Wackernagels RAF-Buch "es": Drei Spalten Widersprüche
Der Schauspieler und kurzzeitige Terrorist Christof Wackernagel hat ein monströs-merkwürdiges Buch produziert. "es" will künstlerisch erklären, wie einer zur RAF gehen konnte.
Zu den Dingen, die einen ratlos machen können, gehören auch Bücher. Das Buch, von dem im folgenden die Rede ist, fällt schon äußerlich aus dem Rahmen. Es hat ein Format von 31 mal 42 Zentimetern, wiegt 4, 2 Kilogramm und ist 603 Seiten stark.
Der Autor des exzentrischen Werks hat auch kein gewöhnliches Leben geführt. Christof Wackernagel, gerade 60 Jahre alt geworden, stammt aus einer Baseler Gelehrten- und Künstlerfamilie, wurde Schauspieler, schloss sich 1977 der Roten Armee Fraktion (RAF) an und saß nach einer Schießerei mit niederländischen Polizisten zehn Jahre im Gefängnis.
Die Form folgt der Funktion: Jede Seite seines Buches hat Wackernagel in drei Spalten aufgeteilt, in denen jeweils drei verschiedene Arten von Fiktionen vertreten sind. In der ersten Spalte finden sich Träume, die Wackernagel von 1979, als er im Gefängnis saß, bis 1994 aufgeschrieben hat. Die zweite Spalte enthält Halluzinationen respektive im Drogenrausch, Fieberwahn oder in anderweitigen Ausnahmezuständen Erlebtes, Eingebildetes oder Ersonnenes. In der dritten Spalte finden sich Tagträume, über zumeist reale Personen Ausgedachtes.
"Ich verwende die drei Spalten, um die Widersprüche zu entfalten", sagt Wackernagel. "Denn es gibt nicht eine gültige Version, es gibt nicht eine gültige Wahrheit." Gleichzeitig gibt es für ihn einen großen Gegenstand. Es geht ihm um seine persönliche Geschichte, um die Geschichte seiner politischen Generation, um die globale politische Geschichte und darum, wie diese Stränge zusammenhängen. Dazu erklärt er: "Wer über Geschichte schreibt, darf über das Verdrängen nicht schweigen." Träume brächten das Verdrängte an die Oberfläche.
Mit seinem Titel "es" bezieht Wackernagel sich natürlich auf Sigmund Freud, der in seiner Schrift "Das Ich und das Es", drei Instanzen des Seelenlebens (Ich, Es und Über-Ich) definierte und das Es als den psychischen Ausdruck der menschlichen Triebe beschrieb, das auch das Verdrängte beherbergt. Freud sagte auch: "Der Traum ist eine Psychose, mit allen Ungereimtheiten, Wahnbildungen und Sinnestäuschungen einer solchen."
Der erste Traum in Wackernagels Werk beginnt so: "6. 9. 1978 - mit Fidel Castro im Hubschrauber über den Niederlanden; wir sitzen an einem kleinen Tischchen, fast wie im Flugzeug und er redet auf mich ein, ernst und eindringlich …" Irgendwann entdeckt der Träumende "mit Schrecken", dass der Máximo Líder keinen Bart mehr hat.
Peter Handke ist ein Ex-Torwart
Es treten zahlreiche Personen der Zeitgeschichte auf, allerdings meist in einer anderen Funktion als in der Wirklichkeit. Der Politiker Franz Josef Strauß ist bei Wackernagel ein Unternehmer, der mit dem Schriftsteller Elias Canetti debattiert, welcher wiederum als Feuerwehrmann auftritt. Helmut Kohl erscheint als Streifenpolizist, Max Horkheimer als Direktor der US-Autovereinigung. Peter Handke ist ein Ex-Torwart, Udo Lindenberg ein Bankchef und Wolfgang Neuss ein Theologe.
Auch RAF-Genossen tauchen auf, Stefan Wisniewski und Brigitte Mohnhaupt, mit denen Wackernagel zusammen im Untergrund war, oder Astrid Proll, die zur Gründergeneration der Terrorgruppe zählte. Proll ist Chefreporterin eines privaten Fernsehsenders.
Über so wenig so viel
Wie bei allen autobiografischen Veröffentlichungen von einstigen Mitgliedern der RAF stellt sich über kurz oder lang die Frage, welche Relevanz sie haben. Salopp formuliert: Warum sollen wir all das Zeug von diesen Leuten, die sich so furchtbar geirrt haben, eigentlich lesen?
Man kann es dabei mit dem Historiker Walter Laqueur halten, der über den westeuropäischen Linksterrorismus der 1970er Jahre sagte: "Nie ist über so wenig so viel geschrieben worden." Oder man sieht im Krieg der RAF gegen den westdeutschen Staat den einzigen dunklen Fleck auf der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, einen dramatischen und nach wie vor rätselhaften Aufstand der Kinder der Nazi-Deutschen.
Wackernagel sagt, er wolle mit dem Buch eine literarische Antwort geben auf die Frage, die ihm seit über 30 Jahren immer wieder gestellt würde: Warum er sich der Roten Armee Fraktion angeschlossen habe, warum er sich bewaffnet habe, warum er auf Menschen geschossen habe, warum dieser Kampf für das Gute im Bösen endete.
Dabei ist Wackernagel kein typischer RAF-Mann, er war lange bevor er in den Untergrund ging ein Star. Mit 15 Jahren spielte er eine Hauptrolle in dem Film "Tätowierungen" von Johannes Schaaf und wurde 1968 dafür mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet. Er schloss sich der Medienkommune "Produktionsgemeinschaft Schrift, Ton und Bild" an. Wie er dann in Stuttgart an die spätere RAF-Frau Angelika Speitel geriet, verrät er in "es" nicht. RAFologen wissen, dass er nur vom 3. September 1977 bis zu seiner Verhaftung am 10. November 1977 in Amsterdam als Reservekader im Untergrund aktiv war. Wackernagel beschreibt auch nicht, dass der niederländische Polizist, den er angeschossen hatte, mit ihm Kontakt aufnahm und ihn besuchte. Der aufgeklärte Ordnungshüter unterstützte dann eine vorzeitige Haftentlassung mit dem Argument, dass Überzeugungstäter, die ihre Überzeugung revidiert hätten, keine Gefahr mehr darstellten.
Hermetische Wahnwelt
Es wird - und das ist auf die Dauer bedauerlich - in "es" weniger erklärt als verklärt beziehungsweise verunklart. Die hermetische Wahnwelt der RAF ersetzt Wackernagel weitgehend durch ein viel sympathischeres, aber doch gleichermaßen rätselhaftes Rhizom aus Worten.
Auch wenn er den zentralen Irrtum der RAF erkannt hat, mit Mitteln des Bösen das Gute schaffen zu wollen, finden sich in seinem Buch Kontinuitäten. Die der RAF-typischen Selbstanmaßung zum Beispiel, deren Mitglieder sich als Vollstrecker des Willens der Geschichte begriffen, als Soldaten der Entrechteten, auf Augenhöhe höchstens mit Bundeskanzler Helmut Schmidt, auf jeden Fall der übrigen Linken weit voraus, diesen Feiglingen und Schlappschwänzen.
Ist es nicht eine Fortsetzung dieser Selbstanmaßung mit künstlerischen Mitteln, über 600 Seiten lang die eigenen Träume der Öffentlichkeit zu präsentieren? Träume, die naturgemäß keiner Dramaturgie gehorchen und streckenweise einfach belanglos sind.
Das mag für den Autor therapeutisch wertvoll sein, aber wichtige Gedanken drohen in der überwältigenden Textmenge unterzugehen, etwa die Erkenntnis, dass einzig und allein mit einer Wahrheitskommission nach südafrikanischem Vorbild die vielen noch ungelösten Rätsel der RAF-Geschichte aufzuklären wären. Dies schlägt eine Schweizer Psychologin in "es" vor, auf die Rechtsextreme dann einen Anschlag verüben.
Wackernagel hat das Buch zumeist in Bamako, der Hauptstadt Malis, geschrieben, wo er lebt, wenn er nicht in Deutschland dreht. Er empfiehlt, "es" nicht unbedingt linear zu lesen, sondern assoziativ, in Sprüngen. Anders wäre es auf die Dauer auch schwer zu ertragen.
Am besten ist "es" auf jeden Fall vorgelesen, von ihm, seiner Schwester Sabine, und deren Tochter Katharina, allesamt Schauspieler. Und wie die meisten guten Schauspieler können die drei richtig hervorragend lesen.
Christof, Katharina und Sabine Wackernagel lesen aus "es": 21. 9. Lüneburg, Gymnasium Oedeme; 22. 9. Hannover, Literaturhaus; 26. 9. München, Buch Lemkuhl; 27. 9. Basel, Lesegesellschaft; 29. 9. Bonn, Kunsthalle; 6. 10. Hamburg, Literaturhaus
Christof Wackernagel: "es". Zu Klampen Verlag, Springe 2011. Großformat (42 x 31,8 cm), 600 Seiten, 248 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen