Das wieder gewonnene Gesicht

ÜBERLEBEN Istanbul 1992: Die junge Lehrerin Hacer Arikan wird verhaftet. Kassel 2010: Sie hat ein Stück ihres alten Lebens zurück. Dazwischen liegen Exzesse eines Unrechtsstaates und ein großer medizinischer Erfolg

1 Gefangen: Am 29. September 1992 wird die 26 Jahre alte Lehrerin Hacer Arikan in Istanbul verhaftet. Vorwurf: Mitgliedschaft in einer linken Gruppe. Die Polizei foltert sie, das ist zu dieser Zeit üblich im Umgang mit politischen Gefangenen. Acht Jahre sitzt Arikan im Bayrampasa-Gefängnis in Istanbul – ohne rechtskräftiges Urteil.

2 Verbrannt: 2000 will die Regierung einen Gefängnistyp mit Einzelzellen etablieren. Landesweit treten mehr als tausend Häftlinge in Hungerstreik – auch in Bayrampasa. Am 19. Dezember wollen Polizisten und Soldaten die Hungerstreiks beenden – durch eine Großaktion in 20 Gefängnissen. In Bayrampasa setzen Polizisten den Schlafsaal C1 in Brand, in dem Arikan und 26 andere Frauen schlafen. Die Polizei löscht das Feuer nicht. Sechs Frauen sterben.

3 Überlebt: Hacer Arikan wird von einer Mitgefangenen gerettet. Knapp die Hälfte ihres Körpers ist verbrannt, von ihrem alten Gesicht bleiben praktisch nur die Augen. 2001 wird sie wegen ihres Gesundheitszustands aus der Haft entlassen, sie bringt sich wieder das Laufen bei. 2009 reist sie nach Deutschland. In Kassel sollen ihre Nase und ihre Kopfhaut rekonstruiert werden. Die Reise bezahlt Amnesty International, die Operationen die Abteilung für Plastische Chirurgie im „Rotes Kreuz Krankenhaus Kassel“. Die Behandlung wird fast ein Jahr dauern.

VON KIRSTEN KÜPPERS

An diesem sonnigen Donnerstag im Juni, einem Tag mit Rhabarberkuchen auf dem Tisch, hängt in der Luft der Duft von frisch gemähtem Rasen. Bei diesem letzten Treffen steht Hacer Arikan auf der Terrasse in Wichdorf, dem kleinen Ort in den Kasseler Bergen. Sie legt den Kopf schief, die Gesichtshaut ist fleckig, die Narben sind gut zu sehen. Aber Arikan zieht den Mund breit zu einem Lächeln, das viel zu groß scheint für all das Schlimme.

Hacer Arikan steht also auf der Terrasse, sie lacht und lacht, man denkt, dass doch nichts überhaupt gut sein kann. Mit diesem zerstörten Körper, mit dieser Nacht im Schlafsaal C1 im Bayrampasa-Gefängnis im Kopf. Aber Hacer Arikan lacht fast immer. Das Lachen hat sie sich angewöhnt.

Hacer Arikan trägt diese gute Laune wie einen Panzer. Vier Monate nach jener Nacht hat sie sich diese Laune zugelegt. Als man sie im April 2001 in einem Rollstuhl in den Besuchsraum des Gefängnisses geschoben hat, und auf der anderen Seite der Gitterstäbe standen ihre Eltern. Sie haben sie das erste Mal so gesehen. Hacer Arikan saß im Rollstuhl mit dem Loch im Gesicht. Sie hatte nur Schmerzen. Sie konnte nicht laufen, sie konnte kaum sprechen, sie konnte sich fast überhaupt nicht bewegen. Ihre Eltern standen vor den Gitterstäben. Und Hacer Arikan lachte.

Hacer Arikan wurde am 1. April 1966 in dem Dorf Sariköy im Westen der Türkei geboren.

Es gibt ein Passfoto von ihr als junges Mädchen. Ein schönes Gesicht mit warmen grünlichen Augen. Das Foto bewahrt Hacer Arikan in ihrer Geldbörse auf, sie hat es immer bei sich. Es ist das Foto, das sie manchmal in Kassel anguckt, wenn sie in einem kahlen Krankenhausflur auf die Ärzte wartet – denn als Patientin muss man sich im Warten üben, immer wieder aufs Neue, das hat sie gelernt. Sie sitzt da und schaut auf das Foto mit der blonden Frau von früher, still und versunken macht sie das.

Hacer Arikan hat Textilwesen in Ankara studiert. Nach dem Studium arbeitete sie im westanatolischen Eskisehir als Lehrerin an einem Berufsgymnasium. Am Wochenende ging sie manchmal tanzen. „Ich hatte alle Möglichkeiten. Ich war talentiert“, sagt sie. Sie hätte gerne ein Modeatelier in Istanbul eröffnet. Vielleicht auch einen Imbiss oder ein Restaurant. Das waren Ideen, auf die sie hinträumte.

Aber dann wurde sie auf der Straße verhaftet.

Die Zeiten waren damals so in der Türkei. Nach dem Putsch des Militärs 1980 hatten die Generäle das Kriegsrecht verhängt und alle politischen Parteien verboten. Die Generäle versuchten, die türkische Gesellschaft zu entpolitisieren, und verdrängten aus den staatlichen Institutionen alle, die ihnen verdächtig waren. In den Folgejahren wurden hunderttausende Menschen festgenommen. Zwar wurden auch einige Reformen zur Demokratisierung des Landes unternommen, politische Parteien wieder zugelassen, das Kriegsrecht in weiten Teilen des Landes schrittweise aufgehoben. Zugleich beschnitten die Mächtigen jedoch die freie Meinungsäußerung durch neue Antiterrorgesetze. Bis 1994 wurden etwa 2.000 hauptsächlich von Kurden bewohnte Dörfer im Südosten der Türkei geräumt. Oppositionelle, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten kamen in Haft.

In den Händen der türkischen Polizei

Am 29. September 1992 verhafteten verdeckte Ermittler Hacer Arikan in Istanbul. Man warf ihr vor, einer revolutionären linken Gruppe anzugehören. Schon auf der Fahrt haben die Männer sie geschlagen. Auf der Wache haben die Polizisten ihre Zehen mit schweren Schuhen zertreten. Dann haben sie sie in eine Einzelzelle gesteckt. In den nächsten Tagen haben sie ihr die Augen verbunden und sie mit Fäusten geschlagen. Die Beamten haben sie gefesselt, sie haben sie an den Haaren aufgehängt, beschimpft und betatscht. Dann haben sie sie wieder verhört und mit Stromstößen misshandelt. So hat Arikan es den Ärzten erzählt. Den Gefängnisärzten und den vielen anderen Ärzten, die sie noch befragt haben in den Jahren danach.

Vierzehn Tage blieb sie auf dem Polizeirevier. Dann wurde sie als Untersuchungsgefangene ins Bayrampasa-Gefängnis nach Istanbul verlegt.

Folter war in jenen Jahren in der Türkei gängig im Umgang mit politischen Gefangenen. Im Bericht von Amnesty International über das Jahr 1992 heißt es: „Auf den Polizeistationen des Landes sahen sich sowohl politische Gefangene als auch unter Straftatverdacht festgenommene Personen weiterhin routinemäßigen Folterungen ausgesetzt.“ Die Menschenrechtsorganisation spricht von „weit verbreiteter, systematischer Folter“. Es ist der Grund, warum viele Deutsche in jener Zeit ihren Urlaub woanders verbrachten.

War Hacer Arikan wirklich Mitglied jener revolutionären Gruppe? „Nein“, antwortet sie.

Das kann stimmen. Es kann auch sein, dass sie alles abstreitet, weil der Prozess gegen sie noch läuft. Es ist völlig egal. Weil nichts rechtfertigt, was man weiter mit ihr gemacht hat.

Amnesty International wird über den Fall Hacer Arikan später in einem Brief an das deutsche Generalkonsulat in Istanbul schreiben: „Das einzige Beweismittel für die ihr zur Last gelegten Aktivitäten waren unter Folter erpresste Aussagen. Ärztliche Atteste über erlittene Folterungen liegen vor.“

Acht Jahre sitzt Hacer Arikan im Bayrampasa-Gefängnis. Ein Gerichtsurteil gibt es gegen sie da noch nicht. Auch das ist in der Türkei keine Seltenheit. „Es ist bis heute üblich, dass Gefangene bis zu zehn Jahre und mehr in Untersuchungshaft einsitzen, bevor ein rechtskräftiges Urteil erfolgt“, heißt es dazu von Amnesty International. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat deshalb mehrfach Mahnungen an die türkische Regierung ausgesprochen.

Arikan teilte sich mit 26 anderen Frauen den Schlafsaal C1.

Im Jahr 2000 will die türkische Regierung einen neuen Gefängnistyp einführen. Hacer Arikan sitzt noch in Haft, sie erfährt, dass die Gefangenen in den neuen Anstalten in Einzelzellen untergebracht werden sollen. Landesweit gibt es Proteste. Ab Oktober treten mehr als 1.000 politische Gefangene an mehreren Orten der Türkei in Hungerstreik, um sich gegen die Verlegung in die neuen Gefängnisse zu wehren. Auch in Bayrampasa verweigern Häftlinge das Essen. Hacer Arikan beteiligt sich nicht am Hungerstreik.

Sie schläft im Schlafsaal C1 in jener Nacht zum 19. Dezember 2000. Draußen ist Winter, es regnet und es ist kalt, als Armee und Polizei beginnen, das Bayrampasa-Gefängnis zu stürmen, eine Operation, die gleichzeitig in 20 türkischen Gefängnissen stattfindet. Mit dem Sturm auf die Gefängnisse sollen die Hungerstreiks beendet werden.

Hacer Arikan schreckt aus dem Schlaf hoch, als sie Schüsse hört und das Geräusch schwerer Schritte. Es ist dunkel im Schlafsaal. Plötzlich fliegen Gasbomben durch die Fenster, auch durch die Abflussrohre und durch Löcher in der Decke strömt Gas, die Frauen kriegen keine Luft, das Gas brennt in den Augen, frisst Löcher in die Haut, einige Frauen fallen bewusstlos um, manche wälzen sich am Boden mit Krämpfen. Hacer Arikan packt mit bloßen Händen die rauchenden Bomben und schmeißt sie aus dem Fenster. Alle schreien, alle wollen raus. Aber von draußen zielen die Sicherheitskräfte mit Brandbeschleunigern auf die Betten neben der Tür.

Arikan sitzt in der Falle. Sie ist am weitesten von der Tür entfernt, sie weiß, dass sie verbrennen wird. Nur ein paar Sekunden – dann brennt sie wirklich. Sie hat keine Schmerzen, nur das Gefühl zu schmelzen. Sie merkt, dass sie stirbt.

Da wird sie geholt.

Eine Gefangene, die vorbeirennt, sieht Arikan am Boden liegen, sie zieht sie aus den Flammen, schleppt sie nach draußen.

Bevor sie von den Uniformierten in einen Krankenwagen verfrachtet wird, lässt sich Arikan in eine Pfütze fallen, sie kann sich an den Regen, an das Nasse draußen genau erinnern: „Ich bekam wieder Luft“, sagt sie.

In den Wochen nach dem Sturm auf die Gefängnisse untersucht eine Anti-Folter-Kommision der EU den Vorfall in Bayrampasa. Die Mitarbeiter der Kommission laufen durch die Flure, schauen sich die Brandspuren an, sie besichtigen alle Räume, befragen Gefangene.

Am 16. März 2001 gibt die Kommission eine Presseerklärung heraus, in der sie ihre Besorgnis über die Gewalt der Sicherheitskräfte gegenüber den Frauen im Schlafsaal C1 zum Ausdruck bringt. Die EU-Mitarbeiter kommen zu dem Schluss, dass die Sicherheitskräfte auf die Frauen geschossen haben, die selbst keinerlei gewaltsamen Widerstand geleistet haben. Außerdem haben sie den Raum stundenlang mit Gasgranaten und anderen Stoffen bombardiert. Sie haben Tränengas, Pfeffergas und Nervengas benutzt. Als der Raum in Flammen stand, haben die Polizisten das Feuer brennen lassen, obwohl sie Wasserschläuche zur Verfügung hatten. Sechs der 27 Frauen starben.

Man fragt sich, wie es ist ohne Gesicht. Ohne das, was alle von einem kennen.

Hacer Arikan wurde mit dem Rollstuhl in den Besucherraum des Gefängniskrankenhauses gefahren, ihre Eltern standen auf der anderen Seite der Gitterstäbe. Im Frühjahr 2001 war das, drei Monate nach dem Sturm auf das Gefängnis. Hacer Arikan hatte fast überall Verbrennungen, sie hatte keine Nase mehr, keine Augenbrauen, keine Haare, sie konnte sich nicht bewegen, nur einen Finger konnte sie noch rühren. Ihre Eltern standen an den Gitterstäben, blicken auf das, was von ihrer Tochter übrig war, und Hacer Arikan sah die Angst in ihren Gesichtern. „Sie hatten mehr Schmerzen als ich.“ Arikan spürte, dass sie etwas unternehmen musste. Das Leid war zu groß für die Familie, sie fürchtete, dass die anderen daran zerbrechen könnten.

Ein Lächeln, um die Familie zu schützen

In diesem Moment hat Hacer Arikan begonnen zu lächeln, so erzählt sie es später. Sie hat ihr eigenes Befinden übergangen, sie hat darüber hinweggelächelt. So ein Vorgehen mag aus therapeutischer Sicht bedenklich sein, aber seit jenem Tag im Besucherraum des Gefängniskrankenhauses ist es ihre Strategie.

Wegen ihres Zustands hat man sie aus dem Gefängnis entlassen. Woche um Woche lag sie nun in verschiedenen Krankenhäusern. Nach einem halben Jahr zog sie um auf das Sofa im Wohnzimmer bei ihren Eltern in dem schlichten Haus in Sariköy. Sie hat dann geschafft, sich Schritt für Schritt selbst zu heilen. Draußen blühte der Granatapfelbaum, Arikan lag da und sprach mit ihrem Körper, auch nachts und im Dunklen. Sie hat ihren Körper zum Mitmachen überredet, sagt sie. Sie klagte nicht: „Ich habe einen Finger verloren“, sondern stellte fest: „Ich habe vier Finger gerettet.“

Nach vier Monaten konnte Arikan das erste Mal wieder ohne Hilfe essen. Wenn sie im Haus ihrer Eltern alleine war, wagte sie ein paar Schritte, tastete sich heimlich von der Küche zum Balkon, sie wollte den anderen nicht zur Last fallen, so hat sie sich alleine wieder das Laufen beigebracht. Und wenn sie jetzt in den Spiegel guckte, war es nicht wie beim ersten Mal. Hacer Arikan schaute nicht auf das Loch in ihrem Gesicht. Sondern nur auf die Augen. Sie sind das Einzige, was ihr von früher geblieben ist. Arikan schaute in die vertrauten grünlichen Augen und sagte: „Das bin doch noch ich!“

Die Ärzte haben eine Menge getan. Sie haben Blasenkatheter gelegt und Magensonden, sie haben ihr Haut von den Beinen ins Gesicht transplantiert, ihren linken Lungenflügel operiert, sie haben ihr Schamhaar als Augenbrauen eingesetzt. Im November 2003 hat sie eine Epithese bekommen, eine künstliche Nase aus Silikon, die sie an Häkchen im Gesicht befestigen konnte. Die Kinder auf der Straße vor dem Haus in Sariköy liefen jetzt nicht mehr vor ihr davon. Die Leute stupsten sich nicht mehr an und schauten nicht mehr zu Boden, wenn sie sie sahen. Es war nicht ihre eigene Nase, aber das Silikonteil verdeckte das Loch.

Ab und zu findet in einem Gericht in Istanbul ein neuer Verhandlungstermin statt. Der Prozess läuft weiter, bis heute, obwohl Arikan acht Jahre im Gefängnis gesessen hat, obwohl sie nur noch bei ihren Eltern leben kann und obwohl man ihr das Gesicht genommen hat.

Im Jahr 2003 fällt der Strafgerichtshof in Istanbul ein Urteil: lebenslänglich.

Das Urteil wird nicht vollstreckt. Arikans Zustand ist zu schlecht. Ihre Anwälte sind in Revision gegangen. 2006 hat der Oberste Gerichtshof die lebenslängliche Haftstrafe zurückgewiesen. Seither wird neu verhandelt. Eine neue Runde in einer Warteschleife, in der Arikan festhängt, seit 18 Jahren.

Sie lebt bei ihren Eltern in dem Haus in Sariköy, schläft auf dem Wohnzimmersofa, pflegt den kranken Bruder, auch ihrer Mutter geht es nicht gut. Sie haben wenig Geld, sie leben von der kleinen Rente des Vaters und von dem, was das Internetcafé abwirft, das ihr anderer Bruder unten im Haus betreibt. Arikan hält noch Kontakt zu der Frau, die sie damals aus dem Feuer gezogen hat. Die Frau hat inzwischen studiert, sie hat einen Beruf. „Sie ist meine Freundin“, sagt sie.

Was treibt Arikan an? „Ich möchte nicht dem Leben hinterherhinken“, meint sie heute, knapp zehn Jahre später. Sie mag solche Sätze. Sie sagt auch: „Wenn man ständig Schlechtes denkt, kann daraus kein Optimismus wachsen.“ Oder: „Man hat keine andere Wahl, als Optimist zu sein.“ Es sind Sätze, die sehr einfach klingen für einen Menschen, der eine solche Vergangenheit mitschleppt.

Seit ein paar Jahren dreht Arikan mit ihrem Bruder Dokumentarfilme. Meist geht es darin um politische Themen. Sie haben einen Film über genmanipuliertes Saatgut gedreht, einen anderen über Arbeiter einer Lederfabrik, die einen Mindestlohn fordern.

Auch einen Film über Hacer Arikans eigene Geschichte haben die beiden gemacht. Ein wackeliger, kurzer Film ist es geworden. Nur 18 Minuten und 47 Sekunden lang. Hacer Arikan erzählt der Kamera die Nacht im Gefängnis. Nüchtern und gefasst tut sie das. Bei einem Filmfest in Ankara im Jahr 2006 hat der Film einen Preis gewonnen.

Damit könnte die Geschichte zu Ende sein.

Es wäre eine Geschichte über eine Frau, die von dem Staat, dem sie selbst angehört, verbrannt worden ist und die damit fertig werden muss.

So könnte es sein.

So einfach wäre es, wenn Hacer Arikan nicht eine Frau wäre, die anders ist.

So wäre es, wenn es nicht internationale Verbindungen gäbe. Wenn in einem Krankenhaus in Deutschland nicht ein voller Spendentopf stünde. Geld, das ausgegeben werden soll für einen guten Zweck. Wenn sich nicht ein deutscher Arzt namens Magnus Noah gemeinsam mit seinem Assistenten auf die Suche gemacht hätte. Wenn die zwei nicht am Rande einer Tagung durch die Gassen von Istanbul geirrt wären. Wenn da nicht all diese Umstände gewesen wären, die aus einer einfachen eine lange Geschichte machen, an deren Ende sich die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Ärzten und Hilfsorganisationen als eine ziemlich brauchbare Angelegenheit erweist.

Ärztliche Hilfe aus Kassel

Im Sommer 2007 wird Hacer Arikan in eine Arztpraxis nach Istanbul bestellt. In der Praxis warten zwei Ärzte aus Deutschland. Der Professor ist Mitte vierzig, er hat ein breites, glattes Gesicht und schlohweiße Haare, Arikan kann nicht verstehen, was er sagt, er redet Deutsch. Sein Assistenzarzt ist ein in Deutschland aufgewachsener Türke, wenigstens er kann Türkisch mit ihr sprechen. Die Ärzte gucken auf die Verbrennungen, sie nehmen die Silikonnase ab, sie fotografieren das Loch mit einer Digitalkamera.

Dann übersetzt der Assistenzarzt, dass sie ihr ein neues Gesicht bauen möchten. Sie würde keine künstliche Nase mehr brauchen, keine Perücke. Allerdings werde es schwierig werden: Sie könnten keine neue Nase aus der Stirnhaut bauen, so wie üblicherweise in der plastischen Chirurgie Nasen rekonstruiert werden. Für eine solche Lösung sei Arikans Gesichtshaut zu stark beschädigt.

Aber sie könnten eine neue Methode probieren. Es würde eine langwierige Prozedur werden, erklärte der türkische Arzt, aber wagen könne man die Sache schon. Das Geld sei kein Problem, die Operationen würden aus deutschen Spendengeldern finanziert. Amnesty International würde ihr die Reise nach Deutschland bezahlen.

Das Arztzimmer in Istanbul hängt auf einmal voller Möglichkeiten. Es ist ein großzügiges Angebot, das die Ärzte ihr unterbreiten. Es geht um eine Zukunft, die auf jeden Fall besser wäre als die Gegenwart. Hacer Arikans Hoffnungen fliegen da erst mal hoch hinaus in den Himmel. Aber sie ist sich nicht sicher, ob sie überhaupt ausreisen darf.

Die Sache mit der Ausreisegenehmigung hat noch mal zwei Jahre gedauert.

Am 4. Juli 2009 humpelt Hacer Arikan mit zwei Koffern bepackt durch die Ankunftshalle am Flughafen Frankfurt am Main, sie kennt niemanden in Deutschland. Die Leute von Amnesty International haben ihr ein Zimmer bei einem Ehepaar in der Nähe von Kassel besorgt, freundliche Menschen, Mitte sechzig, in Cordhosen und bequemen Pullovern. Sie heißen Annelene und Wilhelm Frohn und wohnen in einem renovierten Fachwerkhaus in Wichdorf, einem kleinen Dorf zwanzig Kilometer von Kassel entfernt.

Wilhelm Frohn ist ehrenamtlicher Vorsitzende eines Vereins, der sich für den Schutz der Pressefreiheit in der Türkei einsetzt. Annelene Frohn engagiert sich seit Jahren in der Kirche für die Belange von Frauen und Hartz-IV-Empfängern. Beide Frohns sprechen nur ein paar Brocken Türkisch, aber sie haben ihr Gästezimmer unterm Dach für Arikan freigeräumt, sie werden sie fast täglich mit ihrem silberfarbenen Peugot-Kombi über die Dörfer ins Rot-Kreuz-Krankenhaus nach Kassel fahren, sie haben ihr auf dem Esszimmertisch einen Computer aufgestellt, damit sie E-Mails nach Hause schreiben kann, sie werden Arikan jeden Tag besuchen, wenn sie im Krankenhaus liegt.

Und am Montag, den 21. September 2009, kurz nach der ersten Operation sitzt Hacer Arikan in einem stickigen Arztzimmer im dritten Stock des Kasseler Rot-Kreuz-Krankenhauses, Abteilung Plastische Chirurgie, eine Lüftung surrt, es riecht nach Desinfektionsmittel. Sie sitzt auf einem Stuhl vor Dr. Murat Dagdelen, dem jungen Türkisch sprechenden Arzt, den sie aus Istanbul kennt. Die Sonne scheint durch Lamellen auf ihren warmen Pullover, Arikan kauert da wie ein Vögelchen, eine gebeugte, vernarbte Frau mit einem Kopftuch, sie trägt ihre Silikonnase im Gesicht, der Mund versucht ein Grinsen, aber da ist auch die Sorge in den Augen.

Arikan bindet das Kopftuch auf, jetzt sieht man die Halbglatze, die wenigen Haarbüschel. Und auch die Beulen von der ersten Operation, die die deutschen Ärzte vor wenigen Wochen gemacht haben. Die Beulen sehen ziemlich schlimm aus, sie kommen von den kleinen Silikonelementen, die die Ärzte ihr bei der Operation unter die Kopfhaut geschoben haben.

Dr. Dagdelen zieht sich nun die OP-Handschuhe über, eine Schwester reicht ihm eine große Spitze mit Kochsalzlösung, er spritzt in die Elemente unter der Kopfhaut hinein, durch die Kochsalzlösung dehnen sich die Silikonelemente aus wie kleine Luftballons, auch das darüber liegende Gewebe wird gedehnt, so wollen die Ärzte neue, überschüssige Haut gewinnen. Auch unterhalb der Schulter haben sie ein Silikonelement eingesetzt. Hacer Arikan flattert nervös mit den Augen, die Kochsalzlösung tropft ihr ins Ohr und auf den Pullover.

Der Plan der deutschen Chirurgen

Murat Dagdelen klopft ihr auf die Schulter, sagt eine paar Worte auf Türkisch. Er lacht, als sei er Teil eines Abenteuers. Normalerweise haben sie hier vor allem mit Brustvergrößerungen und Fettabsaugen zu tun. Das, was er und sein Chef mit Hacer Arikan versuchen wollen, hat noch kein anderer Arzt probiert. Wenn es gelingt, ist das eine medizinische Sensation. Er zieht die Digitalkamera aus der Kitteltasche und macht ein paar Fotos für die Akten. Hacer Arikan sitzt mit einer verbeulten Halbglatze auf dem Stuhl, ihr Ohr und ihr Pullover sind nass, es werden keine schönen Bilder werden. Aber Arikan lacht jetzt ihr hell aufsteigendes Lachen und sagt: „Ich liebe es, berühmt zu sein.“

Der Plan der Ärzte geht so: Wo noch Haare wachsen, wollen sie die Kopfhaut dehnen. Die überschüssige Haut wollen sie dann über die kahlen Stellen ihres Kopfes legen. Da könnten Arikan wieder Haare wachsen. Außerdem wollen die Ärzte ein Stück Knorpel aus einer von Hacer Arikans Rippen entnehmen. Den Knorpel wollen sie in das Gewebe unterhalb der Schulter einpflanzen und dort eine Art Nasengerüst formen. Im Körper sollen Haut und Knorpel sich verbinden. In einem nächsten Schritt wollen sie dieses Gerüst hochklappen ins Gesicht. Nur so kann es weiter mit Blut versorgt werden, nur so kann das Gerüst über dem Loch anwachsen. Zuletzt wollen sie die Nase im Gesicht fertig formen.

Dagdelen weiß, dass man sich als Arzt nicht mitreißen lassen darf von Fortschrittseuphorie, daher wiederholt er gegenüber Arikan immer wieder das Gleiche. Die Worte sollen sie runterholen aus den Wolken, sie zurückbugsieren in die Realität des Machbaren. Dagdelen sagt: „Die neue Nase wird nicht so gut aussehen wie die Nase aus Silikon.“ Und: „Wir können nicht garantieren, dass es wirklich klappt.“ Arikan antwortet: „Garantien gibt’s nur bei Mediamarkt.“

Die vielen Tage, die Hacer Arikan im Rot-Kreuz-Krankenhaus und in ihrem Zimmer in Wichdorf verbringt, in dieser sehr deutschen Wirklichkeit, reihen sich jetzt aneinander zu Wochen und Monaten, die professionelle Freundlichkeit der Schwestern, die Operationen, die immer wieder verschoben werden, die Antibiotikum-Tabletten, die Haut, die sich nicht genug dehnt, die Entzündungen, das Abheilen, das immer wieder abgewartet werden muss, das kleine Langenscheidt-Wörterbuch, das Hacer Arikan bei sich trägt, um sich verständlich zu machen ab und zu, die Kochsendungen, die sie auf dem Krankenhausfernseher guckt, das Visum, das verlängert werden muss, Dagdelen mit seinen Spritzen, die Schmerzen.

„Gutt, gutt“, sagt sie, wenn man sie fragt, wie es geht. Vielleicht muss man ein Leben hinter sich haben wie sie, um das alles zu ertragen. Aber es ist auch so: Arikan kann jetzt nicht umkehren, sie muss bleiben, bis die Ärzte am Ziel sind.

Wenn die Schmerzen zu groß werden, dreht sie beim Ehepaar Frohn in Wichdorf die Anlage auf und singt und tanzt zu türkischer Musik, um sich abzulenken. Professor Noah stellt fest: „Sie scheint keine Verbitterung zu haben! Bei uns sind die Leute ja schon verbittert, wenn der Parkplatz weg ist.“ Die Frohns, die Ärzte, die Krankenschwestern, die anderen Patienten – alle fragen sich, wie sie das macht.

Sie hält sich oben, wie gewohnt.

Trotzdem müssen die Ärzte im November in einer Notoperation die Silikonelemente am Kopf entfernen, weil sich das Gewebe entzündet hat. Professor Noah muss sich eingestehen: Arikans Kopfhaut ist durch die Verbrennungen zu schwach, um sich zu dehnen, es kann keine neue Haut gewonnen werden. Die Hoffnungen, die Schmerzen waren umsonst. Es werden ihr keine neuen Haare am Kopf wachsen.

Die Ärzte haben es nicht geschafft.

Das Scheitern kurz vor Weihnachten

Sie haben Zeit verloren. Das Visum muss ein zweites Mal verlängert werden. Annelene Frohn sagt: „Hacer lässt sich die Enttäuschung nicht anmerken.“ Arikan feiert Weihnachten unter einem geschmückten Tannenbaum, die Frohns schenken ihr einen Wollpullover.

Im neuen Jahr geht Annelene Frohn mit Hacer Arikan zu einem orthopädischen Schuster. In jener Nacht im Gefängnis ist ja nicht nur ihr Gesicht verbrannt, seither steht auch ihre Hüfte schief, ihr rechtes Bein ist dadurch kürzer. Der Schuster fertigt drei Paar Schuhe, mit denen Arikan besser laufen kann.

Der Himmel hier in Deutschland scheint aus Beton, grau und flach und endlos liegt er über dem Land. Arikan schlittert durch den Winter und wartet auf den nächsten OP-Termin.

Die neue Nase sieht nicht so gut aus wie die aus Silikon. Aber sie ist echt, sie gehört zu ihr

Am 25. Januar 2010 wird sie narkotisiert in den gekachelten OP geschoben. Draußen duckt sich die Stadt unter dem Schnee. Arikan auf dem Operationstisch sieht aus wie ein schweres, schlafendes Tier. Sogar im Fuß hängt ein Schlauch. Die Geräte piepsen, Ärzte und Schwestern in grünen und blauen Kitteln laufen umher. Der spektakuläre Teil von Professor Noahs Plan kann beginnen: die Nasenkonstruktion.

Auch ein Fernsehteam von RTL „Explosiv“ ist angereist, um die Operation zu filmen. Beiträge über siamesische Zwillinge und über die kleinste Mutter der Welt hat „Explosiv“ schon gesendet. Eine neue Nase für ein entstelltes Brandopfer war noch nicht dran.

Zehn Tage vorher haben die Ärzte Arikan ein Stück Knorpel aus der Rippe entnommen und ihn beim Silikonelement an der Schulter eingesetzt. Professor Noah hat aus dem Knorpel ein Nasengerüst geformt. „Wichtig ist, dass man immer ein bisschen Fantasie hat“, wirft er jetzt dem Fernsehteam zu. Er macht ein paar Schnitte mit einem Messer, dann klappt er das Nasengerüst samt der überschüssigen Haut, die sie durch das Silikonelement gewonnen haben, zum Gesicht. Er legt es über das Loch, und Assistenzarzt Dagdelen näht es dort fest. Den Hautlappen, der nun zwischen Gesicht und Schulter hängt, näht Dagdelen später wie einen Schlauch zusammen.

Es ist eine ziemlich blutige Angelegenheit und dauert vier Stunden. Das Ergebnis sieht aus wie ein knapp 30 Zentimeter langer Rüssel aus Haut, der an der Schulter festhängt. Eine winzige Arterie unterhalb des Schlüsselbeins muss die Blutversorgung übernehmen. Sonst kann das Nasengerüst nicht im Gesicht fest wachsen. Alles scheint zu funktionieren. Die Ärzte lachen und scherzen schon, reden über nächste Urlaubsreisen und die Fettabsaugung im OP nebenan.

Drei Wochen muss Hacer Arikan mit dem Rüssel leben. Ihr Kopf ist bandagiert, Schultern und Hals sind eingegipst. Sie kann den Kopf nicht bewegen, der Rüssel hängt ja an der Schulter fest, sie kann nur durch einen Strohhalm trinken. Professor Noah meint: „Menschen können viel aushalten.“ Hacer Arikan lacht und krächzt: „Ich bin jetzt Elefantfrau.“

Am 17. Februar, einem grauen Tag nach Fasching, wird der Rüssel gekappt, die Verbindung zur Schulter durchtrennt. Professor Noah steht im OP, hebt die Hände mit den Handschuhen nach oben und ruft: „No gutts, no glory“, was vornehm übersetzt bedeutet: „Wer nichts wagt, der nichts gewinnt.“ Es klingt wie ein Kampfschrei. Es klingt nicht sehr beruhigend. Und tatsächlich hängt an dieser Operation alles: Professor Noah will heute die Nase formen. Er tut das, indem er den Rüssel aufschneidet, biegt, drückt, zusammennäht. Er muss aufpassen. Das Gewebe ist empfindlich, es ist keine Knetmasse, er darf die Blutzufuhr nicht abschneiden.

Diesmal muss es klappen.

Professor Noah sagt: „Man muss da einfach ganz intuitiv rangehen.“ Wenn am Ende die Durchblutung nicht funktioniert, war alles umsonst.

Mittags wird Hacer Arikan auf der Liege aus dem OP geschoben. Und Arikan hat wieder so was wie eine Nase. Sie sieht aus wie eine Kartoffel. Der Professor gibt zu: „Sie entspricht nicht gerade unserem ästhetischen Empfinden.“ Im Aufwachraum wartet bereits das Fernsehteam von RTL „Explosiv“. Hacer Arikan guckt mit ruhigen, feuchten Augen in die Kamera und sagt: „Vorher war ich ein Elefant, jetzt sehe aus wie ein Koalabär.“

Als sie ein paar Tage später aus dem Krankenhaus entlassen wird, schickt sie ein paar Fotos per E-Mail nach Hause zu ihren Eltern. Sie beklagt sich nicht darüber, wie seltsam die neue Nase aussieht, dieses große Ding mit Verband drumherum. Sie sagt, sie sei glücklich, dass sie endlich eine Nase aus eigenem Fleisch und Blut habe. „Eine eigene Nase, die nicht wackelt!“

Professor Noah sagt, dass er nochmal operieren möchte, ein paar kleinere Korrekturen durchführen. Er will, dass die medizinische Sensation, die er geschaffen hat, besser aussieht als eine Kartoffel.

Drei Monate sollte Arikan ursprünglich in Deutschland bleiben. Inzwischen sind mehr als sieben Monate vergangen. Die Frohns kennen eine Menge Leute, die Geschichte hat sich herumgesprochen. Es hat sich eine Solidaritätsgruppe für Arikan in Kassel zusammengetan: Kasseler Türken, Gewerkschaftsfreunde der Frohns, versprengte Mitglieder linker Grüppchen.

An einem kalten Samstag Ende Februar treffen sich knapp 200 Menschen in einem fensterlosen Raum eines Kasseler Berufsschulzentrums zu einer Solidaritätsveranstaltung. Sie wollen Geld für Hacer Arikan sammeln. Es wird Tee ausgeschenkt, Schafskäsetaschen und selbst gebackener Kuchen verkauft, auch Murat Dagdelen, der Arzt, ist gekommen. Es ist eine dieser Zusammenkünfte, die wegen ihrer umstürzlerischen Grundstimmung ein wenig aus der Zeit gefallen scheinen. Ein älterer Türke beginnt eine Rede mit den Worten: „Seit über tausend Jahren kämpfen wir den Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung.“ Die örtliche MLPD-Gruppe singt ein Brecht-Eisler-Lied. Eine Frau mit einer Spendenbüchse läuft durch den Raum.

Sie hat eine neue Nase, sie riecht das frische Gras

Dann wird Arikans Film über ihr Leben gezeigt, die 18 Minuten und 47 Sekunden. Der Film holt die Gefängnisnacht zurück, roh und brutal.

Aber Hacer Arikan sitzt am Bühnenrand, die Nase ist bandagiert, auf dem Kopf trägt sie einen bunt gemusterten Stoffhut, der die Halbglatze verdeckt. Sie sitzt da und grüßt von ihrem Stuhl herunter wie ein freundliches Gespenst, ein guter Geist, der sagt, dass es immer irgendwie weitergeht.

Das Mikrofon pfeift, Tränen fließen, die Vorsitzende des IG-Metall-Frauenausschusses ruft: „Dein Mut und dein Herz hat mich betroffen gemacht.“ Blumensträuße werden gebracht. Auch in der IG-Metall-Zeitung wollen sie ein Interview mit ihr bringen. Wildfremde Menschen klopfen Arikan auf die Schulter. Männer und Frauen, in deren Leben es vermutlich wenig größere Katastrophen gegeben hat als den Verlust ihres Schlüsselbunds. Menschen, die möglicherweise bitter werden, weil der Parkplatz weg ist. Das sehen sie alle: Gegen Arikans Geschichte wirken die eigenen Probleme auf einmal sehr, sehr klein.

Arikan sitzt mitten in diesem Rummel, sie lacht und weint.

Dass bis zu ihrer Abreise in die Türkei fast 5.000 Euro auf dem Spendenkonto der Hacer-Arikan-Solidaritätsgruppe eingelaufen sein werden, zeigt: Arikan liegt mit ihrer Zuversicht wahrscheinlich doch nicht falsch.

Am 19. Dezember 2000 wäre Hacer Arikan fast aus der Welt gefallen. Jetzt ist sie wieder da.

Anfang März wird der Fernsehbeitrag von RTL gesendet. Die Sendung behandelt ausführlich die spektakuläre Operation. Arikans Vorgeschichte wird nur knapp erwähnt.

Ende Juni ist die Rekonstruktion abgeschlossen, Professor Noah hat noch zweimal an der Nase herumgeschnitten, alles zusammengenommen haben die Ärzte acht Mal operiert. Die Abrechnungsstelle des Krankenhauses hat ausgerechnet, dass die Behandlung von Hacer Arikan insgesamt rund 22.500 Euro gekostet hat. Das ist ziemlich günstig. Die Ärzte haben auf ihre Honorare verzichtet, die Silikonelemente wurden zum Teil gespendet.

Hacer Arikan humpelt zur selben Zeit über die sonnige Terrasse in Wichdorf, in wenigen Tagen wird sie zurück in die Türkei fliegen, die Prozedur ist überstanden, die Bandagen sind weg, die Nase ist schmaler geworden. Hacer Arikan hat jetzt künstliche Haare, sie hat Schuhe, in denen sie besser laufen kann, sie kann das frisch gemähte Gras wieder besser riechen. Sie kann sich in ein Taschentuch schnäuzen. Die neue Nase hängt fest im Gesicht, sie fällt nicht bei jeder ruckartigen Bewegung gleich herunter wie die alte Nase aus Silikon.

Sie hat jetzt wieder ein Gesicht, das ihr gehört.

Ein neues Leben, das sich noch ungewohnt anfühlt. Hacer Arikan sieht nicht aus wie früher, aber sie ist ein kleines Stück näher am Normalen dran. „Jetzt sehe ich mir ähnlich“, ruft sie. Das ist nicht viel, das ist nicht wenig. Es ist ein Anfang.

Kirsten Küppers, 37, ist sonntaz-Autorin. Sie hat Hacer Arikan seit September 2009 begleitet