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„Wie ein Schlachtfeld“

Verschmutztes Wasser und elende Wohnverhältnisse ließen im August 1892 in Hamburg die Cholera ausbrechen. Weil der Senat die Krankheit vertuschte, konnte sie sich zur Seuche ausweiten

Von BERNHARD RÖHL

Senator Johannes Versmann hat es geahnt: Am 3. August 1892 vertraute er seinem Tagebuch an, dass er in Hamburg eine Cholera-Epidemie befürchte. In der Nacht vom 14. auf den 15. August erkrankte der Bauarbeiter Sahling, der den Auslass der Kanalisation am Kleinen Grasbrook überwachte. Die Symptome: Erbrechen und Durchfall. Dr. Hugo Simon – damals Arzt im preußisch regierten Altona – stellte die Diagnose „asiatische Cholera“. Sein Vorgesetzter zwang ihn jedoch, als Todesursache „Brechdurchfall“ anzugeben: Sahling sollte der erste von über 8000 Choleraopfern in Hamburg sein.

Eingeschleppt wurde die Krankheit höchstwahrscheinlich von russischen Auswanderern, die im Hamburger Hafen auf die Überfahrt nach Amerika warteten. Zwar war bekannt, dass die Cholera in Russland grassierte – doch die Hamburger Behörden nahmen es mit den Vorsichtsmaßnahmen nicht so genau. Grund war unter anderem, dass viele Mediziner damals noch bezweifelten, dass die Cholera ansteckend sei.

In der Nacht vom 16. auf den 17. August 1892 kam der 24-jährige Maurer Köhler ins Eppendorfer Krankenhaus, mit Durchfall und Erbrechen: Er starb kurz da-rauf ebenfalls an der Cholera. Doch Senator Hachmann und Midizinalrat Dr. Kraus weigerten sich hartnäckig, den Ausbruch der Seuche einzugestehen. Am 22. August versicherte Hachmann dem amerikanischen Vizekonsul Charles Burke, es gebe in Hamburg keine Cholerafälle. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 477 Menschen erkrankt, 121 waren gestorben.

Grund für die Geheimhaltung war, dass der Senat die Profite der Wirtschaft nicht gefährden wollte. Erst am 24. August 1892 wurde der Ausbruch der Cholera amtlich bestätigt, und der Mediziner Robert Koch erhielt den Auftrag, als Vertreter des Reichskanzlers nach Hamburg zu reisen.

Koch traf am 24. August in der Hansestadt ein. Am 25. August 1892 schrieb er an seine Geliebte einen Brief, in dem er seine Eindrücke schilderte: „Als ich nach Hamburg kam, glaubte ich ein paar Kranke anzutreffen, von denen man nicht recht wusste, ob sie die Cholera hätten oder nicht. Aber wie anders habe ich es gefunden. In ein paar Tagen hat die Krankheit mit Riesenschritten um sich gegriffen und die Toten zählen schon nach Hunderten. Gestern bin ich den ganzen Tag unterwegs gewesen von einem Hospital zum anderen, im Hafen zu den Auswanderern und auf die Schiffe. Es war mir zu Muth, als wanderte ich über ein Schlachtfeld. Überall Menschen, die noch wenige Stunden vorher von Gesundheit strotzend und lebensfroh in den Tag hineingelebt hatten und nun in langen Reihen dalagen von unsichtbaren Geschossen dahingestreckt.“

Am 27. August 1892 erreichte die Zahl der Erkrankten mit 1024 Fällen einen traurigen Rekord, am 30. August wurden 1008 neue Fälle registriert. Die elenden Wohnverhältnisse in den verwinkelten Gassen Hamburgs entsetzten Koch: „Etwas Schlimmeres als die Arbeiterquartiere im Gängeviertel habe ich weder im Judenviertel in Prag noch in Italien kennengelernt. In keiner anderen Stadt habe ich solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten angetroffen.“ Richard J. Evens berichtet in seinem Buch „Tod in Hamburg“ von Kochs Bilanz: „Ich vergesse, dass ich in Europa bin.“

Ein Gegenmittel hatte auch der berühmte Arzt noch nicht. Aber er forderte, die Bewohner der Hafenstadt mit unverseuchtem Wasser zu versorgen, denn die Cholera-Bakterien befanden sich in der Elbe, deren Wasser ungefiltert in die Wohnungen geleitet wurde. Die befallenen Gebäude mussten desinfiziert werden. Am 26. August 1892 sah sich der Senat gezwungen, die Schulen zu schließen. Öffentliche Tanzveranstaltungen und andere Zusammenkünfte wurden auf Vorschlag von Koch verboten.

Obwohl der Arzt die Verantwortlichen zum Handeln gezwungen hatte, ging das große Sterben weiter. Pferdewagen transportierten Tag und Nacht Kranke und Tote durch die Straßen. Auf dem Ohlsdorfer Friedhof mussten 250 Männer in Tag- und Nachtschichten Massengräber ausheben. Nach offiziellen Angaben erkrankten 16.596 Menschen an der Cholera, 8605 starben. Es traf vor allem die Armen, die sich durch die Enge der Wohnverhältnisse gegenseitig ansteckten. Viele begütertere Hamburger schützten sich, indem sie die Stadt verließen und erst zurückkehrten, als die Epidemie im Oktober 1892 als erloschen betrachtet wurde.

Die Sanierung der menschenunwürdigen Behausungen ging danach nur langsam voran. Hamburg hatte von allen deutschen Städten die höchste Zahl von ungesunden Kellerwohnungen, 1910 mussten noch 42.000 Menschen darin vegetieren. Erst 1909 gelang es dem Senat, gegen den heftigen Widerstand der Grundeigentümer ein „Wohnungspflegegesetz“ durchzusetzen, um der Stadtverwaltung die Möglichkeit zu geben, miserable Gebäude abzureißen.

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