Wirtschaftswissenschaftler über Europa: "Die Vereinigten Staaten kommen"
Kollabierende Finanzmärkte, eine angeschlagene Eurozone, Rezessionsängste – wer soll das kontrollieren? Paul De Grauwe gibt einzelnen Nationalstaaten keine Chance.
taz: Herr De Grauwe, der Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Form passe nicht mehr in die heutige Welt. Das sagt Klaus Schwab, der Chef des Managergipfels von Davos. Hat er recht?
Paul De Grauwe: Diese Aussage ist ziemlich ungenau. In seinen Grundzügen wird der Kapitalismus auch die gegenwärtige Krise überstehen. Nur seine Ausgestaltung ändert sich. Solche Anpassungen gab es in der Vergangenheit immer wieder.
Schwab kritisiert unter anderem, dass die Finanzmärkte die Gesellschaften zu sehr beherrschen. Dem stimmen Sie zu?
Ja. Selbst die neue Regulierung des Finanzsektors, die seit Beginn der Krise 2008 eingeführt wurde, reicht bei weitem nicht aus. Wir müssen mehr tun. Man sollte das risikoreiche Investmentbanking der Finanzinstitute von den Alltagsgeschäften mit Bürgern und Unternehmen trennen. Ersteres kann man in Krisen notfalls pleitegehen lassen, das Zweite aber muss man in öffentlichem Interesse unbedingt schützen. Auch sollten wir die Banken daran hindern, sehr risikoreiche Transaktionen zu unternehmen und sich zu stark zu verschulden. Dagegen wehren sich die Banken zwar. Das heißt aber nicht, dass solche Regeln nicht möglich sind.
Die internationalen Bankenaufseher haben schon beschlossen, dass die Finanzinstitute bald mehr Geld für Notfälle in Reserve halten müssen. Reicht das als Vorsorge nicht aus?
Nein. Auch 9 Prozent Eigenkapital sind zu wenig. Je mehr eigenes Geld die Institute bei ihren Geschäften einsetzen müssen, desto sicherer sind sie. Deshalb halte ich 20 Prozent für notwendig. Auch Industrieunternehmen verfügen über derartiges Eigenkapital, wenn sie investieren.
65, ist emeritierter Professor der Katholischen Universität Leuwen in Belgien. Von 1991 bis 2003 saß er für die Liberalen im belgischen Parlament, wo er den Ausschuss für Wirtschaft und Finanzen leitete. Er arbeitete unter anderem für den Internationalen Währungsfonds und lehrte an vielen Universitäten. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Euro-Währungsunion.
Schärfere Eigenkapitalvorschriften könnten bedeuten, dass die Banken weniger Kredite vergeben. Büßt der Kapitalismus damit nicht einen Teil seiner Wachstumskraft ein?
Das ist ein falsches Argument, das der Propaganda der Banken entstammt. Wenn die Finanzinstitute mehr eigenes Geld in Reserve halten, werden ihre Operationen sicherer. Verluste bringen sie dann nicht so leicht an den Rand des Zusammenbruchs. Damit sind sie auch attraktiver für eine breite Schicht von Kapitalanlegern, die weniger Risiko eingehen will. Die Möglichkeit der Institute, Kredite zu vergeben, wird durch diesen Mittelzufluss keinesfalls eingeschränkt - eher im Gegenteil.
Ein geringeres Risiko führt aber dazu, dass die Profitmargen sinken.
Das ist richtig und wäre gut. Die Zeiten der fantastischen Eigenkapitalrenditen von 25 Prozent wären vorbei, der Shareholdervalue für die enge Schicht sehr risikofreudiger Aktionäre nähme ab. Die Gewinne der Banken würden sich auf mehr Köpfe verteilen. Dieses Geschäftsmodell generiert ebenfalls ausreichend Kapital, um Wachstum zu finanzieren - allerdings auf eine weniger gefährliche Art. Wir sollten unser Wirtschaftswachstum nicht auf exzessive Risiken gründen. Was dabei herauskommt, sehen wir seit 2007.
Die Occupy-Bewegung, die mit dem Aufruf zur Besetzung des Finanzviertels der Wall Street in New York begann, fordert die Demokratisierung der Finanzmärkte. Auch Sie sprechen sich für mehr öffentliche Kontrolle über die Banken aus. Wie kann man das bewerkstelligen?
Als Reaktion auf die Finanzkrise seit 2009 haben die Regierungen schon neue Institutionen wie die europäische Bankenaufsicht gegründet. Diese ist aber noch zu schwach. Die Nationalstaaten beharren auf ihrer alten Macht. Leider, denn global tätige Banken kann man nicht mehr national kontrollieren. Deshalb sollten wir den europäischen Institutionen mehr Kompetenzen übertragen.
Einerseits fordern Sie mehr demokratische Kontrolle, andererseits wollen Sie ein Europa mächtiger machen, das viele Bürger als undemokratisch betrachten?
Wir haben keine andere Chance. Die Gesetze der Nationalstaaten haben eine zu geringe Reichweite. Die Unionsbürger werden ihren politischen Willen deshalb künftig nur durchsetzen können, wenn sie bereit sind, mehr transnationale Regulierung auf europäischer Ebene zuzulassen. Wobei heute tatsächlich viele Bürger Europa nicht vertrauen. Den gemeinsamen Institutionen mangelt es an Legitimation.
Welche Möglichkeit sehen Sie, dieses Hindernis aus dem Weg zu schaffen?
Aus der Europäischen Kommission sollte eine echte Regierung werden, die unter der vollen Kontrolle des Europäischen Parlaments und damit des Souveräns steht. Nur unter dieser Voraussetzung werden die Menschen in Europa akzeptieren, dass die Kommission und andere zentrale Institutionen mehr Macht bekommen.
Dann müssten die nationalen Regierungen eigene Kompetenzen abgeben. Viele wollen das nicht.
Dieser Widerwillen wird auch verursacht durch die augenblickliche Fehlkonstruktion Europas. Die Kommission greift in die Belange der Nationalstaaten ein, obwohl sie die finanziellen Folgen ihrer Politik nicht selbst trägt. Die nationalen Regierungen müssen bezahlen, was die Zentrale entscheidet. Das gefällt ihnen verständlicherweise nicht. Die Kommission sollte deshalb ein umfangreicheres eigenes Budget mit eigenen Steuereinnahmen erhalten, für die sie verantwortlich ist. Das alles mündet darin, die Vereinigten Staaten von Europa zu begründen.
Haben Sie keine Angst vor einem Zentralstaat, der die Interessen der Bürger und Mitgliedsländer ignoriert?
Nicht, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Die gemeinsame Regierung in Brüssel müsste dem demokratisch gewählten EU-Parlament in gleicher Weise verantwortlich sein wie etwa die Bundesregierung dem Bundestag. Zweitens sollte das Prinzip der Subsidiarität gelten. Deutschland hat diese Idee als Bundesstaat auf wunderbare Weise verwirklicht. Alles, was die einzelnen Staaten regeln können, sollen sie auch selbst entscheiden. Die Aufsicht über transnationale Banken und eine gemeinsame Währung aber brauchen ein gemeinsames Land. Sonst funktionieren sie nicht.
Gilt die Forderung nach mehr demokratischer Kontrolle auch für die Europäische Zentralbank?
Grundsätzlich sollte die EZB politisch unabhängig bleiben. Allerdings halte ich es für ratsam, ihre Rechenschaftspflicht deutlicher zu formulieren. Das EU-Parlament, die Kommission und der Rat sollten sich mehr Einblicke in die Arbeit der EZB verschaffen können, als es heute möglich ist. Wir bräuchten auch ein Verfahren, um den Präsidenten der Zentralbank im Notfall zu entlassen. Und den Arbeitsauftrag der EZB sollten wir ebenfalls neu beschreiben.
Viele Deutsche schätzen sehr, dass die Zentralbank vor allem den Wert des Euro schützen und Inflation verhindern soll.
Dieses Mandat ist zu eng. Die Preisstabilität braucht eine Ergänzung durch das zweite Ziel der Finanzstabilität. Es muss Aufgabe der EZB werden, die Banken zu beaufsichtigen, um deren übermäßige Verschuldung zu verhindern. In der gegenwärtigen Situation würde das aber auch bedeuten, Finanzinstitute vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Wenn dafür auch der Aufkauf von Staatsanleihen aus den Beständen der Banken notwendig ist, sollte die EZB dies konsequent tun. Wer kann unser Finanzsystem stabilisieren, wenn nicht die Notenbank? Die Regierungen verfügen nicht mehr über die notwendigen Mittel.
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