Debatte Briefträger-Mindestlohn: Der Gott des Wettbewerbs
Beim Streit um den Mindestlohn für Briefzusteller geht es um etwas Grundsätzliches - um die Frage, ob der Wettbewerb Mittel oder Zweck wirtschaftlichen Handelns sein soll.
J etzt haben wir die Bescherung. Der Mindestlohn für Briefträger kostet Arbeitsplätze! Er verhindert den Wettbewerb! Er führt zu Entlassungen! Wir haben es doch immer gesagt: Weg damit! So tönt es aus all den Ecken, in denen sich Marktradikale verschanzt haben.
Vorsorglich hatte schon die Post angekündigt, sie müsse zehntausende von Arbeitsplätzen streichen, falls die Konkurrenz Erfolg habe. Das leuchtet sogar ein. Mit dem Ende des Briefmonopols nimmt ja die Zahl der Briefe nicht zu. Wer täglich seine Faxe und E-Mails absendet und erhält, kann sich auch schwer vorstellen, dass es in den nächsten Jahren mehr Briefe geben wird. Es beschäftigen sich nur sehr viel mehr Menschen mit deren Sortierung und Zustellung. Und die wollen alle von ihrer Arbeit leben.
Erhard Eppler (81) saß von 1970 bis 1991 im Vorstand der SPD. Nach seinem Rückzug aus der Bundespolitik widmete er sich wieder mehr seiner Arbeit in der Evangelischen Kirche. 2005 erschien sein letztes Buch "Auslaufmodell Staat?".
Das Briefporto, so die Theorie, soll durch den Wettbewerb nicht erhöht, sondern gesenkt werden. Aber wie? Indem die Springer-PIN-Group Hungerlöhne zahlt und die Post dann ihre ordentlich bezahlten Angestellten entlässt? Wettbewerb durch Lohnspirale nach unten?
Es wird Zeit, über Wert und Funktion des Wettbewerbs nachzudenken. Sicher ist es vorteilhaft, wenn es in einer Kleinstadt mehr als einen Elektrohändler, mehr als einen Schreiner und ein halbes Dutzend Bäcker gibt, die miteinander konkurrieren. Sie strengen sich mehr an, es fällt ihnen mehr Neues ein, sie können die Preise nicht nach Belieben erhöhen. Das alles gilt sogar für Bauunternehmer oder Stromversorger.
Aber wie ist das bei der Post? Waren unsere Vorfahren bescheuert, als sie überall in Europa ein Postmonopol zuließen oder einführten? Worin liegt der Vorteil, wenn künftig nicht mehr eine Briefträgerin durch die Straßen eilt, sondern drei oder vier Frauen, vielleicht sogar in leichtem Trab, damit sie nicht entlassen werden? Wenn in den Vorstädten nicht ein Postauto am Tag die Luft mit Kohlendioxid anreichert, sondern vier Wagen? Werden die Privaten rationeller arbeiten als die Post?
Die Post hat schon, und zwar mit hohen Investitionen, rationalisiert, was sich rationalisieren ließ. Solche Investitionen rentieren sich um so mehr, je mehr Briefe zu befördern sind. Da können die Neuen nicht mithalten. Wollen sie von dem Vorteil leben, dass sie Briefe nach Frankfurt ausliefern, für Hintertupfingen, Kreis Hinterwalden, aber nicht? Wer nur darauf und auf Lohndumping gesetzt hat, zögert jetzt zu Recht. Er soll sich nicht auf das gemeine Wohl berufen.
Mit dem, was wir für Briefmarken ausgeben, lässt sich nur eine begrenzte Zahl von Arbeitnehmern ordentlich besolden. Die Vorstellung, durch Wettbewerb könnten doppelt oder dreimal so viele davon leben, ist reine Ideologie. Aber welche?
Es ist eine Ideologie, die den Wettbewerb aus einem von mehreren Instrumenten der Wirtschaftspolitik zum Maßstab, ja zum Ziel wirtschaftlichen Handelns macht. Danach ist Wettbewerb immer gut, nicht nur in der Wirtschaft. Nur die Wettbewerbsgesellschaft hat eine Chance. Das beginnt dann in der Grundschule. Und es endet bei den Bundesländern. Anders als im Grundgesetz vorgesehen sollen sie miteinander konkurrieren - der eine mit dem Moped, der andere mit dem Porsche. Wettbewerb wird aus einem Mittel zum Selbstzweck. Wie verhält sich dies zur sozialen Marktwirtschaft?
Vor dreißig Jahren hätte kein Politiker, auch keiner der Union, darüber geklagt, dass Mindestlöhne den Wettbewerb hemmen. Einmal, weil praktisch jede Arbeit so entlohnt wurde, dass man davon leben konnte. Zum anderen galt noch: Ein Wettbewerb, der nur durch Hungerlöhne möglich wird, passt nicht in die soziale Marktwirtschaft. Wo Wettbewerb nicht mit anderen als sozialverträglichen Mitteln gelingt, darf er, soll er unterbleiben. Der Wettbewerb wurde als Mittel geschätzt. Aber er war kein Gott, dem Menschenopfer zustanden.
Unser Grundgesetz beginnt nicht mit den Sätzen: "Wettbewerb ist das Staatsziel der Bundesrepublik Deutschland. Ihn zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Es ist die Würde des Menschen, die zu schützen staatliches Handeln verpflichtet ist. Und gehört es nicht zur Würde des Menschen, dass seine Arbeit ihm wenigstens den Lebensunterhalt sichert?
Die Union redet gern vom "christlichen Menschenbild" - allerdings ohne zu sagen, was das ist. Sicher ist das nicht der allzeit konkurrierende Mensch. Vielleicht könnten ihre Programmatiker gelegentlich im Neuen Testament nachlesen, was da über Lohn und Arbeit steht. Etwa das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Da heuert ein Weinbergbesitzer Tagelöhner an, die einen frühmorgens, die anderen am späten Vormittag, wieder andere erst gegen Abend. Die einen arbeiten weit mehr als acht Stunden, die anderen sehr viel weniger. Am Ende bekommen alle dasselbe: einen Denar.
Das war damals so etwas wie der Mindestlohn - was ein Tagelöhner brauchte, um seine Familie über Wasser zu halten. Darum hatte der Arbeitgeber diesen Lohn mit denen ausgemacht, die den ganzen Tag arbeiten sollten. Aber dann gab er diesen Mindestlohn allen. Sogar denen, die zwar bereit gewesen wären, den ganzen Tag zu arbeiten, aber nicht durften. Natürlich protestierten die Tagelöhner, die von früh bis spät geschuftet hatten. Aber der Weinbergbesitzer erwiderte ungerührt: Ihr habt doch bekommen, was ich euch versprochen habe. Tadelt ihr mich, "weil ich gütig bin"? Weil ich allen gegeben habe, was sie zum Leben brauchen? Sicher, das ist ein Gleichnis für etwas, was weit weg ist vom Arbeitsmarkt. Aber Maßstab ist eben nicht der Wettbewerb, sondern es sind die Mindestbedürfnisse von Menschen.
Die CDU hat eben ein neues Grundsatzprogramm beschlossen. Es enthält manche prägnante intelligente Formulierung. Aber wohin die Reise gehen soll, steht da nicht. Genauso vage blieb auch Kanzlerin Angela Merkel, als sie gestern auf dem Deutschen Arbeitgebertag die niedrigen Löhne in der Dienstleistungsbranche beklagte. Welche Politik wirklich gemacht wird, entscheidet sich am Stellenwert des Wettbewerbs: Soll er ein durchaus brauchbares Instrument der Wirtschaftspolitik sein, über dessen Anwendung auch politisch entschieden werden kann. Oder ein höchstes Prinzip, unantastbar, dem notfalls jedes Opfer zu bringen ist?
Zwischen beidem liegt der Unterschied, um den es in der politischen Auseinandersetzung geht. Und dies wird bei der Diskussion um den Mindestlohn deutlich. Deshalb streiten wir nicht um Kleinigkeiten, sondern um Grundsätzliches.
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