grundlage des Fortschritts zu machen. Wie viel wollen wir wissen, und wie wollen wir dieses Wissen anwenden – das sind Fragen, die wir uns noch nicht einmal gestellt haben. Die Trennungslinien des anbrechenden Jahrtausends verlaufen nicht allein zwischen denen, die haben, und denen, die nicht haben, sondern vor allem zwischen denen, die wissen, und denen, die nicht wissen.

Globalisierung ist nicht nur ein Phänomen der Verschmelzung von Märkten, sondern auch des Wissens und seiner gezielten Anwendung, um Machtsphären abzustecken. Wie nie zuvor wird die Intelligenz zur Ware: Je mehr du weißt, desto mehr bist du wert – das gilt für Individuen, aber auch für ganze Länder. Die großen Systeme des Wissens, die universale Dividenden ausschütten, werden immer mehr zum Schlüssel für die Beherrschung der Märkte und ihre Entwicklung.

Wenn wir nicht bereit sind, zu lernen, als Individuen und als Gesellschaft, wenn wir unsere Gesellschaften nicht in Wissensgesellschaften transformieren, in denen das Abenteuer des Denkens mit dem Abenteuer der Phantasie einhergeht, werden sich die Abgründe von Armut und Rückständigkeit vor unseren Füßen noch verbreitern. Die Kluft ist bereits da. Und wir haben immer noch nicht akzeptiert, dass die Erziehung als Triebkraft von Veränderung entscheidender Baustein der Entwicklung ist.

Die Moderne ist weiterhin die defekte Stufe, der verlorene Weg zu unserer fernen Utopie, und das real existierende Erziehungswesen mit seinen Mängeln und nicht eingelösten Ansprüchen hat nicht vermocht, uns dieser Moderne näher zu bringen. Um zu Akteuren der weltweiten Revolution des Wissens zu werden, müssen wir zuallererst auf den neuesten Stand kommen. Die Herausforderung besteht darin, in die Postmoderne einzutreten und gleichzeitig die Moderne im Eiltempo nachzuholen.

In vielerlei Hinsicht haben die Verwerfungen der Entwicklung, die kulturelle Verwerfungen sind, mit dem gesellschaftlichen und folglich mit dem politischen Leben zu tun. Am Beginn des neuen Jahrhunderts haben wir in ganz Lateinamerika gewählte Regierungen, und wir lernen gerade, Räume des Zusammenlebens zu teilen, die sich vor zehn Jahren noch niemand vorstellen konnte. Modernisierung bedeutet aber auch, dass die Verführungskraft der Macht von Institutionen die der individuellen Macht im kollektiven Bewusstsein verdrängen kann.

Vergessen sollten wir nicht, dass die weltweite Tendenz, in der Wirtschaft wie in der Kommunikation, die zur Entnationalisierung ist; zum ersten Mal vielleicht ist es die Mechanik des Austauschs, die das Wesen der Beziehungen bestimmt. Das Kapital, die Bilder, der tägliche Strom der Informationen bewegen sich mittels elektronischer Medien und erkennen keine Grenzen an. Und weil ihre Bezugsgröße in zunehmendem Maße Individuen und nicht Nationen sind, weil sie sich um Identitäten nicht scheren, entwurzeln sie diese. Aber so wie diese Entnationalisierung durch Technologien von nie gekannter Strahlkraft vermittelt ist, sollten wir dieselben Technologien und dieselben Netzwerke zum genauen Gegenteil verwenden: um uns unserer Identität zu versichern. Die Erfindung der elektronischen Kommunikation sollte uns die gleiche Chance bieten, die die Erfindung der Buchpresse darstellte: die massenhafte Verbreitung der Ideen. Nur so können wir aus dem Geflecht unserer Vorstellungen und aus unserem gesellschaftlichen Verhalten die alte und tief wurzelnde Überzeugung verbannen, dass unsere Rolle in der Welt immer die Gleiche zu sein habe – die der zum Scheitern Verurteilten, des Chors, der fremde Melodien nachsingt, dessen, der nichts erschaffen muss, weil ihm die Nachahmung ausreicht. Solange wir uns keine eigenen, alternativen Räume im globalen Prozess suchen, verspielen wir die Chance, an die vorderste Linie der Entwicklung aufzurücken.

Unser Nachdenken über die Zukunft sollte sich nicht auf das 21. Jahrhundert beschränken, das in vieler Hinsicht bereits vorhersehbar ist. Es muss darüber hinausreichen, in die folgenden Jahrhunderte des beginnenden Jahrtausends hinein. Die entscheidende Frage muss sein, ob unser jetziges Handeln uns auch in künftigen Jahrhunderten erlauben wird, funktionierende Gesellschaften zu bilden, und ob die kulturelle Identität, derer wir uns rühmen, überleben wird.

Wir müssen nicht abwarten, bis der letzte Indígena in den Flusstälern der Karibik oder in den Wäldern des Amazonas die Harpune oder den Bogen an den Nagel hängt, und ebenso wenig, bis die gesamte patriarchale Landwirtschaft die Umwandlung zur High-Tech-Produktion durchgemacht hat. Die kulturelle Transformation muss Vorrang haben, sie muss ein für alle Mal die verlorene Zeit aufholen, der wirtschaftlichen Entwicklung den Weg ebnen und sich ihre Werkzeuge der Zukunft schaffen.

Wir sind, trotz allem, eine kulturelle Weltmacht – eine, die barfuß daherkommt. Dabei ist unverkennbar, dass uns neben den Nobelpreisen für Literatur die für Medizin, Wirtschaft, Physik und Chemie fehlen, zweifelsohne weil wissenschaftliche Forschung stark von den Mitteln abhängt, die für sie aufgebracht werden; die Werke der Phantasie hingegen können auch in kleinen, trostlosen Zimmern blühen, ohne Labor und ohne Präzisionsinstrumente.

Die Vorstellungskraft besitzen wir jedenfalls schon, und ohne sie sind Utopien nicht möglich. Jetzt müssen wir der Utopie Substanz verleihen, müssen sie gestalten, um die Reise ins neue Jahrtausend anzutreten. Und vor Reiseantritt sollten wir uns entscheiden, ob wir Ruderer im Bauch der Galeere sein wollen oder Passagiere mit Gepäck, mit Plänen und mit einem Gedächtnis, wie Alain Touraine es einmal ausgedrückt hat –

Ruderer oder Passagiere der Geschichte.

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