Türkei emanzipiert sich von Europa: Welche Krise?
Lieber Regionalmacht im Nahen Osten als dauerhaft Schmuddelkind Europas sein: Unbemerkt von vielen wendet sich die boomende Türkei von der EU ab.
![](https://taz.de/picture/202388/14/basar_istanbul_reuters.jpg)
BERLIN/ISTANBUL taz | Welche Krise? Im Süden und Südosten herrschen Bürgerkrieg und Verwüstung, im Westen wackelt die Wirtschaft, direkt vor der Haustür schlittert gerade ein Nachbarland in die Pleite. Doch die Türkei steckt das glänzend weg: 2011 überholte die Wirtschaft mit Wachstumszahlen von fast 10 Prozent selbst die Chinesen, auch in diesem Jahr geht das Bruttoinlandsprodukt noch um 3 Prozent in die Höhe, 2013 sollen es 4,5 Prozent sein. Diese Jubelzahlen legte am Mittwoch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) in Berlin vor.
Auch viele rückständige Gebiete in Zentral- und Südostanatolien boomen; das fast 15 Millionen Einwohner zählende Istanbul gilt vielen als coolste City Eurasiens, der anatolische Tiger strotzt vor Kraft: Inmitten aller Krisen hat sich die Perspektive der Türkei radikal verändert – unbemerkt von vielen Europäern. Jahrzehntelang galt die EU-Vollmitgliedschaft als eines der wichtigsten Ziele Ankaras. Doch nun rückt die Türkei von Brüssel ab, will lieber Regionalmacht im Nahen und Mittleren Osten als dauerhaft Schmuddelkind Europas sein.
Der Beitritt bleibe zwar ein „langfristiges strategisches Ziel“, habe aber „keine sehr hohe Priorität“, sagte unlängst Vizepremier Ali Babacan. Um das zu dokumentieren, boykottieren die Türken während der EU-Ratspräsidentschaft Zyperns die diplomatischen Beziehungen – Relikt des Streits um das von Ankara kontrollierte Nordzypern. Ein Affront.
„Die Kosten wären für beide Seiten hoch, wenn sich die Türkei dem Osten zuwenden würde“, sagt Bahri Yilmaz, Ökonom und Europaexperte von der Istanbuler Sabanci-Universität. Die EU solle dringend die Türken aufnehmen, bevor diese sich enttäuscht abwenden, meint Yilmaz. Der Grund: Der Staat ist gerade dabei, sich vom Schwellenland zum Industriestaat zu mausern. Mit gut 10.000 Euro pro Kopf erwirtschaften die Türken derzeit knapp die Hälfte des EU-Durchschnitts. 2030 dürften es schon 70 Prozent sein, schätzen Wirtschaftswissenschaftler. Dann wäre die Türkei viertgrößte Wirtschaftsnation Europas – noch vor Italien oder Spanien.
Mehr Autos als in Italien gebaut
Gar nicht so unwahrscheinlich. Längst werden hier mit 1,2 Millionen jährlich schon mehr Autos als in Italien gebaut. Maschinen, Textilien, Gemüse und Obst „made in Turkey“ sind Exportschlager. In den vergangenen zehn Jahren wuchs das BIP im Schnitt um gut 4 Prozent. Gleichzeitig schnellt die Bevölkerungszahl in die Höhe: Derzeit sind es rund 74 Millionen, im Jahr 2025 sollen es nach dem Geschmack des konservativen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan 90 Millionen sein. Ein riesiger Markt.
„Eigentlich hindert uns ökonomisch nur noch die Inflation, sonst würden wir alle Eurokriterien erfüllen“, sagt Yilmaz. Er hält die Türkei längst für europafit. Trotz der engen Verflechtungen hat das Schwächeln nahezu aller Ökonomien des Alten Kontinents bislang kaum Schrammen in den türkischen Bilanzen hinterlassen – zu stark ist der binnenorientierte, vom Konsum getriebene Aufschwung.
Probleme gibt es: hohes Leistungsbilanzdefizit, die Abhängigkeit von Energieimporten, einen großen informellen Sektor und die schlechte Ausbildung breiter Schichten. Für Yilmaz ist der Beitritt zu der schwächelnden Gemeinschaft – seit 2005 wird verhandelt – dennoch folgerichtig: „Die EU sollte die Mitgliedschaft nicht nur versprechen, sondern auch durchziehen“, warnt der Ökonom.
Lange galt die Türkei vor allem vielen Konservativen in Berlin oder Brüssel als zu groß, zu fremd, zu arm und zu muslimisch. Ob die Türkei eher die EU braucht oder umgekehrt – das ist heute längst nicht mehr ausgemacht: „Momentan ist der EU-Beitritt kein Thema für uns“, sagt der türkische Siemens-Chef Hüseyin Gelis, mit 6.500 Mitarbeitern einer der wichtigsten Wirtschaftsbosse im Land.
Role Model für Muslime überall
Arabellion und Eurokrise – Gelis glaubt, die Türkei solle angesichts der derzeitigen Instabilität mehrere Optionen haben: „Don’t put all your eggs in one basket“, warnt Gelis: Packe nicht alle Eier in einen Korb. Für viele Muslime in den ärmeren Ländern im Süden und Osten ist die Türkei längst Role Model in Sachen Wohlstand und Demokratie. Der Handel mit den Staaten des Ostens, Mittelasiens und Nordafrikas wächst: Der Irak dürfte Deutschland als Exportland Nummer 1 bald überflügeln.
Ja, es gibt immer noch Defizite bei Menschenrechten, Frauenrechten, Minderheitenrechten, die die Türkei wenig beitrittswürdig erscheinen lassen. Aber alte Malaisen wie ein labiler Bankensektor, Protektionismus und Staatsverschuldung sind seit der großen Krise 2001 geheilt: Ankara ging damals Reformen an, die die Auswirkungen der Agenda 2010 in Deutschland locker toppen. „Die Eigenkapitalvorschriften der türkischen Banken sind heute strenger als die in Europa“, sagt Marcus Slevogt vom Unternehmerverband Tüsiad.
Irgendwie, scheint es, sind die Türken den unflexiblen Alten Kontinent satt: Wollten 2004 noch 7 von 10 in die EU, sind es jetzt nur noch 38 Prozent. Siemens-Chef Gelis sagt es wenig diplomatisch: „Die EU muss sich erst mal umstrukturieren.“
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