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AUCH „NICHTTÖDLICHE“ WAFFEN KÖNNEN TÖTENDie neueste Kriegstechnologie zielt auf die Zivilisten

ANGESICHTS der Grauen erregenden Bilder von modernen Kriegsschauplätzen wurde vor einiger Zeit mit der Entwicklung neuartiger Waffen begonnen, die den Gegner nicht töten, sondern nur außer Gefecht setzen sollen. Die Realität hinter der medienwirksamen Rede von angeblich „nichttödlichen“ Waffen sieht anders aus. Das um so genannte „Non Lethal“-Waffen erweiterte Arsenal steigert nur das Gewaltniveau. Wenn die demokratischen Länder zulassen, dass solche neuen Kriegsgeräte entwickelt werden, werden sie ganz sicher auch in Länder exportiert, wo keine Skrupel vor einer Brutalisierung der Bevölkerung bestehen.Von STEVE WRIGHT *

Am Ende dieses Jahrhunderts gibt es immer mehr Kriege, bei denen die Kampftruppen sich nicht mehr direkt auf dem Schlachtfeld gegenübertreten, sondern sich „menschlicher Schutzschilde“ bedienen. Polizei und Streitkräfte mischen sich unter die Zivilbevölkerung, damit sie keine Zielscheibe abgeben. Und Marschflugkörper erweisen sich bei einer Intervention in komplexe innere Konflikte als politisch durchaus primitive Waffen. Grafitfaserbomben mögen die Überlandstromleitungen des Gegners kurzschließen, Streubomben mögen militärische Installationen außer Gefecht setzen, zum Sieg führen sie nicht. Im Gefolge des Kosovo-Kriegs kündigt sich eine Revolution der Militärstrategie an.[1]

Hauptnutznießer dieser Entwicklung ist sicherlich das Pentagon. US-Präsident Bill Clinton servierte dem US-Militär für die nächsten sechs Jahre einen komfortablen Budgetzuwachs von 110 Milliarden Dollar, um die „militärische Einsatzbereitschaft“ zu erhöhen. Nach Auffassung von William Hartung vom US World Policy Institute (New York), lässt sich die Höhe des Militärhaushalts von über 260 Milliarden Dollar jedoch nur mit politischen und wirtschaftlichen Argumenten begründen. Eine reale Bedrohung der amerikanischen Sicherheit sei nirgends erkennbar, denn „schon heute übersteigen die US-Verteidungsausgaben um mehr als das Doppelte die Summe der Militärausgaben aller Länder, die als potentielle Gegner der Vereinigten Staaten in Frage kommen, einschließlich der Großmächte China und Russland sowie der ,Schurkenstaaten‘ Irak, Nordkorea und Libyen“[2]. Für Hartung haben die Waffenhersteller einen entscheidenden Einfluss auf die Außen- und Militärpolitik der USA.

Wenn das zutrifft, stellt sich die Frage, welche neuen Waffensysteme und militärischen Technologien zum Einsatz kommen könnten, wenn wir - nach dem Vorbild des Kosovo-Krieges - an die militärischen Interventionen des 21. Jahrhunderts denken.

Der Krieg um das Kosovo und die “Operation Wüstensturm“ haben gezeigt, dass die Technologie chirugischer Eingriffe trotz aller Anstrengungen der militärischen Ärzteschaft noch längst nicht ausgereift ist. In Jugoslawien wurden ein Altenheim und ein Krankenhaus getroffen, in Albanien ein Nato-Bunker zerstört, in Lybenic und Korisa Wohngebiete verwüstet. Sogar völkerrechtlich geschützte Tabuzonen wie die chinesische Botschaft in Belgrad wurden von nicht gerade zielgenauen Streubomben getroffen.

Hinzu kommen die erwartbaren Langzeitumweltschäden durch den umfassenden Einsatz von Geschossen mit abgereichertem Uran sowie die Langzeitrisiken durch nicht explodierte “Bomblets“ aus Streubomben.[3]

Seit Beginn der neunziger Jahre haben die US-Verteidigungspolitiker einen neuen feuchten Traum: den Traum vom Krieg ohne Blutvergießen. Die zweite Generation von Waffen, die zu nichttödlichen Verletzungen, zu Lähmungserscheinungen oder Bewegungsunfähigkeit führen, entsprangen der Zusammenarbeit von naiven US-amerikanischen Sciencefiction-Autoren wie den Quäkern Chris und Janet Morris mit herausragenden Futurologen wie Alvin Toffler[4]und dem US-Verteidigungs- bzw. Justizministerium. Die beiden Morris kooperierten mit dem ehemaligen CIA-Direktor Ray Cline sowie Oberst John Alexander[5]. Zusammen entwickelten sie eine neue Militärdoktrin “nichttödlicher“ Kriegsführung auf der Basis fortgeschrittener „Soft-kill“-Waffen und der entsprechenden Taktiken.

Resultat dieser gemeinsamen Anstrengungen war eine neue Militärdoktrin, die auf dem Einsatz “nichttödlicher“ Waffen beruht. Nach Auskunft des US-Verteidigungsministeriums sind diese “Waffensysteme ausdrücklich so konzipiert, dass sie Personen und Material nur kampfunfähig machen, während die Zahl der Todesopfer sowie der Umfang dauerhafter Körper-, Sach- und Umweltschäden minimal gehalten wird“[6]. Die meisten Verfechter der neuen Doktrin räumen allerdings ein, dass die nichttödliche Wirkung dieser Waffen eher Theorie ist, und sprechen daher lieber - in offenkundiger contradictio in adjecto - von „weniger tödlichen“ oder “Soft-kill“-Waffen.

Die neue Militäroption öffnet der seltsam gemischten Truppe aus Schriftstellern und Militärs die Türen der US-Atomwaffenlaboratorien von Los Alamos, Oakridge und Lawrence Livermore, die seit dem Ende des Kalten Kriegs verzweifelt nach neuen Aufgaben suchen. Das Aushängeschild eines “Kriegs ohne Blutvergießen“ konnte dabei kaum verbergen, dass es in mancher Hinsicht nur darum ging, an öffentliche Gelder heranzukommen.

Hinzu kam das Motiv, dass man gerne eine Wunderwaffe erfinden wollte, nachdem das Image der USA durch mehrere peinliche Ereignisse beeinträchtigt worden war: etwa durch die Affäre Rodney King, der von Polizisten vor der ganzen Nation zusammengeschlagen worden war, durch den Sturm auf die Waco-Ranch und durch die demütigenden Erfahrungen der US-Truppen in Somalia.

Als Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte hat Präsident Clinton bekanntlich immer ein offenes Ohr für scheinbar menschenfreundliche Ansätze. Seine Mitarbeiter verbreiten, er könne es nicht verwinden, wenn Unschuldige auf seinen Befehl hin den Tod fänden. Der Name des gefeierten irakischen Malers Laylar Al-Attar, der beim ersten von Clinton angeordneten Luftangriff ums Leben kam, als sich ein Marschflugkörper in ein Wohngebiet von Bagdad verirrte, stehe dem Präsidenten noch immer lebhaft vor Augen. Und obwohl er sich im Laufe seiner Amtszeit „abgehärtet“ habe, gelte nach wie vor der Befehl, die Zahl der Toten unter der Zivilbevölkerung möglichst zu begrenzen.

Die heutige US-Militärdoktrin geht gleichwohl davon aus, dass es unrealistisch ist, die Präsenz von Zivilisten und Nichtkombattanten auf dem heutigen Schlachtfeld zu „ignorieren“. Die Streitkräfte müssten vielmehr in der Lage sein, ihre Mission trotz oder sogar inmitten einer präsenten Zivilbevölkerung durchzuführen.

Kriege und „andere Situationen“

DABEI müssen sie eine Reihe von Aufgaben erfüllen: ein Gebiet abriegeln, eine Menschenmenge in Schach halten, Einzelpersonen festnehmen und Zivilfahrzeuge anhalten. Das Instrumentarium zur Erreichung dieser Zwecke umfasst Wuchtgeschosse, die Prellungen verursachen, Wasserwerfer zum Versprühen von Reizstoffen zur Aufstandsbekämpfung, einschläfernde Chemikalien, Blendschockgranaten, Elektroschock-Betäubungswaffen, Schallkanonen, Netzwerfer, die ein Netz über die Zielperson werfen, Schaumwerfer, die klebrige Superpolymere versprühen, elektromagnetische Kanonen, kinetische Waffen, Mikrowellenstrahler, die die Zielperson bei lebendigem Leibe „kochen“, isotropische Blendlaser und nichttödliche Minen.

Die hochgeheime Suche nach der unschädlichen Wunderwaffe produziert ein breit gefächertes Arsenal neuer Waffen[7], die eine medienfreundliche Symptombehandlung sozialer und politischer Probleme versprechen, deren wahre Ursachen aber nicht anpacken.

Das US-Militär räumt bereitwillig ein, dass die neue Doktrin keineswegs tödliche Waffen durch nichttödliche Alternativen ersetzt, sondern vielmehr die militärische Schlagkraft erhöhen soll, und zwar sowohl im Krieg als auch in „anderen Situationen“, in denen Zivilisten zu den Hauptzielgruppen zählen. So hat sich eine dubiose Büchse der Pandora aufgetan, aus der eine Vielzahl neuer Waffen heraus kommt, die als „sicher“ erscheinen, aber keineswegs auch tatsächlich sicher sein sollen. Und weil CNN nun einmal allgegenwärtig ist, müssen sie auch noch medienfreundlich sein.

In der Tat hat die Entwicklung in diesem innovativen Sektor rasche Fortschritte gemacht. Bis 1995 testete die „US Joint Non-lethal Weapons Working Group“ (Gemeinsame Arbeitsgruppe für nichttödliche Waffen) verschiedene Geschossarten, die nicht in den Körper eindringen, sondern nur Prellungen verursachen, sowie chemische Reizstoffe, Desorientierungstechnologien, Netzwerfer und Barrieren aus wässrigem Schaum.

1996 erprobte die Arbeitsgruppe weitere Varianten von Netzgranaten mit klebrigen Substanzen, nichttödliche Splitterminen, Wirkstoffe zur Aufstandsbekämpfung, die starke Schmerzen, zeitweiliges Erblinden, Erbrechen oder Erstickungsgefühl verursachen, Schmierstoffe, die allerlei Fahrzeuge außer Gefecht setzen, nichttödliche Minen, die bei Auslösung eine Drahtbarriere entfalten sowie eine Lärmwaffe.

Einige dieser Projekte sind bereits einsatzreif:

- das von der Advanced Research Project‘s Agency (ARPA) des US-Verteidigungsministeriums in Auftrag gegebene SDS-System ortet Heckenschützen anhand der Druckwelle ihrer Muni-tion und schießt automatisch zurück[8];

- eine umgebaute Version des M-16-Gewehrs kann neben der traditionellen 5,56-mm-Munition auch 40-mm-Gummigeschosse vom Typ XM1006 abfeuern;

- ein Abschusssystem mit variabler Geschossgeschwindigkeit bietet die Möglichkeit, dieselbe Munition als Wuchtgeschoss zur nichttödlichen Aufstandsbekämpfung einzusetzen, sie dann aber durch Umlegen eines Hebels, der eine Gasdüse öffnet, zu einem tödlichen Geschoss zu beschleunigen.

Zu den weiteren potentiellen Serienprodukten gehört der Blendlaser vom Typ Saber 203. Er wurde von den Ingenieuren der Laser-Abteilung der US-Luftwaffe in ihrer Versuchsanstalt auf dem Luftwaffenstützpunkt Kirland in New Mexico erfunden und entwickelt. Prototypen des Geräts wurden von den US-Marinesoldaten 1995 bei ihrem Einsatz in Somalia erprobt.[9]

Die meisten „weniger tödlichen“ Waffenprogramme sind zwar streng geheim, haben es aber bereits zu einer Reihe von lukrativen Aufträgen gebracht, über die gelegentlich die Militärzeitschriften berichten. Das umfassendste Bild über den Stand der Technik vermittelten indes die beiden Konferenzen über nichttödliche Waffen, die 1997 und 1998 von der Janes Information Group (im Umkreis der gleichnamigen Fachzeitschrift) veranstaltet wurden.

Nach Angaben der zuständigen Pentagon-Abteilung, des Joint Non-Lethal Weapons Directorate, war die erste Prioritätenliste für sechs Entwicklungsbereiche nur an staatliche Forschungseinrichtungen adressiert. Diese sechs Bereiche waren: Personen aufspürende Zünder, aufplatzende Geschosshüllen, abstimmbare nichttödliche Waffen (mit je nach Ziel variabler Wirkung), Abschussvorrichtungen großer Reichweite, unbemannte Fahrzeuge mit nichttödlichen Waffensystemen. Zwei Ausschüsse wählten aus den 63 eingegangenen Antworten drei Projekte aus, die wegen ihrer technischen Eigenschaften und ihrer Anwenderfreundlichkeit gefördert werden sollten:

- die Entwicklung übel riechender chemischer Substanzen, spezifisch abgestimmt auf verschiedene kulturelle und geographische Umwelten;

- Spezialfasern für Netzgranaten;

- nichttödliche elektromagnetische Pulswaffen, um die Bordelektronik von Fahrzeugen lahm zu legen.

Das Programm von 1998 umfasste vier Punkte:

- variabel abstimmbare nichttödliche Waffen;

- Abschussvorrichtungen großer Reichweite;

- „Gap Analysis“;

- nichttödliche Alternativen zu Antipersonenminen.

Hildi S. Libby, die Systemmanagerin des US-Heeresprogramms für nichttödliche Waffen, sprach sich auf der Konferenz von 1997 dafür aus, High-Tech-Waffen zu entwickeln, „die sich in die bestehenden Waffenplattformen integrieren lassen“. Ihre besondere Aufmerksamkeit galt dabei Munitionssystemen, die geländesperrend wirken. Das ist insofern nicht überraschend, als die Vereinigten Staaten den Vertrag über das Verbot von Antipersonenminen nicht vor dem Jahr 2006 unterzeichnen werden, wenn also die „geeigneten“ Alternativen entwickelt sein werden. Als mögliche Alternativen präsentierte Libby folgende Projekte:

- die nichttödliche Version einer Claymore-Mine, die auf dem Design der tödlichen Antipersonenmine M18 A1 beruht; über diesen Minentyp gibt es so wenig konkrete Daten, dass man nicht genau weiß, welche Wirkung er erzielt. Munition zur Aufstandsbekämpfung, die auf Wuchtgeschossen mit kinetischer Wucht beruht, führten häufig zu inneren Verletzungen, zur Erblindung oder gar zum Tod;

- eine-66 mm-Munition, eine flexibel einsetzbare Waffe, die im Zusammenwirken mit anderen Systemen eingesetzt werden kann, um eine Menschenmenge in Schach zu halten oder anzugreifen;

- Abschusskanister für ein Geländesperrsystem, das dazu dient, große Mengen so genannter nichttödlicher Minen, übel riechender Substanzen oderWuchtgeschosse gegen angreifende Menschenmengen einzusetzen;

- eine Antipersonensprengmine, die ein Netz ausstößt und damit das Opfer einfängt; schon getestete leistungsgesteigerte Versionen enwickeln zusätzlich eine Klebstoffwirkung, Schmerz verursachende Irritationsstoffe oder eine Elektroschockwirkung, bei den größeren Versionen kommen dazu noch Rasierklingen, welche die Zielpersonen zwingen, sich völlig ruhig zu verhalten, um weitere Schnittwunden zu vermeiden.[10]

Auf beiden Konferenzen der Jane‘s Information Group wurde weiterhin über eine Vielzahl von unsichtbar wirkenden Waffensystemen diskutiert: über das Vortex-Gewehr, das Schockwellen gegen den menschlichen Körper aussendet, über Schallkanonen, die abgestuft einsetzbar sind: Sie können lediglich “lästige Geräusche“ produzieren oder aber „auf 170 Dezibel aufgedreht werden, sodass sie Organ- und Geweberisse bis hin zu tödlichen Traumata verursachen“[11], sowie gepulste Hochfrequenzwaffen.

Auf der letztjährigen Konferenz wurde in Form einer grafischen Zwiebel ein “mehrschichtiges Verteidigungskonzept“ vorgestellt: Die äußeren Schichten bilden die „weniger tödlichen Waffen“, ganz innen sind die letalen Waffensysteme angesiedelt. Die Wirkungsweise wurde mit einem Video demonstriert: Soldaten greifen mit Mikrowellenstrahlern ein, während die begleitenden Ärzte bewusstlose Zielpersonen behandeln, die für die weitere Betreuung dann nach Zivilisten und Militärs, Verwundeten und Toten auseinandersortiert werden.

Abgesehen davon, dass die Ärzte bei dieser Operation womöglich den hippokratischen Eid verletzt haben, lassen sich die offiziellen Behauptungen, niemand sei bei der Übung zu Schaden gekommen, angesichts der strengen Geheimhaltung nicht nachprüfen. Steven Aftergood, Direktor der Federation of American Scientists, geht jedenfalls davon aus, dass hochenergetische Mikrowellen in ganz einzigartiger Weise auf den Menschen einwirken: „Sie attackieren nicht nur seinen Körper, sie durchdringen auch vollständig seinen Geist (...). Sie sollen ihn desorientieren und mental destabilisieren.“

Energiewaffen wirken auf das Wärmeregulationszentrum im Gehirn und treiben die Körpertemperatur in die Höhe. So greifen etwa Hochfrequenzwaffen das Zentralnervensystem an. Sie können Hirnsignale für Bewegungen ausschalten, während Laserwaffen zu zeitweiliger Erblindung führen oder durch Auslösung elektrischer Schocks den Körper lähmen bzw. in Zuckungen versetzen können.[12]

Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen haben ihre Einwände gegen die nichttödlichen Waffen formuliert und darauf hingewiesen, dass schon das Wort einen begrifflichen Widerspruch darstellt. Kritiker argumentieren, dass die Einsatzkräfte unter Stress wohl kaum auf Mittel setzen, die ihre „Gegner“ lediglich vorübergehend ausschalten, wenn sie auch über die Option einer tödlichen Waffe verfügen. Damit werde aber die Grenze zwischen Aufstandsbekämpfung und Massenhinrichtung verwischt.

Waffen gegen wachsendes Aufruhrpotential

DIESE Waffen verstoßen nicht nur gegen internationale Menschenrechtsbestimmungen, sie können auch unter ganz anderen als den von ihren Erfindern vorgesehenen Bedingungen zum Einsatz kommen. In Ruanda zum Beispiel konnte pro Tag eine solch ungeheure Anzahl Menschen getötet werden, weil die Täter eine bestimmte Lähmungstechnik praktizierten: Zuerst durchschnitt man den Opfern die Achillessehne, damit sie nicht weglaufen konnten, später wurden sie dann in aller Ruhe umgebracht. Durch den Einsatz von klebrigem Schaum, einschläfernden Chemikalien und Betäubungswaffen kann der Ort der Auseinandersetzung zu einer tödlichen Falle werden, wenn man gegen die bewegungsunfähige Menschenmenge anschließend tödliche Waffen einsetzt. In Ländern wie Indonesien ist diese Taktik mit klassischen Betäubungswaffen längst eine tägliche Übung. Staatlich unterstützte Milizen trieben hier vor kurzem zweitausend Dorfbewohner mit Tränengas aus ihrer Kirche und gingen dann mit Schwertern auf sie los. Zurück blieben fünfundvierzig Tote.[13]

Amnesty international zufolge wurden derartige Waffen bereits bei Demonstrationen eingesetzt. In den USA zum Beispiel sprühten Ordnungskräfte friedlich demonstrierenden Umweltschützern aus nächster Nähe Pfeffergas in die Augen, was amnesty für “gleichbedeutend mit Folter“ hält. Aus den Vereinigten Arabischen Emiraten berichtet die Organisation von Folter mit subletalen Stroboskopblitzen und gepulsten Akustikwaffen britischer Herkunft.[14]

Sind diese Waffensysteme erst einmal entwickelt, werden die Hersteller die Marktnachfrage von Seiten der Folterstaaten auch befriedigen. Amnesty hat diese Gefahr erkannt und untersucht derzeit, ob solche Waffen mit eingebauter “Missbrauchsfähigkeit“ nicht ebenso zu verbieten sind wie hochvoltige Elektroschockwaffen.[15]Grundsätzlich stellt sich dabei die Frage, inwieweit diese Waffensysteme internationalen Verträgen und Menschenrechtsvereinbarungen widersprechen. In diesem Sinne prüft das Internationale Rote Kreuz im Rahmen seines Sirus-Projekts derzeit die Möglichkeit des Verbots von vorgeblich nichttödlichen Waffen, die auf bestimmte anatomische, physiologische und biochemische Angriffspunkte zielen. Die meisten bisher verbotenen Waffen wie Giftgas, Explosivgeschosse, blind machende Lasergeschütze und Landminen wurden entwickelt, um spezifische Verletzungen zu verursachen, was sie regelmäßig auch tun.[16]

1998 behandelte der Grundrechte-Ausschuss des Europäischen Parlaments[17]den Bericht “Bewertung der Technologien für eine politische Kontrolle“[18], die von der Kommission für Technikfolgenabschätzung (Stoa: Scientific and Technological Options Assessment Program) des Europäischen Parlaments vorgelegt wurde. Der Stoa-Bericht formuliert folgende Empfehlungen: Die EU soll eine unabhängige Institution beauftragen, objektive Kriterien zur Beurteilung der biomedizinischen Auswirkungen so genannter nichttödlicher Waffen auszuarbeiten. Sie soll einen Bericht über bestehende Vereinbarungen zwischen der EU und den USA anfertigen lassen. Sie soll Forschungsarbeiten über die angebliche Sicherheit der existierenden Waffen zur Kontrolle von Menschenaufläufen sowie über alle künftigen Innovationen in diesem Bereich veröffentlichen, bevor beschlossen wird, die Sicherheitskräfte mit diesen Waffen auszurüsten. Und sie soll bis zur Fertigstellung dieser Forschungsarbeiten verbieten, dass Polizei, Streitkräfte und paramilitärische Sondereinsatztruppen mit chemischen, kinetischen, akustischen, elektromagnetischen oder Elektroschockwaffen, Netzgranaten, Blendlasern, Schaumsprühgeräten und anderen Lähmungswaffen aus den Vereinigten Staaten oder aus amerikanischer Lizenzfertigung ausgerüstet werden.

Bis Ende 1999 sollte auf EU-Ebene ein weiterer Bericht über die Weiterentwicklung und die Typen der Technologien zur Kontrolle von Menschenansammlungen vorgelegt werden, der auch eine Einschätzung der voraussichtlichen gesellschaftlichen und politischen Folgewirkungen enthält.

Ein Hauptmotiv des ersten Stoa-Berichts waren die Erfahrungen in Nordirland[19], wo sich gezeigt hat, dass der Einsatz von weniger tödlichen Waffen den Konflikt eher geschürt und angeheizt hat. Jeder andere Versuch, friedenserhaltende Wirkungen mit nichttödlicher Waffentechnologien der zweiten Generation zu erzielen, wird in ein ähnliches Fiasko münden. Die einzigen Nutznießer solcher Versuche an lebenden Menschen sind die Produzenten nichttödlicher Kontrolltechnologien, da das wachsende Aufruhrpotential die Nachfrage nach diesen Waffen ständig steigert.

dt. Bodo Schulze

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